Die alten Clans des Praters


Der Wiener Wurstelprater wurde über Generationen von den alten Schaustellerdynastien geprägt.
Sie dominieren seine Geschicke bis heute.


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Text: Matthias Winterer
Fotos: J. Kerviel
Gestaltung & Produktion: Cornelia Hasil


Der Wiener Wurstelprater ist vieles. Schlaraffenland für Kinder. Umschlagplatz für Adrenalinjunkies. Sehnsuchtsort für Hedonisten. Doch für Silvia Lang ist der Prater vor allem eins: Heimat. Denn hier ist sie aufgewachsen, inmitten der Fahrgeschäfte, Süßigkeitsstände und Schießbuden. Sie ist Spross einer der alten Praterfamilien.

Momentan wird die Liebe zur Heimat jedoch hart auf der Probe gestellt. Im Minutentakt unterbricht das Läuten des Handys ihre Cafépause in der Meierei. Sie dirigiert Mitarbeiter, engagiert Handwerker, beantwortet die Fragen der Journalisten. Lang hat sichtlich Stress. In wenigen Tagen beginnt die Hauptsaison im Wurstelprater.

Dafür putzt die Mitfünfzigerin ihre Betriebe heraus. Momentan betreibt sie die Wiener Rutsche, eine Spielhalle und das Magic Dreamland, einen bunten Fantasie-Parcours mit Labyrinth, sich bewegenden Stufen und Hindernissen.

„Die Zeit vor der Eröffnung ist jedes Jahr anstrengend. Das heurige Jubiläum toppt das alles aber nochmal“, sagt sie und streichelt ihren Chihuahua. Das Fellknäuel springt ihr vom Schoß und saust zu Langs Mutter Liselotte. Die 89-jährige kennt die alljährliche Hektik. Sie hat sie selbst jahrzehntelang miterlebt.

Gleicher Ort, 150 Jahre früher. Ein Mann mit pelziger Uschanka und Cowboy-Weste vollführt Kunststücke. Mit kurzen Stümpfen statt Armen und Beinen feuert er ein Gewehr ab.

Trotz seiner starken Missbildungen gelingt es ihm eine Zigarette zu drehen und Bilder zu malen. Es ist Nikolai Kobelkoff, der berühmte russische Rumpfkünstler - Silvia Langs Ur-Urgroßvater.

Ihr anderer Ur-Urgroßvater August Schaaf hat ihn 1875 in den Prater geholt. Der Leipziger Puppenspieler war zehn Jahre zuvor nach Wien gekommen und hatte sich im Prater ein Unternehmen aufgebaut.

Er spezialisierte sich auf menschliche Abnormalitäten. In seinem Panoptikum traten Riesendamen, Drillinge, Zwerge und Verstümmelte auf. Der Prater war der perfekte Ort für Vorführungen dieser Art.

Ein Ort des ungezwungenen Amüsements

Nach der Öffnung des grünen Praters 1766 durch Kaiser Josef II. etablierten sich im nordwestlichen Teil des früheren Jagdgebiets erste Verpflegungshütten, Kaffeesieder und Ringelspiele.

Im Zuge der Aufklärung wurden die volkstümlichen Schaubühnen und Puppentheater aus der Altstadt vertrieben. Sie siedelten sich im Prater an. Schnell wurde er zum Ort der saloppen Unterhaltung, des ungezwungenen Amüsements und erlebt Ende des 19. Jahrhunderts seine erste Hochblüte.

Auch Kobelkoff brachte es in diesem Umfeld zu erheblichen Wohlstand. Er heiratet August Schaafs Schwägerin, zeugt elf Kinder und eröffnet Anfang des 20. Jahrhunderts sein eigenes Fahrgeschäft, den Toboggan, ein spiralförmige Riesenrutsche.

Am 9. April wird der 250. Geburtstag des Praters mit einem Blumencorso und über 100 Fiakern gefeiert.

Liselotte Langs Augen leuchten, wenn sie von ihrem Großvater erzählt. „Er war ein fröhlicher, liebevoller Mann“, sagt die rüstige Dame. Tagein, tagaus soll er bis zu seinem Tod 1933 hinter der Kassa des Toboggans gesessen sein.

Sie selbst hilft auch noch in den Betrieben ihrer Kinder aus – ihrem hohen Alter zum Trotz. Rund 30 Fahrgeschäfte, Imbissbuden und Attraktionen besitzen die Nachkommen der Familien Schaaf und Kobelkoff heute. Damit sind sie eine der größten und ältesten Schaustellerdynastien im Prater.

Es sind diese Clans, die die Geschäfte des Vergnügungsparks seit jeher prägen. Die Langs, Koidls, Kerns, Holzdorfers, Sittlers, Steindls, Kolariks, Kyns und Reinprechts.Heute führen sie einen Großteil der 250 Prater-Betriebe, viele der rund 80 Praterunternehmer stammen aus ihren Reihen. Die komplizierten Familienstrukturen sind oft schwer zu durchschauen. Durch Hochzeiten, Freundschaften und Fusionen sind sie miteinander verwoben.

Gemeinsam überstanden sie auch so markante Zäsuren wie den Zweiten Weltkrieg. „Der Prater wurde im Krieg völlig zerstört“, sagt Liselotte Lang.

Vor den Ruinen ihrer einst florierender Betriebe

Sie muss es wissen, schließlich wurde sie in den Prater hineingeboren, im unheilvollen Jahr 1927. Der Justizpalast brannte, Österreich steuerte auf den Bürgerkrieg und die Zeit des Austrofaschismus zu.

Auf Parzelle 28, direkt neben dem Riesenrad, erblickte sie das Licht der Welt, oder besser gesagt: die bunten Lichter des Praters. Schon mit acht Jahren arbeitet sie in den elterlichen Schaubuden und war sogar Chefin ihres eigenen Kinderkarussells.

Die Geschäfte liefen gut in den ersten Kriegsjahren. Die am Nordbahnhof ankommenden Soldaten wurden am Praterstern entlaust und suchten im Vergnügen Zerstreuung. „Viele der Unternehmer waren zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits längst verschwunden“, sagt Lang.

Unmittelbar nach dem „Anschluss“ enteigneten die Nationalsozialisten die jüdischen Eigentümer der Unterhaltungsetablissements, wie Eduard Steiner, dem damaligen Betreiber des Riesenrads. Im April 1945 geriet der Prater schließlich zwischen die Fronten der deutschen Truppen und der Roten Armee. Brandbomben fielen. Liselotte Lang verschanzte sich mit ihren Eltern in einen der Splittergräben und überlebte.

Die Praterfamilien standen vor den Ruinen ihrer einst florierenden Betriebe. Doch ein weiteres Mal erschufen sie ein Eldorado des Vergnügens. „Der Wiederaufbau dauerte bis in die 1950er-Jahre. Ohne die eingesessenen Familien würde es den Prater heute nicht geben“, sagt Lang und starrt auf den Boden. Silvia Holzdorfer stellt ihr ein Mineralwasser vor die Nase. Auch ihre Familie ist bereits seit acht Generationen Teil des Wurstelpraters.

Im ehemaligen amerikanischen Pavillon der Weltausstellung führt sie heute die Meierei. An den Wänden hängen Schwarzweißbilder der Fahrgeschäfte ihrer Vorfahren. Ihr Urgroßvater Friedrich Holzdorfer errichtete 1933 die erste Geisterbahn der Welt. „In den 1970er-Jahren sorgte die sogenannte Flugbahn für Furore“, erzählt sie stolz.

Neue Gesichter im alten Milieu

Die großen Praterdynastien wirken wie eine homogene Gruppe. Sie helfen sich gegenseitig, beraten sich, besuchen die Lokale und Fahrgeschäfte der anderen. Da scheint es schwer von außen in das über Jahrhunderte gewachsene Milieu einzutreten. Dennoch wagen sich immer wieder neue Unternehmer in den Prater vor. Der Osttiroler Walter Pondorfer ist seit 1996 im Prater vertreten. Seine Attraktionen sind nichts für schwache Nerven.

Im höchsten Kettenkarussell der Welt kann man auf über hundert Metern Höhe seine Runden drehen. In der Black Mamba kämpfen die Gäste mit Belastungen von bis zu 5G und dem Inhalt ihres Magens.

Etwas gemächlicher – und vor allem traditioneller - geht es im Fahrgeschäft von Sammy Konkolits zu. Konkolits: speckige Lederjacke, ausgebeulte Jeans, runde John-Lennon-Sonnenbrille, aus dem weißen Mafiosi-Hut quillt krauses Kopfhaar über die Schultern. Der stattliche Schnauzbart hebt sich deutlich vom restlichen Dreitagesbart ab. Eine Mischung aus Alt-Hippie und Prater-Strizzi.

Zumindest auf den ersten Blick. Denn in Wahrheit ist Konkolits vor allem eins – Geschäftsmann. Reglos steht er vor dem Toboggan, die Hände verschränkt, die Beinstellung breit, wie ein Wächter.

Auf den Spuren Kobelkoffs

Seit 2008 betreibt er die 100 Meter lange Holzrutsche. „Das Riesenrad ist das Wahrzeichen des Praters, der Toboggan sein Denkmal“, sagt Konkolits. Von 1947 bis zur Jahrtausendwende rutschten sich tausende Wiener Kinder hier den Hintern wund, bevor die Konstruktion baufällig und schließen musste.

Fast ein Jahrzehnt moderte sie vor sich hin. „Sie gehört den Lindengrüns, der Familie meiner Gattin. Ich hab um 700.000 Euro gemeinsam mit dem Denkmalamt und der Stadt Wien renoviert“, erzählt Konkolits. Obwohl er kein Nachkomme der Kobelkoffs ist, schließt sich hier ein Kreis. Denn der 25 Meter hohe Holzturm ist ein Nachbau der alten Rutsche des russischen Rumpfkünstlers Nikolai Kobelkoff.

Dessen Ur-Urenkelin Silvia Lang ist schon wieder am Organisieren. Als Vize-Präsidentin des Wiener Praterverbands, der Vereinigung der Praterunternehmer, muss sie sich auch um die Festlichkeiten des Jubiläums kümmern.

Mit einem großen Blumencorso wird der Geburtstag Anfang April gebührend gefeiert. Geschmückte Oldtimer und Pferdekutschen sollen an die Geschichte des Wurstelpraters erinnern. Eine Geschichte, geprägt von den alten Dynastien.

Silvia Lang entschuldigt sich, sie muss zum nächsten Termin. Sie hakt sich bei ihrer Mutter ein und tritt auf die Straße vor der Meierei, dem Eduard-Lang-Weg, benannt nach dem Vater und Gatten der beiden Frauen.

Gemeinsam verschwinden sie im Reich der Geister, Zwerge und Schaubuden – ihrer Heimat.