Die Rote Nelke

In einem unscheinbaren Kulturzentrum zwischen Parkplätzen und Plattenbauten sieht man das anders. „Club Tiras“ steht auf dem Messingschild an der Türe. Drinnen schimpft die „Rote Nelke“ über den Westen. Draußen plätschert amerikanische Popmusik von einem nahen Lokal herüber. Die Mitglieder des „Club Tiras“ sitzen in einem holzvertäfelten Theatersaal. Die Bühne ist in einen schweren, goldenen Vorhang gehüllt.

Patriotinnen, durch und durch

Hier bezeichnet man die Politiker in Brüssel als „Heuchler“ und ist der Meinung, dass Europa von Flüchtlingen „überschwemmt“ wird. Die Rote Nelke hat ihre Chorprobe unterbrochen, um zu erklären, warum sie Patriotinnen sind. Viele von ihnen haben im Bürgerkrieg von 1992 Verletzte versorgt, einige sogar selbst an der Front gekämpft. Die Präsidentin der Roten Nelke war im Zweiten Weltkrieg in einem KZ inhaftiert i.

Im „Club Tiras“ ist man der Meinung, dass man mit Worten nicht viel bewirken kann. Dabei klingen die Namen ihrer Verbände äußerst poetisch: Bächlein, Begeisterung, Inspiration oder Pegasus. Einige der Veteranen erzählen stolz, dass sie ihre Waffen aus der Zeit des Krieges nie abgegeben haben.

Schwierige Demilitarisierung

Das steht sinnbildlich für ein viel größeres Problem. Seit 1999 fordert die OSZE eine Demilitarisierung am Dnister. Doch in den Militärlagern sollen noch immer 20.000 Tonnen Munition aus Sowjetzeiten gelagert sein. Diese Waffen abzuziehen, funktioniert genau so wenig, wie den Veteranen ihre alten Pistolen wegzunehmen.

Sie sind stolz auf diese Symbole, ganz besonders am 9. Mai, dem „Tag des großen Krieges“. Dann spazieren die Patrioten in Reih und Glied, die Brust voller Abzeichen, die rot-grün-roten Nationalflaggen schwenkend. In der Regel ist das der Tag, an dem man plötzlich über Tiraspol in amerikanischen und europäischen Medien liest. Der Westen schaut dann nach Transnistrien, wenn es sich in Pose wirft.

Sorij Puris bezeichnet sich selbst als „Kämpfer des Hinterlandes“. Der 78-Jährige ist einer der wenigen, der nicht nur am 9. Mai, sondern auch unter dem Jahr eine Uniform trägt. Dabei hat er nie an der Front gekämpft, sondern als Wachmann in einer Fabrik gearbeitet.

Zur Zeit des Krieges wurden dort auch Panzer repariert. „So habe ich meinen Beitrag geleistet“, sagt Sorij. Heute habe sich Transnistrien verändert. „Wir wollten damals die Sowjetunion bewahren, aber heute spüre ich sie nicht mehr“, sagt er. Er wirkt mürrisch und enttäuscht.

Sorij und der Rest der Veteranen besingen ihr Land, wie es in der Vergangenheit war. Doch die Kontrolle über die Zukunft haben sie längst verloren. Oligarchen würden die Macht an sich reißen und Betriebe privatisieren. „Die Jungen haben heute keine Perspektive“, sagt Sorij, der alte Kämpfer des Hinterlandes.

Propaganda der sonnigen Gesichter

Der russische Präsident Wladimir Putin war noch nie offiziell in Transnistrien. Natalija Schenanina hat trotzdem ein Porträt von ihm in ihrem Büro aufgehängt. Sie ist die Direktorin des Veteranenclubs. Zur Zeit des Kommunismus hat sie im Bildungsministerium gearbeitet. Wer verstehen will, wie transnistrische Propaganda funktioniert, der muss ihr einige Zeit zuhören.

„Herzlich Willkommen, meine lieben, ausländischen Freunde“, beginnt sie das Gespräch. Natalija ist eine adrett gekleidete Frau, deren Bluse zum Tapetenmuster passt. Sie redet schnell, aufgeregt, aber immer freundlich. Auf die Frage, warum bei den Veteranen mehr Frauen als Männer teilnehmen, antwortet sie prompt: „Transnistrien ist nicht wie der Westen, wo es keine Gleichberechtigung gibt. Hier spielen Frauen die erste Rolle im Staat.“ Man muss nur einen Blick in die Innenpolitik werfen, um zu wissen, dass das nicht stimmt.

Der amtierende Präsident Schewtschuk sorgte für internationale Schlagzeilen, weil er die Außenministerin Nina Schtanski geheiratet hat. Nach der Hochzeit wurde ihr Posten neu besetzt, weil sie sich auf die „Pflichten der Gattin“ konzentrieren sollte.

Natalija Schenanina

Doch Natalijas Lächeln ist wie eingemeißelt. Sie fährt fort: „Auf den Straßen von Tiraspol begegnen einem nur sonnige Gesichter.“ Sie führt nach draußen in den Innenhof zu einer bemalten Wand. „Das ist unser Transnistrien und die junge Generation ist sehr stolz darauf“, sagt Natalija. Das Bild zeigt eine idyllische Landschaft. Ein Fluss schlängelt sich träge durch fruchtbare und üppige Felder. Doch die Schönheit des Dnister trügt.

Auf einer Brücke nahe der Stadt Vadul lui Vodă kam es am 1. Jänner 2012 zu einem schrecklichen Vorfall. Der 18-Jährige Vadim Pisari ging betrunken von einer Silvesterparty nach Hause und beschloss im Affekt, zum Tanken auf die andere Seite, nach Transnistrien zu fahren. Gegen 7:30 Uhr wurde er von einem russischen Friedenssoldaten erschossen, der ihm zuvor mehrmals befohlen hatte, den Wagen anzuhalten.

Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Oktober 2015 wurde Russland zu 50.000 Euro Entschädigung verurteilt. Pisaris Tod zeigt, wie aufgeladen die Stimmung zwischen dem rechten und linken Ufer des Dnister nach wie vor ist.