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Portland von unten

Kiffen ist erlaubt, der „sozialistische“ Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders kann mit seinen Fans mehrere Football Stadien füllen: Portland im Westküstenstaat Oregon ist der Kontrapunkt zum konservativen Amerika.
Die Hipster-Stadt kämpft jedoch mit steigenden Mietpreisen und wachsenden sozialen Problemen: 3800 Menschen sind wohnungslos, darunter immer mehr Frauen.

Alaska Rose ist eine von ihnen – ein Porträt.

Text: Bettina Figl
Fotos: John Strieder & Alaska Rose
Gestaltung & Produktion: Cornelia Hasil


Hatschi! Hatschi! Hatschi! Hatschi! Hatschi! Hatschi! Hatschi! Alaska niest sieben Mal, und wird davon aus dem Schlaf gerissen. Es ist 8 Uhr 15. Während anderswo Wecker läuten und Menschen daran erinnern, dass es Zeit ist zur Arbeit zu gehen, erinnert das Niesen Alaska daran, dass es Zeit ist für ihren ersten Schuss.

Wenn der Körper von Heroinabhängigen nach Stoff verlangt, sendet er Signale, die einer Verkühlung ähneln. Es ist das zweite Mal an diesem Morgen, dass Alaska in der Baracke in einer Baustelle zwischen pfeifenden Zügen und fiependen Mäusen erwacht.

Als sie die sich ankündigende Entzugserscheinung bemerkt, rüttelt sie ihren Freund Brian wach. Er kriecht aus seinem Schlafsack und assistiert ihr bei ihrem „Frühstücksschuss“: Erst kocht er Heroin auf, dann spritzt er es in den Hals seiner Freundin – in ihren Armen sind seit Jahren keine offenen Venen zu finden.

Alaska, 27 Jahre alt, lebt in Portland im nordwestlichen US-Bundesstaat Oregon. Sie lebt auf der Straße. Erst vergangene Woche hat Portlands Bürgermeister Charlie Hales in der Stadt den Wohnungsnotstand ausgerufen. Nun können öffentliche Gebäude zu Notschlafstellen umfunktioniert werden. Portland ist die dritte Stadt an der Westküste, die – nach Seattle und vergangene Woche Los Angeles – den Notstand ausgerufen und Obdachlosigkeit zur Causa Prima erklärt hat.

Die Mietpreise in Portland sind im vergangenen Jahr stark angestiegen, nach einigen Schätzungen so sehr wie nirgendwo sonst in den USA. In der einstigen Industriestadt hat die Gentrifizierung voll zugeschlagen: Die ärmere Bevölkerung wird vom Zuzug wohlhabenderer Menschen sukzessive verdrängt.

Die Zahl der Obdachlosen im Bundesstaat Oregon ist im Vergleich zur restlichen USA nicht besonders hoch, doch wohnungslose Menschen sind hier sehr sichtbar: Die Hälfte der 12.000 Obdachlosen* ist nicht in Heimen oder Notschlafstellen untergebracht, und sie sind vor allem in Portland auf den Straßen omnipräsent.

Woran liegt das? Es könnte damit zu tun haben, dass Portland - Beiname „Capital of Weird“, „Hauptstadt der Seltsamen“ - sich damit rühmt, anders zu sein als die restlichen USA: Kiffen ist seit Sommer 2015 offiziell erlaubt, der Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders, ein selbsternannter „demokratischer Sozialist“, könnte in dieser Stadt mit seinen Anhängern mehrere Football Stadien füllen. Man gibt sich liberaler, offener und toleranter. Obdachlose werden nicht vom Straßenbild verdrängt.

Alaska schläft nach ihrem Schuss wieder ein. „Wenn ich könnte, würde ich mein Leben lang nur schlafen“, sagt sie oft. Doch davon kann sie nur träumen, muss sie doch Geld verdienen, um sich und ihren Freund über Wasser zu halten.

Jeden Tag verkauft sie im schickeren, nordwestlichen Teil der Stadt Ohrringe und Halsketten. Ihr Einkommen – an einem guten Abend sind es 60 Dollar, etwas mehr als 50 Euro – fließt in Drogen, neue Materialien zur Schmuckherstellung, Essen und ihre Krebsbehandlung.

Die 23. Straße in Nordwest Portland ist der beste Ort um den selbst reparierten Schmuck zu verkaufen: Hier, vor dem Gourmet-Eisgeschäft Salt & Staw, stehen die Menschen Schlange, um sich – für 3,50 Euro pro Kugel – Eis mit Karfiol- und Blauschimmelkäsegeschmack zu kaufen.

© John Strieder

Alaska sitzt hinter ihrem aus Getränkekisten gebauten Verkaufsstand, mit nach vorne gebeugtem Körper knüpft sie in stoischer Routine ein Freundschaftsband. Selten blickt sie auf, und wenn sie es tut, suchen ihre Augen, die an blau-grüne Murmeln erinnern, nach anderen Augenpaaren.

Alaska freut sich, wenn sie jemand nach ihrem Schmuck fragt oder danach, wie es ihr geht. Sie antwortet dann geduldig und mit sanfter Stimme, und oft verabschiedet sie sich mit: „Danke, dass Sie mich zur Kenntnis nehmen“.

Der Großteil der Wartenden scheint Alaska jedoch nicht zu bemerken. Eine 7-Jährige gräbt in ihren Hosentaschen, tief unten findet sie eine Münze. Bevor sie das Kleingeld Alaska geben kann, wird sie von ihrer Mutter weggezogen.

Aus dem Augenwinkel beobachtet die Mutter Alaska: An dem Schild aus braunem Karton mit der Aufschrift „Obdachlose mit Krebs” bleibt ihr Blick hängen. Sie scannt Alaskas Körper von oben bis unten: der leichte Schweißfilm auf der Stirn, das rasierte Haar, das büschelweise nachwächst.

Ein burschikos-dünner Körper, umhüllt von einer einst weißen Bluse, die heute gelblich und mit rotbraunen Blutflecken übersät ist. Die Kratzer und Narben auf ihren Armen sind das Resultat jahrelanger Selbstverletzung; die überstrapazierten Venen weisen auf starke Drogensucht hin. Mit einer skeptischen Falte auf der Stirn blickt die Mutter in die entgegengesetzte Richtung.

Alaska will als Barista (sie liebt Kaffee) und mit Hunden arbeiten (sie sagt sie versteht sie besser als Menschen). Sie will heiraten und Kinder haben (sie sagt sie mag keine Kinder, aber wenn sie eigene hätte, wär es anders). Das sind ihre Träume.

Ihre Realität sieht so aus: Im vergangenen Jahr wurden sie und ihr Freund aufgrund von Drogenhandel verhaftet, jetzt sind sie auf freiem Fuß, aber auf Bewährung.

Sie versucht, nicht wieder in Schwierigkeiten zu geraten: Jeden Tag verkauft Alaska Schmuck, den sie wenige Stunden zuvor in ihrer Baracke im Nordosten der Stadt fabriziert hat. Sie und ihr Freund leben seit einer Woche hier: Über ihnen ein löchriges Stück Zelt, unter ihnen eine Decke, die nach nassem Hund riecht.

© Alaska Rose

Daneben ein Einkaufswagen, vollgestopft mit ihrem gesamten Hab und Gut. Hier bastelt Alaska Ketten aus kaputten Ohrringen, sie verwendet dafür dieselbe Pinzette, mit der ihr Freund kurz zuvor seine Fingernägel geputzt hat.

In Portland sind immer mehr Frauen wohnungslos: Seit 2013 ist die Zahl um 15 Prozent gestiegen – und das, obwohl die Gesamtzahl der Obdachlosen in Oregon in den vergangenen sieben Jahren um 30 Prozent abgenommen hat.

Heute ist jede vierte obdachlose Person in Portland weiblich. African Americans, Frauen und Familien sind stärker gefährdet, obdachlos zu werden. Das liegt an den hohen Mieten, den wenig freien Stellen, den stagnierenden Löhnen und der hohen Arbeitslosigkeit. Fast ein Viertel der Obdachlosen in den USA ist unter 18 Jahre alt. In Portland ist jeder achte – 500 der insgesamt 3800 Wohnungslosen – 24 Jahre oder jünger.

Alaska lebt auf der Straße, seitdem sie mit 14 Jahren von zuhause weggelaufen ist. Zwischendurch hat sie in einem Kleinbus gewohnt, doch dieser wurde vor einigen Monaten gestohlen – mit ihrem Hund, einem Labrador-Retriever, und all ihren Dokumenten.

Diebstahl und Gewalt sind konstante Begleiter für Menschen, die auf der Straße leben, und Frauen sind dem noch stärker ausgesetzt: Laut dem Point-in-time Report 2015 gibt ein Drittel der obdachlosen Frauen in Portland an, vor kurzem physischer Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. Zwei Drittel waren Opfer psychischer, etwas unter ein Drittel Opfer sexueller Gewalt. Alaska hatte meist einen Freund an ihrer Seite – wenn sie solo war, hatte sie Hunde oder Waffen (sie liebt Messer, eine Zeitlang hat sie sogar eine Machete getragen).

Das Schlimmste am Leben auf der Straße ist nicht der fehlende Komfort oder die Unsicherheit, sagt sie. Am meisten stört sie, dass sie für viele Menschen unsichtbar ist.

Wenn jemand danach fragt, warum sie auf der Straße lebt, antwortet sie: „Die Straße ist für mich sicherer als mein Zuhause“ und erzählt ihre Geschichte: Sie lief vor ihrem gewalttätigen Vater davon; sie sagt, er habe sie vergewaltigt.

Fast die Hälfte – 45 Prozent – aller wohnungslosen Frauen in Portland haben häusliche Gewalt erlebt. Für Frauen, die diese Form von Gewalt erfahren haben, ist die Wahrscheinlichkeit, obdachlos zu werden, viermal so hoch als für Frauen ohne diese Erfahrungen.

Als Alaska in ihrer ersten Nacht auf der Straße zu einem Freund sagte, dass sie gerne high werden möchte, war ziemlich klar, dass sie nicht von leichtem Zeug wie Marihuana sprach. Heute sagt sie, sie sehe keinen Sinn darin, clean zu werden, denn ihre Ärzte hätten bei ihr vor einem Jahr Blasenkrebs diagnostiziert und ihr gesagt, sie hätte nur noch wenige Jahre zu leben.

© John Strieder

Ihre Chemotherapie findet dreimal pro Woche statt, doch da die Behandlung jeweils 25 Dollar kostet, nimmt sie die Termine nur sporadisch wahr. Sie sagt, Heroin helfe ihr gegen die konstanten Bauchschmerzen, das Gefühl „ganz leer zu werden“ und an nichts zu denken gefällt ihr. Die Droge hilft ihr auch, ihre sozialen Ängste zu überwinden und mit den Menschen auf der 23. Straße zu plaudern.

Diese weiche, feminine Art, die sie sich als Verkaufsmodus angeeignet hat, verändert sich schlagartig, als sie sich auf ihrem Fahrrad durch die Straßen Portlands bewegt: Sie radelt ihren Beachcruiser – das Fahrrad mit extra breitem Lenker und zurückgelehnter Sitzposition erinnert an eine Harley Davidson – durch den Couch Park.

Sie begrüßt Freunde mit einem „Fist-Bump“ – die Fäuste berühren sich – und prahlt damit, wie sie das Rad von einem Typ gestohlen hat, der ihre Freundin bei einem Drogendeal abzocken wollte: „Wenn dich jemand bescheißen will, darfst du dir das nicht gefallen lassen. Sie hätte sich das gefallen lassen, also habe ich mich für sie stark gemacht.“

Alaska sucht auf dem Randstein nach Zigarettenstummeln und radelt, ihre Bluse aufgeblasen wie ein Ballon, die hügeligen Gehsteige Portlands auf und ab. Beinahe überfährt sie einen Kinderwagen, in letzter Sekunde ruft sie: „Ich habe keine Bremsen, ich kann nicht anhalten.“ „Besorg dir Bremsen“, antwortet der überrascht zur Seite springende Vater, Alaska entgegnet: „Kann ich nicht, ich bin pleite, du Arsch.“

In einem Burgerladen fragt sie, ob sie ihr Telefon aufladen darf („Sag deinem Chef einfach, dass Alaska hier war, verdammt noch einmal!“), um dann an ihrem gewohnten Platz ihren Stand aufzubauen: Sie stapelt zwei Getränkekisten übereinander, wirft ein Tuch darüber, die Ohrringe und Halsketten arrangiert sie fein säuberlich.

Alaska fehlen so gut wie nie die Worte. Sie schreibt Poesie, obwohl sie keinen Computer besitzt veröffentlicht sie ihre Gedichte gelegentlich auf ihrem Blog. Einige von ihnen wurden sogar in Portlands Obdachlosenzeitung Street Roots veröffentlicht.

Sie schreibt auch über ihren Freund Brian, aber diese Gedichte sind nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Ihr erster Jahrestag steht kurz bevor. Ihr erster Jahrestag steht kurz bevor, doch wenn er ihr nicht jeden Tag sagt, dass er sie liebt, bekommt sie es mit der Angst zu tun.

Er wird leicht eifersüchtig, und wenn er 96 Stunden am Stück wach ist, streiten sie (die Droge seiner Wahl ist Crystal Meth, damit bleibt man tagelang schlaflos).

© John Strieder

Wenn Alaska über Brian spricht, dann entweder über Hochzeitspläne, ihren letzten Streit oder das Vorhaben, gemeinsam auszuwandern, wenn die Bewährungszeit vorbei ist. Alaska will nach Schottland auswandern, wo ihre Familie herkommt. Nach Oregon sind sie gezogen, als sie acht Jahre alt war.

Ihre Familie lebt nach wie vor in Portland, doch Alaska weigert sich, ihren gewalttätigen Vater zu treffen, und auch den Kontakt mit ihren beiden Schwestern hat sie abgebrochen. Einzig ihre Mutter trifft sie zweimal im Jahr, zu Weihnachten und zu ihrem Geburtstag.

Alaska erzählt, dass sie selbst einmal Mutter war: Nach mehreren Abtreibungen und Fehlgeburten brachte sie ein Mädchen namens Annabelle zur Welt. Das Kind wuchs bei einer Freundin auf, und mit vier Jahren wurde es bei einem Autounfall von einem betrunkenen Fahrer getötet.

Seither trinkt Alaska keinen Tropfen Alkohol und verachtet Alkoholiker. Alaska träumt nach wie vor von dem Unfall, bei dem sie selbst nicht dabei war.

Doch auch ohne Tragödien wie diese ist das Leben auf der Straße geprägt von Instabilität und Veränderung: Wenige Tage nachdem sie das Fahrrad gestohlen hat, wird es ihr gestohlen.

Die gute Nachricht ist, dass sie und Brian einen neuen Schlafplatz gefunden haben. Neben den Zuggleisen im Nordosten der Stadt haben sie sogar Elektrizität und eine Mikrowelle. Als sie die Gleise am Ende eines langen Tages überqueren um zu ihrem neuen Zuhause zurück zu kehren, treffen sie eine junge Frau.

Sie ist 19 Jahre alt, tätowiert, ihre Oberarme sind mit blauen Flecken übersät. Sie kommt aus Eugene, einer Kleinstadt südlich von Portland, und ist obdachlos. „Hier ist es nicht sicher”, warnt sie das Paar, und erzählt von einer 15-Jährigen, die ebenfalls hier lebt: „Ihr ist es wahrscheinlich nicht bewusst. Aber ich schaue auf sie.“


Die Reportage wurde aus der Perspektive der Protagonistin erzählt. Aufgrund der Beschaffenheit des Materials war es nicht möglich, alle von ihr erzählten Details zu verifizieren. Im Rahmen der Recherche hat die Autorin ihr rund 60 Dollar in Form von Bargeld, Essen oder Schreibmaterialien gegeben. Alaska hat Tagebuch geführt und ihren Alltag fotografisch festgehalten. Die ihr geliehene Kamera mit Fotos hat sie am nächsten Tag zurückgegeben, die Notizen aus ihrem Alltag sind in diese Reportage eingeflossen.

* Die Daten über die Situation der Obdachlosen in den USA stammen vom Homeless Assessment Report 2014
Die Zahlen aus Portland vom Point-in-time-Report 2015

Ein (1/2) Tag im Leben von Alaska Rose

Alaskas Gedichte