Jura Soyfer

Ein Wiener Dichter

schaut ins Paradies

Geburt

Jura Soyfer wird im russischen Charkow (heutige Ukraine) geboren.

Weiterlesen 8. Dezember 1912

Flucht

Familie Soyfer flieht nach Georgien.

Sommer 1920

Von Russland nach Wien

Jura Soyfer beginnt sein neues Leben in Wien.

Weiterlesen April 1921

Verhaftung

1937 wird Jura Soyfer aufgrund einer Verwechslung verhaftet.

Weiterlesen 17. November 1937

Fluchtversuch

Im Frühjahr 1938 startet Soyfer einen Fluchtversuch. Von Vorarlberg will er in die Schweiz gelangen.

13. März 1938

Tod

Jura Soyfer stirbt kurz vor seiner Entlassung im KZ Buchenwald an Typhus.

16. Februar 1939

Heute

Jura Soyfers Erbe.

Weiterlesen

„Er war ein gewissenhafter Intellektueller, ein engagierter Literat, wie ihn Albert Camus oder Jean-Paul Sartre sich nur träumen konnten.“

Der Politik- und Theaterwissenschafter Alexander Emanuely über Jura Soyfer

Jura Soyfer war ein politischer Schriftsteller im Wien der 1930er Jahre. Er hatte großes Sprachgefühl, Humor und einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Mit seinen Reportagen, Gedichten und Theaterstücken dokumentierte er den aufkeimenden Faschismus und den Übergang vom Ständestaat in die nationalsozialistische Diktatur wie kaum ein anderer.

Obwohl ihn bis zuletzt der Wille, gegen die Gräueltaten der Nationalsozialisten anzukämpfen, am Leben hielt, starb er mit 26 Jahren im Konzentrationslager Buchenwald. Sein Handwerk und seine Waffe war die Sprache, und er beherrschte sie wie kein Zweiter in seinem intellektuellen Umfeld – und das, obwohl sein Lebenswerk bei anderen als Frühwerk gelten würde.

Trotz seines kurzen Lebens umfasst dieses Werk den beachtlichen Umfang von rund 1000 Seiten: In nur neun Schaffensjahren publizierte er 150 Gedichte, neben Reportagen und Essays sind fünf Theaterstücke und Fragmente des Romans „So starb eine Partei“ erhalten. Trotz alledem ist Jura Soyfer heute nur noch einem Nischenpublikum ein Begriff.

Wer war dieses Ausnahmetalent, das am 8. Dezember 2014 seinen 102. Geburtstag gefeiert hätte? Was weiß man heute über ihn, abseits von biographischen Eckdaten? Und wie können wir uns an diesen Wiener mit russischen Wurzeln anhand „seiner Plätze“ in der Stadt erinnern?

Eine Spurensuche.

„Vor allem muss man über Jura wissen, dass es in ihm gearbeitet hat.“ Mitja Rapoport Jura, der eigentlich Juri hieß, war satirischer Literat und in seinem Schreiben durch und durch politisch – doch für die politische Arbeit war er nicht unbedingt geeignet:

„Die Treffs mit Jura waren ‚lebensgefährlich‘, denn einmal kam er zu jedem Treff zu spät, was allen Regeln der Konspiration widersprach – aber das war gewiß seine schwächste Seite; entweder er hatte verschlafen – er arbeitete vor allem in der Nacht – oder bei einer Frau die Zeit vergessen (…) Zum anderen hatte er immer ein Schuldgefühl, daß er zuwenig für die Bewegung leiste (…) Den Kopf zur Seite geneigt, zerknirscht lächelnd, stürmte er im Galopp zum Treff – was gleichfalls den Regeln der Konspiration widersprach“, sagte Franz Marek, Parteisoldat und Berufsrevolutionär, über seinen Freund Jura Soyfer.

Sein Widerstand war literarischer Natur, berichtet Alexander Emanuely: „In seinem Schreiben riskierte er viel, hier hat er die Grenzen ausgelotet.“ Der Politik- und Theaterwissenschafter hat sich intensiv mit Jura Soyfer und seinen Zeitgenossen beschäftigt. Demnach verrichtete Soyfer Botendienste, verhalf seinen Freunden zu Jobs oder gab ihnen Geld. Doch wer war er als Mensch? Wie verbrachte er seine Tage, wie seine Nächte? Emanuely: „Würde der junge Soyfer heute leben, hätte ich wahrscheinlich gerade die Nacht mit ihm durchgemacht.“

Bis etwa Anfang 20 lebt Jura Soyfer, wie damals unter Sozialisten üblich, abstinent. Alkohol und Zigaretten lehnt er als Geldverschwendung ab – ab 1934 dürfte sich das im Umfeld der Theaterszene geändert haben. Weniger enthaltsam gestaltet er, ein Verfechter der freien Liebe, sein Liebesleben: Als er und sein engster Freund Mitja Rapoport sich in dieselbe Frau verlieben, führen sie mit Maria Szécsi eine Dreiecksbeziehung.

Von Russland nach Wien

Seine ersten sieben Lebensjahre verbringt Jura im russischen Charkow (heute ist die Stadt die zweitgrößte der Ukraine, Anm.). Die Familie wohnt in einer Villa in der „Ringstraße Charkows“, der Sumskaja Straße. Jura und seine Schwester werden von französischen Gouvernanten umsorgt. Der Vater Wladimir besitzt Fabriken und ein Handelshaus, die Mutter Ljubow ist eine belesene Bildungsbürgerin. In seiner Heimat ist Jura von Kindheitstagen an antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt – ab 1918 stehen in Russland Pogrome quasi an der Tagesordnung – was sich später in Wien fortsetzen sollte.

Als die Rote Armee Ende 1919 im Zuge der Oktoberrevolution in Russland die Macht ergreift, sind die Soyfers in Charkow endgültig unerwünscht. Noch im selben Jahr flüchtet der „Kapitalist“ Wladimir mit seiner Familie nach Georgien, und eine Odyssee der Flucht beginnt: Einige Monate verbringen sie in Konstantinopel, im April 1921 landeten sie schließlich in Wien. In dieser Stadt, die damals ein Zentrum des russischen Exils war, lassen sie sich nieder.

Ankunft in Wien

Zunächst lebt die Familie in einer Villa in Baden bei Wien, da es hier einfacher ist, die Staatsbürgerschaft zu bekommen. 1927 gelingt dies, wenn auch nur mit Hilfe der „Marie“, also ein wenig Geld, wie es auf wienerisch heißt.

Die erste Adresse in Wien ist die Gärtnergasse, später lebt Soyfer unter anderem in der Liechtenstein- und der Alserstraße. Der Wunsch des Vaters, sich in Wien eine neue Existenz aufzubauen, wird nie in Erfüllung gehen – die Tochter Tamara verdient als Büroangestellte zeitweise mehr als er, der sich mit „Import Export“ durchschlägt. Dennoch versucht die Familie, den bürgerlichen Lebensstil aufrecht zu erhalten: Die Mutter Ljubow spielt im Café Prückel Bridge, nach wie vor kümmert sich eine Gouvernante um die Kinder, im Hause Soyfer wird Russisch und Französisch gesprochen.

Sozialistische Schulzeit

Der Brand des Justizpalastes, bei dem die Polizei 84 Zivilisten tötet, veranlasst den jungen Soyfer, sich den sozialistischen Mittelschülern anzuschließen. Damit wird er als 15-Jähriger – damals besucht er das Gymnasium Hagenmüllergasse im 3. Bezirk – zum Genossen. Dass er sich ausgerechnet den "Achtzehnern", der Gruppe der jungen Sozialisten im 18. und 19. Bezirks anschließt, liegt auch daran, dass in dieser der Frauenanteil höher ist. Der Plan geht auf: Hier lernt er Maria Szécsi kennen, die beiden verlieben sich und führen einige Sommer lang eine leidenschaftliche Beziehung. Gemeinsam fahren sie per Autostopp nach Frankreich und träumen von einer besseren Welt.

Der junge Soyfer verschlingt die Texte seines großes literarischen Vorbildes Johann Nestroy – mit ihm wird er später immer wieder verglichen werden – und ist bald selbst Teil der Theaterwelt. Bereits als 16-Jähriger arbeitet er beim Politischen Kabarett mit, indem er Texte schreibt und an den Theaterabenden mithilft.

Julius Deutsch, einer der führenden Denker der österreichischen Sozialdemokratie, über die Arbeit des Politischen Kabaretts: „Nicht nur die Darstellung des grauen Elends, das das Leben des Proletariats umgibt, vermag aufrüttelnd zu wirken, auch die Satire, der kecke Witz, die heitere Laune sind sehr wohl imstande, diesem Zwecke zu dienen.“

Diese Zeilen treffen auch auf Soyfers Lebenswerk zu. Doch auch in der Satire verliert er nie das politische Ziel aus den Augen: „Soyfers gesellschaftskritische Verse waren keine glatt polierten Pillen für die Hausapotheke, sondern Injektionen ins öffentliche Gewissen (…) Soyfer war ein zutiefst politischer Schriftsteller – ein seltener Fall in der Österreichischen Literatur (…) er wußte – wie Brecht –, daß er in Zeiten lebte, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten ist“, schreibt sein Biograf Horst Jarka.
„Das Dutzend Gedichte [über Deutschland], das Soyfer vor 1933 schrieb, gehört zu den besten satirischen Grabgesängen auf die Weimarer Republik.“ Horst Jarka
Die Arbeiter-Zeitung veröffentlicht Jura Soyfers erstes Gedicht, als dieser 19 Jahre alt ist. Bald erscheinen seine Verse wöchentlich in dem Zentralorgan der Sozialisten, das zu diesem Zeitpunkt eine Auflage von 90.000 Stück hat. Seine Gedichte werden ausgeschnitten, herumgereicht, abgeschrieben…auf diese Weise wird Soyfer zum bekannten Autor in Wien.

„Er hat’s vorausgesagt“

Im Sommer 1932 reist Soyfer – wieder autostoppend – nach Deutschland, und erlebt den letzten Sommer der Weimarer Republik. In Braunschweig hört er zum ersten Mal Hitler und ist „über die Geistlosigkeit und Brutalität dieses Massenbezauberers baff", wie er an Maria Szécsi schreibt. In diesen Briefen beschreibt er auch die instabile politische Lage im Nachbarland: „Das einzige, was sicher ist, ist, daß es morgen oder übermorgen zum Faschismus oder zur Diktatur des Proletariats kommt. So ist also das Unsicherste das Sicherste, was Du Dialektik nennen magst.“

Als er zusehen muss, wie sehr die Unentschlossenheit der Linken dem Faschismus zugutekommt, zeigt er sich von der Politik der SPD enttäuscht: „Ich habe gelernt, dass zwischen einem revolutionären Sozialisten und den Apparatschiks keine Versöhnung, nur der Kampf bis aufs Messer notwendig ist.“ Dieselben Entwicklungen wie im Nachbarland sieht er auch in Österreich kommen. „Blutige Jahre werden vergehen, dann wirst du alles verstehen“, schreibt Soyfer drei Tage, bevor Hitler am 20. April 1933 seinen ersten Geburtstag als deutscher Reichskanzler feiert, weshalb man in Österreich über ihn später sagen wird: „Er hat’s vorausgesagt.“

Bald ist es vorbei mit der kritischen Presse, sein letzter Vers in der Arbeiter-Zeitung erscheint am letzten Tag der Ersten Republik, am 11. Februar 1934. In der Dollfuß-Diktatur arbeitet Soyfer unter falschem Namen im Untergrund: Seine Nächte verbringt er am ABC Theater in der Porzellangasse, im Regenbogentheater, im Theater am Naschmarkt. Aus der Arbeit für Kleinkunstbühnen entstehen Soyfers vielgerühmte Mittelstücke: Weltuntergang, Lechner-Edi, Astoria, Vineta, Broadway-Melodie...
„Die Stücke Soyfers dürften doch mehr sein als mit Umsicht chiffrierte Leitartikel.“ Exilforscher Konstantin Kaiser
Alexander Emanuely beschreibt Soyfers Bühnenstücke als „satirisches Agitprop-Theater und eine Mischung aus Nestroy, Brecht, Marx Brothers und René Clair (Video)“.

Nach den Februarkämpfen 1934 schließt sich Soyfer wie viele andere enttäuschte Sozialdemokraten der KPÖ an. Doch war er Kommunist? „Jura Soyfer war Volksfrontkommunist. Die Öffnung der kommunistischen Bewegung – einer breiten Einheit gegen den Faschismus und Nationalsozialismus – stand in Aussicht“, sagt Exilforscher Konstantin Kaiser.
„Jura Soyfer hat den wichtigsten gesellschaftlichen Organismus unserer Epoche, die politische Partei, zu seinem Gegenstand gemacht.“ Rolf Schneider

Der Februar wird Soyfer nicht loslassen, er verarbeitet die Geschehnisse in „So starb eine Partei". In dem Roman, der nur in Fragmenten erhalten ist, beschreibt er den Untergang der Sozialdemokratie. Im Mittelpunkt steht der kleine Funktionär Robert Blum, er trägt den Namen eines heldenhaften Revolutionärs aus dem Jahre 1848 – wieder einmal eine Soyfer’sche Spitze – und mit dem „Zehetner“ zeichnet er die Figur des Österreichers als Opportunisten, der aus Vorsicht Mitglied verschiedenster Vereine und Parteien ist…

Für Kaiser ist „So starb eine Partei“ einer der wichtigsten Beiträge zur Entwicklung zwischen 1930 und 1935, und bereits 1981 schrieb der Schriftsteller Rolf Schneider: „Hätten wir dieses Buch zur Gänze, es wäre der wichtigste politische Roman, den wir in deutscher Sprache besitzen.“

Bevor der Faschismus die Massen begeisterte, bis in die frühen 1930er-Jahre, war Wien tiefrot: In der Stadt wurde die 31. Arbeiterolympiade ausgetragen, sie galt als das Weltzentrum einer Zweiten Internationalen. In dieser Zeit tritt auch eine neue Frau in Juras Leben: Er lernt Helli Ultmann kennen, sie sollte ihm bis zu seinem Tod beistehen und schließlich auch sein Werk vor der Vernichtung der Nazis retten. Der Briefwechsel des Liebespaares ist bis heute erhalten. 1934 schreibt ihr Jura dieses Gedicht:

Doch unsre Liebe war wie alle Liebe:
Ein großes, tiefes Du, an das man glaubt,
Ein heißes Du, das kalt ein Windstoß raubt.
Und was uns blieb, war nicht mehr, als uns bliebe,
Hätt‘ ein Jahrzehnt die Zärtlichkeit entlaubt.

1936 – als Schuschnigg mit Hitler das Juliabkommen schließt – schreibt Jura Soyfer sein Stück vom Weltuntergang: In diesem hat die Menschheit vier Wochen Zeit, bevor sie durch den Kometen Konrad zerstört wird. Doch anstatt etwas zu unternehmen, lässt man die Zeit ungenützt verstreichen. Das Stück ist – wie so vieles in Soyfers Werk – als Weckruf gedacht und spielt unmittelbar auf die Untätigkeit der Gesellschaft angesichts der sich zuspitzenden politischen Lage an.

Zwischen Uni und Theater

Jura Soyfer studiert Deutsch und Geschichte an der Universität Wien, und gehört – bis sie 1934 aufgelöst wird – der Akademischen Legion an. Es ist anzunehmen, dass Jura in die damals üblichen Prügeleien an der Universitätsrampe verwickelt war. Denn die Uni Wien ist inzwischen zur Hochburg des Antisemitismus geworden; Übergriffe auf Studierende und Lehrende, die „jüdisch“ oder „links“ aussehen, stehen auf der Tagesordnung und werden vom Rektorat gedeckt. 1932 fordert Jura in der Arbeiter-Zeitung zum Widerstand auf, diesmal zum gewaltsamen:

Ein braunes Wien? Ihr fordert viel, Ihr Herren.
Das wäre das neu’ste.
Wißt: Wer Wien hakenkreuzigen will,
Der frage erst unsere Fäuste.
Wiens Straßen pflegten stets unser zu sein.

In seinem dritten Stück entwirft Soyfer ein fiktives Land namens „Astoria“, eine Utopie, an die sich die Hoffnungen und Sehnsüchte der Protagonisten klammern. In „Astoria“ macht sich Soyfer über die Willkür lustig, mit der Menschen umgebracht werden:

Graf (mit starrem Blick): Wissen Sie, wer Bismarck vergiftet hat?
Hupka: Ja, niemand.
Graf: Falsch. Ein Rohköstler. Wissen Sie, warum?
Hupka: Weil’s wahr ist.
Graf: Falsch: Weil Bismarck Protestant war! Wie ich dokumentarisch nachgewiesen habe, ringen die Rohköstler und die Protestanten seit dem Frieden von Tilsit um die Weltherrschaft. Wer ist schuld, daß die Mittelmächte den Weltkrieg verloren haben?
Hupka (eingeschüchtert): Ich. Weil ich damals Plattfüße gehabt hab.
Graf: Die Fagottisten. Llyod George ist ein Amateuerfagottist. Oberst Redl war ein Fagottist. Der deutsche Generalstab war von Fagottisten durchsetzt. (…)

Haft und KZ

1937 wird Jura Soyfer aufgrund einer Verwechslung verhaftet: Die Polizei hält ihn für seinen Freund Franz Marek – einen kommunistischen Berufsrevolutionär, also einen großen Fisch. Dennoch finden die Beamten in Jura Soyfers Wohnung genügend Material, um ihn hinter Gitter zu bringen. Marek selbst kriegt die österreichische Polizei nie zu fassen, erst 1944 – Marek ist inzwischen französischer Widerstandskämpfer – wird er von der NSDAP festgenommen. Soyfer wiederum sitzt vier Monate in der Rossauer Kaserne ein, bis er im Zuge einer Generalamnestie für „Politische“ freikommt.


Aufgrund seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen Arbeit ist Soyfer in Österreich weiterhin keineswegs sicher. Mit seinem Freund Hugo Ebner unternimmt er nach dem „Anschluss“ im Frühjahr 1938 einen Fluchtversuch, von Vorarlberg wollen sie mit den Ski in die Schweiz gelangen. Was sie nicht wissen: Seit zwei Tagen, seit 11. März, sind die Grenzen dicht. Beide werden festgenommen, Soyfer wird in das KZ Dachau eingeliefert, später in das KZ Buchenwald verschleppt.

Dort muss Soyfer Zwangsarbeit als Leichenträger verrichten, er bringt die Leichen zu den Toren des Konzentrationslagers, verlädt sie auf Lastenwägen, von hier aus werden sie in das Krematorium gebracht. Juras Wille, über die Massenmorde zu berichten, bleibt ungebrochen: „Oft erzählte er mir, welch einzigartiges Material er durch die bei seiner Beschäftigung gewonnenen Eindrücke sammle, ein Material, wie er es sich sonst nirgendwo beschaffen könne. Eines Tages aber ereignete sich das, was bei dieser Arbeit, wo Soyfer die Leichen mit den bloßen Händen anzufassen hatte, leider zu erwarten war. Er holte sich den Keim zu einer für ihn tödlichen Krankheit. Unter allen Zeichen der Typhusseuche brach er bei seinen Toten zusammen (…)“, berichtete Julius Freund, ein junger Wiener Sozialist und Mithäftling Soyfers.


Kurz darauf erfährt Soyfer, dass er aus dem KZ entlassen werden soll. Er darf also seiner Familie nach New York folgen, sein Koffer steht bereits bereit. Doch dazu wird es nie kommen: Wenig später stirbt er an den Folgen der Lagerhaft.

Viele seiner engen Freunde leben bereits in den USA: Viktor Grünbaum, Herbert Berghof, aber auch seine Ex-Freundin Maria Szécsi und sein engster Freund Mitja Rapoport (die beiden sind inzwischen verheiratetet). Jura Soyfers Freundin Helli Ultmann schreibt nach Juras Tod an Maria Szécsi, die sie bei ihrem Kosenamen Marika nennt:

Liebe Marika,
Ich habe versprochen, Dir zu schreiben, sobald Jura frei ist. Nun ist er frei, aber auf andere Art. Er ist nach seiner Entlassung am 24.1.39 mit Typhusfieber dort in Weimar ins Spital gekommen & am 15.11. daran gestorben. Ich weiß nicht, ob seine Mutter es weiß, schreib ihr nicht. Ich bin vorläufig auch noch am Leben, aber hoffe es ebensoschnell abzuschütteln. Helli

In Dachau entstand Soyfers letztes Gedicht: In diesem nimmt Soyfer die zynische Phrase „Arbeit macht frei“ über den Lagereingang beim Wort und kehrt sie in ein Bekenntnis der Menschenwürde um. Es ist durch die mündliche Überlieferung des Mitgefangenen Hugo Ebner erhalten, der das Lied auswendig gelernt und das KZ überlebt hat.

Soyfers Erbe

Noch in Soyfers Todesjahr wird der „Weltuntergang“ im New Yorker Blackbox Theater vor 1000 Besuchern aufgeführt, das Stück – die Marx Brothers sitzen im Unterstützungskomitee – wird über ein Monat lang gespielt. Auch in London und Buenos Aires werden seine Stücke ab 1939 aufgeführt. In Österreich sollte es um einiges länger dauern, bis sein Werk wiederentdeckt wird.


Ab 1974 findet allmählich eine Jura Soyfer-Renaissance statt, die um 1980 ihren Höhepunkt erreicht. In diesem Jahr – also 41 Jahre nach seinem Tod – wird sein Gesamtwerk von Horst Jakra herausgegeben (beziehungsweise alles, was noch aufzufinden war).

Von 1983 bis 2003 gibt es das Jura Soyfer Theater am Spittelberg im 7. Bezirk, immer wieder werden Soyfers Stücke in kleineren Theatern aufgeführt.

„Wenn heute ein Stück auf die Bühne kommt, wird es oft völlig falsch interpretiert, wie im Rabenhoftheater vor zwei Jahren: Anstatt das Stück zu entfalten, wurde eine eigene Konsumkritik darübergestülpt“, kritisiert der Exilforscher Konstantin Kaiser. Alexander Emanuely wünscht sich, dass die Stücke am Broadway aufgeführt werden. Die Jura Soyfer Gesellschaft bemängelt, dass Soyfers Stücke nie an einem großen Theater wie dem Burgtheater gespielt wurden.

Die seit 1988 bestehende Jura Soyfer Gesellschaft veranstaltet Poetry Slams oder verfolgt mit Stadtführungen die Spuren Jura Soyfers, und das Jura Soyfer Zentrum hat seinen Sitz nicht zufällig am Leberberg in Simmering: „Der Leberberg ist ein Synonym für Vielsprachigkeit“, sagt Herbert Arlt, Vorsitzender der Jura Soyfer Gesellschaft.

Ihm ist es wichtig, dass Menschen über Jura Soyfer Zugang zur Geschichte des Widerstands finden. Und schließlich war der 11. Bezirk auch jener Hieb, dem Jura Soyfer mit „Simmering“ ein eigenes Gedicht gewidmet hat: in diesem beschreibt er einen brutalen Überfall auf das einst dort ansässige Parteiheim.


Heute sind Soyfers Texte in 50 Sprachen übersetzt, seine Theaterstücke wurden vom ORF verfilmt. In Wien erinnern unter anderem sechs „Stolpersteine“ (Gedenktafeln), eine nach ihm benannte Gasse in Wien-Favoriten und ein Hörsaal am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an den Dichter – doch in Geschichts- oder Schulbüchern fehlt von ihm nach wie vor jede Spur.

Obwohl Soyfer Zeit seines Lebens vor dem Weltuntergang gewarnt hat, fand dieser durch die Machtergreifung der Faschisten letztlich statt. Doch zumindest sein Werk hat den Untergang überdauert; sein „Lied von der Erde“ liest sich wie eine Liebeserklärung an diese Welt:

Denn nahe, viel näher, als ihr es begreift,
Hab ich die Erde gesehen,
Ich sah sie von goldenen Saaten umreift,
Von Schatten des Bombenflugzeugs gestreift
Und erfüllt vom Maschinengedröhn.
Ich sah sie von Radiosendern bespickt;
Die warfen Welle von Lüge und Haß.
Ich sah sie verlaust, verarmt – und beglückt
Mit Reichtum ohne Maß.
Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde,
In Armut und in Reichtum grenzenlos.
Gesegnet und verdammt ist diese Erde,
Von Schönheit hell umflammt ist diese Erde,
Und ihre Zukunft ist herrlich und groß.
Denn nahe, viel näher als ihr es begreift,
Steht diese Zukunft bevor.
Ich sah, wie sie zwischen den Staaten schon reift.


Text und Video
Bettina Figl

Produktion
Cornelia Hasil

Quellen

  • Fotos in Video: DÖW, Jura Soyfer Gesellschaft, CC/Clemensfranz, U.S. National Archives and Records Administration, APA/Zdradvko Haderlap, Luiza Puiu
  • Ausnahmezustand– Jura Soyfers Transit von Alexander Emanuely. Bibliothek der Provinz, 2013.
  • Jura Soyfer. Die Gesammelten Werke, herausgegeben von Horst Jarka. Europa Verlag, 1984.
  • Jura Soyfer – Spiel mit der Zeit. Konstantin Kaiser.
  • Homepage der JSG
  • Virtuelles Jura Soyfer-Archiv