Polens

Mischpoche


Polen entdeckt seine jüdische Identität jenseits von Anatevka-Kitsch und Oskar Schindler-Folklore. Das etwas andere Coming Out.

Text & Fotos: Solmaz Khorsand

Produktion: Cornelia Hasil

Antonina Samecka ist wie ein Mammut. So sehen sie ihre Mitmenschen. Wie eine ausgestorbene Spezies, die plötzlich zum Leben erwacht ist. Eingemummt in ihren Poncho genießt die junge Frau mit den dunklen Haaren und den stechend blauen Augen die faszinierten Blicke. Samecka ist Jüdin. Und sie ist Polin.

Die Modedesignerin sitzt in ihrem Büro, im vierten Stock eines Backsteinhauses in der Straße Szpitalna, im Zentrum von Warschau. Hier entwirft die 31-Jährige die Kleidung für ihr Modelabel „Risk“. Darunter ihre ganz spezielle Kollektion: Kapuzenpullover mit dem Davidstern, Krawatten mit der Aufschrift „Lieber Chuzpah statt Charme“ und T-Shirts mit dem Aufdruck „Du hattest mich bei Shalom“.

„Jüdisch zu sein in Polen ist wie Leben in Brooklyn. Früher war es gefährlich. Heute ist es hip“, sagt Samecka und grinst. Ausgerechnet sie, deren Großmutter, eine Holocaust-Überlebende, ihre Enkelin nach deren ersten Israelreise vor zehn Jahren inständig gebeten hat, doch bitte nicht die hübsche Kette mit dem Davidstern zu tragen, da es in Polen zu gefährlich sei, sich als Jüdin zu erkennen zu geben – sie entwirft heute Kapuzenpullis mit riesigen Davidsternen darauf. Pullis, die in der ganzen Stadt getragen werden.

Von Juden und Nicht-Juden. „Wir wollen der jüdischen Identität in Polen ein neues Image geben. Unser Motto: Jüdisch zu sein ist cool und sexy“, erklärt Samecka. Sie weiß um die Bedeutung dieser Kollektion und warum sie es mit ein paar Pullis und T-Shirts auf das Cover internationaler Zeitungen geschafft hat. Weil sie eben mehr sind, als nur ein paar Pullis und T-Shirts.

Bild Antonina Samecka

Modedesignerin Antonina Samecka beweist Chuzpe mit ihrer oy-Kollektion

Sie bedeuten eine neue Zeitrechnung in ihrer Heimat. Eine, in der die Worte Polen und Juden in einem Atemzug genannt werden können, ohne betroffenes Schweigen auszulösen. Eine abseits von Warschauer Ghetto, Treblinka und Auschwitz.

Und eine, in dem Polen für Juden mehr sein will, als eine 312.679 Quadratkilometer große Gedenkstätte, wo der Horror nach dem Zweiten Weltkrieg für die Juden weiterging. Ob in Kielce, wo im Juli 1946 Dorfbewohner 40 jüdische Überlebende ermordet haben. Ob im Radio, im Fernsehen und auf der Straße, wo die kommunistische Partei 1968 mit einer antisemitischen Hetzkampagne die letzten Juden aus dem Land verjagte.

Die Beobachtung am lebenden Objekt ist schon lange nicht mehr

Polen hat genug von diesem Image. Israelische Schüler sollen nicht länger Jahr für Jahr hierher pilgern, um ausschließlich die Gräber ihrer Vorfahren zu betrauern. Sie sollen erfahren, wie das jüdische Leben einst war – und vor allem wie es wieder werden kann.

Polen arbeitet hart an dem neuen Image. Vormals mit fiddelndem Anatevka-Kitsch und Oskar Schindler Folklore. Heute mit Festivals, Mode und insbesondere mit dem neuen Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau.

20 Jahre lang hat man an dessen Konzept gearbeitet. 2013 wurde das Museum, entworfen von den finnischen Architekten Rainer Mahlamäki und Ilmari Lahdelma , schließlich eröffnet. Es befindet sich auf dem Gelände des früheren Warschauer Ghettos - gegenüber das Denkmal der Helden des Warschauer Aufstands.

Der Kontrast könnte nicht größer sein. Da das dunkle Granitdenkmal, das an jene Menschen erinnern will, die sich 1943 wochenlang gegen die deutschen Besatzer gewehrt haben – und am Ende getötet wurden. Dort ein heller Glaspalast, der auf 4200 Quadratmetern vom jüdischen Leben erzählen will.

Bild Synagoge

Ein Highlight der Ausstellung in Warschaus Museum der Geschichte der polnischen Juden, ist eine Replik einer aus Holz gebauten Synagoge aus dem 19. Jahrhundert. © Czarek Sokolowski / AP

„Ein Glasgebäude an einem Ort des Völkermords zu bauen, kommuniziert eine Botschaft der Hoffnung“, sagt Barbara Kirshenblatt-Gimblett. Die 72-jährige Kanadierin mit dem strengen Zopf ist Programmdirektorin der Dauerausstellung des Museums. Ende Oktober wurde die Ausstellung feierlich eröffnet.

Seit mehr als zehn Jahren arbeitet Kirshenblatt-Gimblett, die Tochter ausgewanderter polnischer Juden, an dem Konzept für die Ausstellung.

1000 Jahre jüdisches Leben in Polen. Das soll in acht Galerien gezeigt werden. Nur eine Galerie thematisiert den Holocaust und den polnischen Antisemitismus der Nachkriegsjahre. Kirshenblatt-Gimblett wird nicht müde, Besuchern zu erklären, dass dieses Museum nicht die Massenvernichtung im Fokus hat, sondern im Gegenteil: das Leben.

Außerdem habe das Museum einen Auftrag. Es will polnischen Juden vermitteln, was es heißt jüdisch zu sein. Ihre Eltern und Großeltern konnten es nicht tun. Oder wollten es nicht. Sei es aus Angst oder aus Scham. Und die Beobachtung am lebenden Objekt gibt es schon lange nicht mehr.

Der jüdische Phantomschmerz

3,3 Millionen Juden lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Polen. 300.000 nach dem Krieg. Heute weiß keiner, wie viele Juden es noch in Polen gibt. Die Schätzungen liegen zwischen 10.000 und 20.000 Personen. Der Vergleich mit der ausgestorbenen Spezies liegt nicht fern.

„Ich sehne mich nach dir, Jude!“ Das hat Rafal Betlejewski vor vier Jahren auf jede Wand in Polen geschrieben, die er nachts finden konnte. Seine Mitmenschen waren irritiert. Sie kannten das Wort „Jude“ als Graffiti nur in einem Zusammenhang. „Ab ins Gas, Jude“, „Hau ab, Jude“ oder „An den Galgen, Jude.“

Das schreiben Fans rivalisierender Fußballklubs noch heute an Polens Mauern. „Für die Leute war mein Satz eine Überraschung, für manche sogar ein Schock. Das Wort Jude wurde nie in so einem intimen Zusammenhang benutzt”, sagt Rafal Betlejewski.

Er nimmt einen großen Schluck von seinem Bier. Es ist Montagabend in einer Pizzeria in Warschaus Innenstadt. In seinen neonorangenfarbenen Hosen ist der hochgewachsene 44-Jährige eine regelrechte Erscheinung. In den vergangenen vier Jahren hat sich der Aktionskünstler immer wieder zum polnisch-jüdischen Verhältnis geäußert.

Der Spruch auf den Mauern war nicht seine einzige Aktion. Er stellte an verschiedenen Orten, die mit der Geschichte der polnischen Juden verbunden sind, einen leeren Stuhl mit Lammfell und einer Kippa auf. Hier konnten seine Mitbürger Platz nehmen und sich fotografieren lassen. Hunderte schickten ihre Fotos ein. Betlejewski hatte einen Nerv getroffen. Offenbar spürte nicht nur er die Sehnsucht, die Lücke, oder, wie sie in Polen sagen, den jüdischen Phantomschmerz.

Bild Graffiti
Bild Rafal

„Ich sehne mich nach dir, Jude“, schrieb Rafal Betlejewski an die Wände Polens. Offenbar spürte nicht nur er den jüdischen Phantomschmerz. © Rafal Betlejewski

Vor dem Krieg gab es in Warschau drei große Synagogen und 400 Gebetshäuser. Heute weist kaum etwas auf die jüdische Präsenz hin. Diese konzentriert sich höchstens im Viertel rund um die Nozyk Synagoge im Stadtzentrum. Hier befindet sich auch das jüdische Theater, Warschaus einziges Geschäft für koschere Lebensmittel und ein Falafel-Imbiss.

Jeden Tag kommen ein paar Männer und Frauen morgens und abends zum Gebet in die Synagoge. Sie lassen sich an einer Hand abzählen. Diesen Montagvormittag ist hingegen volles Haus. Eine Gruppe junger Israelis besucht Rabbi Michael Schudrich. Seit 1991 lebt der gebürtige New Yorker in Polen. Seit 2004 ist der Amerikaner Polens Oberrabbiner und kümmert sich um die jüdische Gemeinde. Müde torkeln die israelischen Schüler aus ihrem Workshop mit dem Rabbi.

Es ist Tag Zwei auf ihrer achttägigen Reise durch Polen. Eigentlich ist es ein ganz normaler Klassentrip. Mit Trinkspielen. Selfies. Rumgealber. Wilden Knutschereien. Ganz normal eigentlich. Wäre da nicht die Sache mit dem Holocaust. Und ihren Vorfahren. Daphne schaut betroffen. „Es ist schon sehr emotional“, sagt die 18-Jährige und vergräbt ihr Gesicht in der Schulter ihres Mitschülers. Ihre Freunde haben Familienangehörige hier verloren.

Was fühlen sie hier? Trauer? Angst? Wut? „Natürlich ist man wütend, darüber, was die Deutschen hier getan haben“, sagt einer und schaut hilflos in die Runde. Sechs Tage dauert der Trip noch. Das Schlimmste steht ihnen noch bevor. Warschau ist abgehandelt. Morgen geht es einmal nach Krakau. Und dann nach Auschwitz.

Vergangenes Jahr besuchten 1,2 Millionen Menschen das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz und das Vernichtungslager Birkenau. Ein Besucherrekord. Die meisten kamen aus Polen, Großbritannien und den USA. Vier Stunden dauert die Führung durch die ehemalige Militärkaserne, in der 1,1 Millionen Menschen ermordet wurden.

Rütteln am Opfermythos

Rafal Beteljewski war 14 Jahre alt, als er das erste Mal in Auschwitz war. Von ermordeten Juden hat ihm sein Lehrer damals nichts erzählt. Nur von Polen, die dort getötet wurden, war die Rede. Das war 1984. Die kommunistische Propaganda kannte nur ein Narrativ der Geschichte.

Eines, in dem Religion nicht vorkam und Juden nichts verloren hatten. Erst 1989 wurde klar, wer in den Lagern ermordet wurde und dass die Polen nicht nur Opfer waren.

Bild Rafal Beteljewski

Aktionskünstler Rafal Betlejewski steckte 2010 eine Scheune in Brand, in Gedenken an das Massaker von Jedwabne.

Jan Tomasz Gross rüttelte nach 1989 am stärksten an Polens bisherigem Opfermythos. 2001 veröffentlichte der polnisch-stämmige US-Historiker das Buch „Nachbarn“. Darin beschreibt er das Massaker von Jedwabne, wo im Juli 1941 die Dorfbewohner ihre jüdischen Nachbarn in eine Scheune trieben und bei lebendigem Leib verbrannten - ohne Zutun der deutschen Besatzer.

Vor vier Jahren besuchte Betlejewski den Ort, freundete sich gar mit einigen Bewohnern an. Sie wussten, welchen Wirbel Jan Gross‘ Buch verursacht hatte, dass sie von nun an als das Pogromdorf gebrandmarkt sein würden.

Der Bürgermeister wollte die Geschichte aufarbeiten, doch viele Bewohner hätten sich geweigert, erinnert sich Betlejewski: „Sie hatten Angst vor den Konsequenzen. Was, wenn die Angehörigen ihrer jüdischen Nachbarn aus Amerika und den anderen Ländern zurückkommen und ihre Häuser zurückverlangen?“

2010 hat der Künstler dem Massaker an den 300 Menschen in einer umstrittenen Aktion gedacht. Er setzte in Zawada, einer Stadt im Südwesten Warschaus, eine Scheune in Brand. Für ihn ist Jedwabne viel mehr als nur das Pogromdorf. „Hier in Jedwabne hat die polnische Identität ihre größte Krise“, sagt Betlejewski.

„Es ist das schwarze Loch unserer Identität, das uns damals alle eingesaugt hat.“ Wie ist es heute? Haben es die Polen aus dem schwarzen Loch heraus geschafft, in das sie Jan Gross mit seinem Buch vor 13 Jahren gezogen hat? Haben sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt? Betlejewski schüttelt den Kopf:„Nein, ich denke, wir gehen immer noch durch dieses Loch.“

Im Jewrussic Park ohne Juden

In Krakau hat man sich auf seine Weise mit der Geschichte arrangiert. Vielleicht liegt es daran, dass hier der Krieg nicht jene Spuren der Vernichtung hinterlassen wie in der Hauptstadt. Hier steht das imposante Königsschloss Wawel noch, die historischen Gassen und die Synagogen im ehemals jüdischen Viertel Kazimierz.

Vor dem zweiten Weltkrieg war jeder vierte Bewohner Krakaus Jude. Heute sind es geschätzt 120 Personen. Trotzdem ist ihre Präsenz allgegenwärtig. Ob als Holzfigürchen mit Kaftan und Schläfenlocken in den Tuchhallen auf dem Hauptplatz, oder als Nachttischporträt auf dem Flohmarkt in Kazimierz, wo sie neben Briefmarken mit Adolf Hitlers Konterfei verkauft werden. Die Stadt weiß, wie sie aus ihrem jüdischen Erbe Kapital schlagen kann. Dabei wurde Kazimierz lange Zeit stiefmütterlich behandelt. Bis Steven Spielberg kam.

Mit seinem Film „Schindlers Liste“ verwandelte der US-Regisseur Kazimierz in eine Goldgrube für Krakaus Tourismus. Plötzlich wollten alle die berühmte Kulisse des Hollywoodmeisters sehen. Die Stadt begann in das Viertel zu investieren. Sie entdeckte einen neuen Wirtschaftszweig: Holocausttourismus.

Seither fahren jeden Morgen Reisegruppen mit Golfcarts quer durch die Stadt zum ehemaligen „Ghetto“, lassen sich durch Oskar Schindlers Emailwarenfabrik führen, besuchen später eine der sieben Synagogen und essen in einem der zahlreichen Restaurants gefilte Fisch zu Abend, während sie sich selig zu Klezmer-Klängen wiegen. Ein Jewrussic Park für die Touristen – nur ohne Juden.

Bild Graffiti
Bild Hauseingang
Bild Stand Bild Fahrzeug

Dank Steven Spielberg weiß die Stadt Krakau aus ihrem jüdischen Erbe Kapital zu schlagen.

Das Coming Out

Jakub kennt sich in diesem Jewrussic Park aus. Seit einem Monat sitzt der Wirtschaftsstudent jeden Abend an der Rezeption des Jewish Community Centers in Kazimierz. Es ist Mittwochabend und Jakub hat alle Hände voll zu tun. Im Hauptsaal sitzen Holocaustüberlebende bei ihrem Nähkränzchen und mampfen selbstgebackene Kekse, während im Nebenraum junge Polen Hebräisch pauken.

Auch Jakub lernt die Sprache. „Mich interessiert die Religion nicht so sehr“, sagt der 23-Jährige, „aber ich liebe Israel.“ Seine Augen strahlen, wenn er von seinen beiden Besuchen in Israel erzählt. In ein paar Monaten wird er für ein halbes Jahr dorthin ziehen, um sein Hebräisch zu verbessern. Viele Polen würden das machen.

Für sie sei das Judentum weniger eine Religion, als viel mehr eine Lebenseinstellung, ein Trend, den immer mehr Polen für sich entdecken, auch jene, die tatsächlich jüdische Wurzeln haben. Nun trauen sie sich danach zu forschen, vielleicht doch die Kette der Großmutter mit dem Davidstern zu tragen und den Grabstein des Großvaters zu besuchen, der auf dem jüdischen Friedhof begraben liegt.

Jakub Nowakowski

Museumsdirektor Jakub Nowakowski erkennt ein neues jüdisches Selbstbewusstsein in Krakau.

„Ein neues Selbstbewusstsein“ meint Jakub Nowakowski auch in Krakau zu erkennen. Der Mittdreißiger ist Direktor des Jüdischen Museums in Krakau. Viele junge Besucher kommen in das moderne Museum. Gelegentlich finden hier auch Workshops mit Überlebenden statt. Früher hatten die Überlebenden Angst, vor polnischen Schulgruppen zu sprechen.

Zu groß war die Sorge, ein bekanntes Gesicht zu sehen, vielleicht den Nachbarsjungen, den besten Freund des Enkels, der gar nicht wusste, dass die Großmutter eine Jüdin ist, erinnert sich Nowakowski. Heute gehen die Überlebenden viel offener damit um. Sie wollen ihre Geschichte erzählen. Sie „outen sich“.

Gerne spricht Nowakowski darüber, wie das jüdische Leben langsam in die Stadt, in das Land zurückkommt. Wie Bewohner aus den entlegensten Dörfern ihre jüdischen Friedhöfe entdecken und pflegen. Wie Bauern die einzige Synagoge in dem Ort für Tausende Euro restaurieren lassen und alles aus eigener Tasche bezahlen – weil es ihnen wichtig ist.

Und wie Tausende Menschen Jahr für Jahr das jüdische Leben mit Konzerten, Messen und Workshops beim alljährlichen jüdischen Festival in Krakau zelebrieren. 20.000 Menschen sind vergangenes Jahr gekommen und haben neun Tage gefeiert. Juden und Nichtjuden. Nowakowski nickt zufrieden. „Es ist das größte Symbol und auch die größte Ironie.

Das größte Festival der Welt, das dem jüdischen Leben gewidmet ist, findet nur wenige Kilometer entfernt statt von dem größten Symbol, das die Vernichtung der Juden bedeutet hat“, sagt Nowakowski und hält kurz inne. „Hier im Schatten von Auschwitz erlebt das jüdische Leben ein Revival.“

Die Reise erfolgte auf Einladung des Polnischen Instituts in Wien und des Außenministeriums in Warschau.