Im Getriebe des Rechtsstaates


Vom Ladendiebstahl bis zum Mord – am Wiener Straflandesgericht wird alles verhandelt. 7336 Urteile fielen hier im vergangenen Jahr. Ein Blick in die größte Urteilsmaschine des Landes.


Text von Michael Ortner, Matthias Winterer

Illustrationen von Irma Tulek

Gestaltung und Entwicklung von Cornelia Hasil

§

Die Urteilsmaschine


Vol. I . . . No. 1
Wien, 31. Juli 2017

Ein Wort bestimmt Helmuts Leben. Es ist ein Adjektiv. Es bestimmt, ob Helmut die ersten Schritte seiner Tochter sehen wird – oder nicht. Es bestimmt, ob er morgens seine Frau wach küsst, ob er dienstags Fußball spielt, ob er mit seinen Freunden Bier trinkt – oder eben nicht. Dieses eine Wort stellt die Weichen. Fällt es, muss Helmut für lange Zeit ins Gefängnis. Fällt es nicht, kann er vielleicht heute noch nach Hause gehen. Es ist das Wort „absichtlich“.

Helmut sitzt vor einer Holztür. Matte Eichenfurnier, Aluminiumbeschläge, robust, braun, banal. Schmucklose Massenware. 28 dieser Türen gibt es hier. Hinter jeder von ihnen wird Recht gesprochen, wie es trocken heißt. Hinter jeder von ihnen wird über das Leben von Menschen entschieden, könnte man auch sagen.

Über das Leben von Menschen, die sich hinter diesen Türen als Sexualverbrecher, Diebe, Betrüger, Mörder entpuppen. Denn die Türen führen in die 28 Verhandlungssäle des Wiener Landesgerichts. Sie sind das Herzstück des größten Gerichts des Landes, sie sind das Getriebe des Rechtsstaates.

Labyrinthische Gänge verbinden die Türen miteinander. Wer Kafkas Prozess gelesen hat, fühlt sich unweigerlich erinnert. Endlose, monotone Flure. Biegt man zweimal ums Eck, ist die Orientierung dahin. Hier war man doch schon mal? Oder etwa nicht? Alles erscheint ident. Der gekachelte Fliesenboden, die weißen Paneele der Leichtbaudecke, die Streifen in Erdtönen an den Wänden, das kalte Licht der Neonröhren.

Der Unterschied? Sieben Jahre Gefängnis

Verhandlungssaal 205: Mit schweißnasser Hand drückt Helmut die Türschnalle nach unten. Die Luft ist trocken. Zaghaft sinkt er auf die Anklagebank. Wie die Nadel einer Nähmaschine hüpft sein Bein auf und ab.

Das Licht der Frühlingssonne fällt auf den bronzenen Bundesadler über der Richterin. Mit gesenktem Kopf schildert ihr Helmut die Geschehnisse jener Nacht, die ihn hierher bringen.

Es ist eine Geschichte wie tausend andere auch. Eine klassische Beisl-Schlägerei. Um was es genau ging, weiß Helmut selbst nicht mehr. Eine Meinungsverschiedenheit. Ein Wort ergab das andere. Schließlich landete Helmuts Faust in Martins Gesicht. Soweit ist er geständig.

Die Richterin muss nun entscheiden, ob Helmut Martins Nase vorsätzlich brach.

Das österreichische Strafgesetzbuch kennt verschiedene Schattierungen der Vorsätzlichkeit. Es macht einen Unterschied, jemandem aus Wut auf die Nase zu schlagen und sie dabei zu brechen, oder jemandem auf die Nase zu schlagen, um sie dabei zu brechen.

Der Unterschied? Sieben Jahre. Sieben Jahre für das Adjektiv „absichtlich“. Steht es im Urteil vor den Worten „schwere Körperverletzung“ sitzt man im Extremfall noch um sieben Jahre länger.

Entscheidungen wie diese werden am Straflandesgericht täglich Dutzende getroffen. Wie eine gigantische Maschine fabriziert das „Graue Haus“ Urteile.

Im vergangenen Jahr waren es 7336. Es urteilt, ob sich Menschen an das Regelwerk der Republik halten. Tun sie es nicht, werden sie bestraft – im Auftrag der Allgemeinheit. Auf dem Förderband des Rechtsstaates werden so aus Bürgern Straftäter.

Personal

Am Straflandesgericht arbeiten 86 Richterinnen und Richter, davon sind 55% Frauen, 17 Schriftführerinnen und Schriftführer, sowie 146 Bedienstete.

Richter-Icons © James Keuning

86 Richter, rund 100 Staatsanwälte sowie knapp 300 weitere Mitarbeiter sind an der Fertigung beteiligt. Meist funktioniert sie schnell und reibungslos, doch manchmal stockt sie. Dann ist die Urteilsfindung schwierig, die Faktenlage diffus, die Wahrheit nicht sofort erkennbar.

Ein schwieriger Fall

Martina Spreitzer ist unschlüssig. Sie verhandelt einen Stock höher - Saal 301. Im Namen der Republik spricht Spreitzer seit 22 Jahren Menschen schuldig. Oder sie spricht sie frei.

Die Richterin ist routiniert. Im Laufe der Jahre hat sie sich auf Suchtgiftdelikte und Schlepperei spezialisiert. Sie kennt das Drogenmilieu wie ihre Westentasche. Besser als so mancher Ermittler.

Doch diesmal fällt es selbst ihr schwer, ein Urteil zu fällen. „Es war wahnsinnig schwierig, eine angemessene Strafe zu finden“, wird Spreitzer – schwarze Robe, brünette Haare, wacher Blick – später sagen. Fragend sitzt sie dem Angeklagten – U-Haftnummer 28464 – gegenüber.

Markus‘ Delikt wiegt schwer, an seiner Schuld besteht kein Zweifel. Zehn Jahre lang hat er in seiner Wohnung Cannabis-Pflanzen gezogen. Die Ernte: 30 Kilogramm. Die Hälfte davon hat er verkauft.

Markus könnte bis zu 15 Jahre ins Gefängnis wandern. So die obere Grenze des Strafrahmens. Der Strafrahmen ist ein Gradmesser dafür, wie gravierend eine Straftat von der Gesellschaft eingestuft wird.

Doch der Fall ist komplexer als er scheint. Gründe für eine mildere Strafe gibt es viele. Spreitzer muss abwägen. Einschätzen, was für alle Beteiligten am gerechtesten ist. Für den Staat, die Allgemeinheit, aber auch für den Angeklagten selbst.

Markus sitzt aufrecht auf dem Stuhl des Angeklagten. Hals und Nacken sind tätowiert, die Haare geschoren. Er trägt schwere Springerstiefel. Das graue Sakko über dem austrainierten Oberkörper wirkt wie eine Verkleidung. Seine Drogenkarriere könnte typischer nicht sein.

„Ich komme aus einem schwierigen Elternhaus, meine Mutter war alleinerziehend, ich bin geschlagen und eingesperrt worden“, sagt er aufrecht. Als Teenager beginnt er Drogen zu nehmen. Erst Cannabis, nach dem Bundesheer Kokain, dann Heroin.

Die andere Seite der Waage

Doch er will weg von den Drogen, entscheidet sich für ein Methadon-Programm. Immer wieder senkt er die Dosis des Substituts – und ersetzt sie mit Cannabis. Viel Cannabis. „Ich war schwer süchtig“, gesteht er. „Was viele, wenn sie hier sitzen, nicht glauben wollen“, wirft Spreitzer anerkennend ein, „sie sprechen es aus.“

Der steigende Bedarf muss besorgt werden. Erst kauft er am Wiener Gürtel. Es reicht nicht, oft ist er mit der Qualität unzufrieden. „Dann habe ich mich blöderweise entschlossen, anzubauen“, sagt Markus. Zwölf Pflanzen wachsen bald in einem Holzkasten in seiner Wohnung.

Diese teilt sich Markus nicht nur mit den Pflanzen, sondern auch mit seiner Freundin. Seit 17 Jahren sind sie ein Paar. „Sie ist mir immer in den Ohren gelegen, ich soll doch damit aufhören“, erzählt Markus. Statt aufzuhören, investierte er weiter in den Anbau.

Mindestens 75.000 Euro setzt er insgesamt um. „Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen“, sagt Staatsanwältin Carina Steindl später in ihrem Plädoyer. Die große Menge wirkt sich „erschwerend“ auf das Urteil aus, wie es Juristen nennen.

Auf der anderen Seite werden sogenannte „Milderungsgründe“ in die Waagschale geworfen. „Ich habe noch nie einen reflektierteren Klienten gehabt“, schwärmt Markus‘ Bewährungshelferin. Keinen einzigen Termin hat er versäumt, selbst krank ist er gekommen.

Auch sein Verteidiger, der Anwalt Arthur Machac, appelliert an die Richterin, die Zukunft seines Mandanten nicht zu verbauen. „Brechen Sie nicht den Stab über ihn“, sagt er und versucht es mit Humor. „Jetzt können die Stecklinge aus dem Kinderzimmer ausziehen und die Kinder einziehen.“ Markus bereue seine Fehler. Er wolle sich ändern, sein Leben wieder in den Griff bekommen. Im „Grünen Kreis“ will er sich therapieren lassen.

Menschliche Entscheidungen

Spreitzer hat genug gehört. Die Richterin zieht sich mit den Schöffen zurück. Gemeinsam werden sie das Urteil fällen. Es ist die ureigene Aufgabe des Richterberufes. Ist Markus‘ Wandlung glaubwürdig? Stellt er weiterhin eine Gefahr für die Gesellschaft dar? Ist eine Haftstrafe angebracht? Wenn ja, welche?

Spreitzers Urteil wird sich auf das Fundament des Rechtsstaates stützen. Trotzdem bleibt es eine persönliche Entscheidung. Wäre Spreitzer ein anderer Mensch, wäre vielleicht auch das Urteil ein anderes.

Das ist menschlich. Das Leben der Richterin hat Auswirkungen auf das Urteil über den Angeklagten. Ihre Sozialisation, ihre Werte, ihre Einstellungen und Erfahrungen. Sie spielen bei jeder menschlichen Entscheidung eine tragende Rolle. Niemand ist davor gefeit.

„Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich“, gibt Artikel 7 des Bundes-Verfassungsgesetzes vor. Der essentielle Grundsatz der Demokratie bleibt Idealbild, eine Entscheidung im Einzelfall kann schwerfallen.

Spreitzer versetzt sich in die Lebensumstände der Angeklagten. „Das Leben kann oft so blöd laufen, du kommst in eine Sucht hinein und findest keinen Weg mehr heraus.“

„Arme Kerle“, wie Spreitzer sie nennt. Die Härte des Gesetzes trifft sie trotzdem. Wie hart es zuschlägt, liegt in Spreitzers Hand.

Die Minuten dehnen sich. Immer wieder blickt Markus auf das Ziffernblatt der Wanduhr. Er wirkt ruhig, beinahe gelassen, als Spreitzer ihn über den knarrenden Lautsprecher zurück in den Gerichtssaal ruft.

Verurteilungen 2016

7336 Urteile

„Ein Zauberurteil“

Markus hat Glück. Das Urteil ist milde: Er muss nur zwei Monate ins Gefängnis. Insgesamt wird er zwar zu 30 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, 28 davon werden aber bedingt ausgesprochen. „Was wir nicht wollten, war, sie aus ihrem Weg herauszureißen“, begründet Spreitzer ihr Urteil. 30 Monate bei einem Strafrahmen von 15 Jahren, das sei „wirklich die absolute Untergrenze“.

„Ein Zauberurteil“, sagt sein Verteidiger. Markus hat sich vor der Richterin „glaubwürdig präsentiert“, als geständiger, bisher unbescholtener Bürger. Sein ordentlicher Lebenswandel floss in das Urteil ein. Auf die schiefe Bahn geraten kann jeder. Spreitzer weiß das nur zu gut.

Im Verwaltungstrakt des Landesgerichts ist das Büro der Richterin. Das Zimmer ist das Gegenteil der grau-braunen Tristesse des Gerichtssaals. An den Wänden hängt moderne Kunst, am Schreibtisch steht eine Figur der Justitia, daneben türmen sich Aktenstapel.

Spreitzer ist keine Richterin, die wie eine Archäologin stundenlang nach juristischen Details gräbt. Ihr eigentlicher Arbeitsplatz ist der Gerichtssaal. „Das Wesen meines Jobs ist das Verhandeln. Meine Stärke ist es, dort zu sitzen und mit Menschen zu sprechen.“ Die Suche nach der Wahrheit.

Im Ring der Verhandlung

Und diese ist längst Routine. Im vergangenen Jahr fällte sie 140 Urteile über 140 Menschen. Wie geht es ihr damit? „Ich verurteile einen Angeklagten nur, wenn ich von seiner Schuld zu 100 Prozent überzeugt bin“, sagt sie. „Im Gerichtssaal habe ich noch nie eine Entscheidung gefällt und sie im Nachhinein bereut. Ich bin nicht als Privatperson dort, ich urteile im Namen der Republik. Nach bestem Wissen und Gewissen.“

Der schwarze Talar, den Spreitzer im Gerichtssaal trägt, steht für diese Wandlung. Wirft sie ihn über, ist sie nicht mehr die gewitzte 49-jährige Martina Spreitzer, dann ist sie Richterin, dann vertritt sie den Rechtsstaat. Die Robe vermittelt Respekt.

„Die Richter sitzen höher als die Angeklagten. Das ist schon ein einschüchterndes Ambiente“, sagt Christina Ratz. Die 34-Jährige ist Staatanwältin am Landesgericht. „Menschen, die vor Gericht stehen, sollen schon begreifen, dass es sich um eine ernste Situation handelt.“

Man kann sich eine Gerichtsverhandlung auch als Boxkampf vorstellen. In der einen Ecke wärmt sich die Staatsanwaltschaft auf. Sie beschuldigt den Angeklagten, eine Straftat begangen zu haben. Auf der anderen Seite des Rings steht der Strafverteidiger des Angeklagten. Er wehrt sich, versucht die Angriffe der Staatsanwaltschaft zu parieren. Der Richter in der Mitte regelt den Kampf. Er greift bei Schlägen unter der Gürtellinie ein, ahndet Fouls, entscheidet wer am Ende gewinnt.

Bis hierher und nicht weiter

Ein besonders spektakulärer Kampf findet hinter Tür 303 statt. Der Fall erzeugt Medieninteresse. Er ist grausam und brutal. Es gibt monströse Täter und ein wehrloses Opfer am Rande der Gesellschaft. Ein gefundenes Fressen für den Boulevard. Als sich die Tür öffnet, brandet das Klicken der Auslöser auf. Die Gesichter der Angeklagten flackern im Blitzlichtgewitter.

Staatsanwältin Katharina Wehle schildert trocken den Tathergang. Alles beginnt harmlos. Die drei Freunde Claus, Goran und Thomas gehen aus. Jungen Männer, fast noch Kinder, auf Tour durch Wien. Sie spielen im Casino, gehen in Bars, trinken Bier und Schnaps.

Als einer von ihnen vorschlägt, bei ihm zu Hause weiter zu feiern, besteigen sie gegen ein Uhr nachts die Schnellbahn am Wiener Praterstern. In der liegt ein Mann, das spätere Opfer, über zwei Sitze und schläft. Die Burschen machen sich einen Spaß, wecken ihn, brüllen: „Fahrscheinkontrolle“.

Bis hierher ist ihr Verhalten begreifbar. Ein pubertärer Scherz. Die Gesellschaft versteht und toleriert das. Doch was dann passiert, übersteigt die Vorstellungskraft des Durchschnittsbürgers. Die Jugendlichen übertreten eine Grenze. Es ist die Grenze zur Illegalität.

Für all ihre weiteren Handlungen hat die Gesellschaft kein Verständnis mehr. Sie findet sie moralisch so verwerflich, dass sie sich darauf geeinigt hat, sie hart zu bestrafen. Wie hart entscheidet die Richterin – im Namen aller.

Die Sinnlosigkeit der Tat

Als der Obdachlose erschrocken hochfährt, knallt ihm Claus den eingegipsten Arm ins Gesicht. Auch die anderen schlagen zu. Wie oft können sie später nicht mehr sagen. Sie geraten in Rage, stacheln sich gegenseitig auf.

Schlussendlich folgt Claus dem Mann aus dem Zug und stößt ihn zu Boden. Vier Mal tritt er ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Die Staatsanwältin lässt die Bilder der Überwachungskamera auf die Wand des Gerichtssaals werfen. Wie von Sinnen holt er immer wieder aus und tritt zu. Die Tat ist an Brutalität kaum zu überbieten. Der junge Mann könnte auch als Mörder auf der Anklagebank sitzen.

Doch das Opfer lebt. „Herr P. hatte Glück. Solche Tritte können natürlich auch tödlich enden“, sagt der Gerichtsgutachter. Akribisch listet er P.s Verletzungen auf: offener Nasenbeinbruch, Jochbeinbruch, Rissquetsch- und Platzwunden im Kopfbereich, zerfetztes Gewebe am Arm, Hämatome um die Augen.

Die Angeklagten starren auf den Boden. Die Sinnlosigkeit ihrer Tat macht sie so schwer begreifbar. Es gab kein Motiv. Sie wollten kein Geld, sie wollten sich nicht rächen. P. hat ihnen nichts getan. Er war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Frage nach dem Grund schwebt unbeantwortet im Raum. Sie ist aber wichtig. Sie beeinflusst das Urteil.

Verfahren 2016

Österreich

Wien

Icons © James Keuning, parkjisun

Österreich: 19.600 Verfahren vor einem Einzelrichter, 3000 vor einem Schöffensenat, 200 vor einem Geschworenengericht.

Wien: 6000 Verfahren vor einem Einzelrichter, 1000 vor einem Schöffensenat, 50 vor einem Geschworenengericht.

Suche nach der Antwort

Die Strafverteidiger suchen die Antwort in der Geschichte der Täter. Ihre Biografien lesen sich ähnlich. Schwieriges soziales Umfeld, Gewalt in der Familie, Abbruch der Ausbildung, Arbeitslosigkeit, Alkoholmissbrauch, Drogen. Einer der Angeklagten kann, trotz Pflichtschulabschluss, nicht schreiben und lesen.

„Ich war frustriert“, sagt Claus. „Ich konnte die Ausbildung als Barkeeper nicht fertig machen, weil ich mich an der Hand verletzt habe und einen Gips bekommen habe.“ Mit Alkohol hätte er den Frust hinuntergespült. „Und immer wenn ich trinke, verliere ich alle Hemmungen.“

Doch Frust und Alkohol entschuldigen Gewaltausbrüche nicht. Auch die Lebenssituation der Burschen kann nur teilweise in das Urteil einfließen.

Angesichts des schwerwiegenden Verbrechens kommen sie glimpflich davon. Thomas kann mit einer teilbedingten zehnmonatigen Strafe nach Hause gehen, Goran muss sieben Monate, Claus ein Jahr ins Gefängnis.

Die härteste Sanktion des Rechtsstaates

Als die Justizwachbeamten die beiden in Handschellen abführen, blicken sie zu ihren Familien im Publikum. Gorans Mutter weint, sein Vater versucht krampfhaft zu lächeln. Trotz milder Urteile, sind alle Beteiligten geschockt. Der Rechtsstaat hat gesprochen. Und er hat sich für Haftstrafen ausgesprochen.

Haftstrafen sind die härtesten Sanktionen, die der Justiz zur Verfügung stehen. Sie isolieren Menschen von der Außenwelt. Die Insassen verlieren ihr soziales Netz, ihre Arbeit, den Kontakt zu ihren Familien, Partnern, Freunden.

Im Gefängnis müssen sie strikte Regeln befolgen. Ihr Alltag ist von morgens bis abends getaktet. Alles ist vorgeschrieben. Wann sie aufs Klo gehen, wann sie essen, wann sie schlafen.

Viele erkranken an Depressionen. In Deutschland nehmen sich jährlich knapp hundert Menschen im Gefängnis das Leben. Für Österreich gibt es keine Zahlen.

Ist die Haftstrafe zeitgemäß? Ist es nicht ziemlich reaktionär, Menschen wie im Mittelalter wegzusperren, sobald sie sich nicht an unsere Regeln halten? Friedrich Forsthuber denkt nach. Er ist der Präsident des Straflandesgerichts, der Chef im Haus.

Sein ausladendes Büro ist stilvoll möbliert. Dunkler Holztisch, Luster, üppige Topfpflanzen. Die prunkvollen Fenster schauen hinunter auf die Landesgerichtsstraße. „Das ist eine rechtsphilosophische Frage“, sagt er und lehnt sich zurück. „Die gefängnislose Gesellschaft ist eine Utopie. Es wird immer Leute geben, die wir in einem humanen Staat in Haft nehmen müssen.“

Die wichtigste Funktion der Strafe sei die Resozialisierung. Aber natürlich gehe es auch um Abschreckung und dem Schutz vor den Straftätern. „Wenn jemand fünf Kinder vergewaltigt, fällt uns allen nichts anderes ein, als diesen Menschen entsprechend lange in Strafhaft zu bewahren“, sagt Forsthuber. Grundsätzlich sei Haft aber das letzte Mittel des Rechtsstaates.

Reibungslose Fertigung

„Seit 2010 kommt die Diversion immer öfter zur Anwendung. Das ist eine sehr sinnvolle Methode, einen Prozess zu vermeiden.“ Bei der Diversion verzichtet die Staatsanwaltschaft auf ein Verfahren. Im Gegenzug müssen die Beschuldigten gewisse – meist gemeinnützige – Leistungen erbringen. „Menschen, die man früher vielleicht einige Wochen ins Gefängnis gesteckt hätte, können so ihre Schuldigkeit sinnvoller tun“, sagt Forsthuber.

Diversion kommt für Nikolai nicht in Frage. Der 23-Jährige steht aufrecht in Saal 102 und versteht kein Wort. Wie eine Maschine rattert die Richterin Paragrafen herunter, reiht Schachtelsätze aneinander, bringt Tatbestand und Milderungsgründe vor. Irgendwo dazwischen fallen die Worte, um die es hier heute eigentlich geht. Die Worte „achtzehn Monate unbedingt“.

Nikolai hört sie, nachvollziehen kann er sie nicht. Er versteht kein Deutsch. Auch der Dolmetscher ist sich nicht sicher. Zaghaft fragt er nach: „Achtzehn Monate unbedingt?“ Die Richterin nickt. Der Dolmetscher übersetzt. Nikolai erfährt sein Urteil als letzter im Raum.

„Ganz schön hoch“, murmelt ein Justizwachbeamter dem Strafverteidiger zu. Dieser winkt ab. „Für Heroinhandel kannst du auch zehn Jahre bekommen.“

20 Minuten dauerte die Verhandlung. Der Fall wurde schnell abgefertigt. Das Förderband des Rechtsstaates stockte nicht.

Verurteilungen 2016

Die meisten Verurteilungen wurden im Oberlandesgerichtssprengel (OLG-Sprengel) Wien mit 42,8% ausgesprochen, gefolgt von den OLG-Sprengeln Linz mit 22,4%, Graz mit 21,1% und Innsbruck mit 13,7%.

Anders als in dem Prozess von Markus, war die Sache in den Augen der Richterin von Beginn an klar. „Das ist Kriminalitätstourismus“, warf sie Nikolai vor. Der Serbe kam Anfang Jänner nach Wien. Am elften Tag seines Aufenthalts verkaufte er Heroin im Wert von 4.000 Euro. Das Problem: der Käufer war verdeckter Ermittler der Wiener Polizei.

Nikolais Erklärungsversuche prallten an der Richterin ab. Sie stellte wenige Fragen, machte kurzen Prozess. Fälle wie diesen gäbe es oft. Das Strafmaß sei relativ klar, so die Richterin.

Haft & Gefängnis

Die Justizvollzugsanstalt Josefstadt ist das größte Gefängnis in Österreich. Hier sind im Schnitt 1200 Häftlinge untergebracht, davon 900 Untersuchungshäftlinge.

Icon © James Keuning

Gleiche Delikte, unterschiedliche Menschen

Drogenhandel, Sexualverbrechen, Körperverletzung, Diebstahl, Mord. Die Delikte, die am Landesgericht verhandelt werden, sind immer die gleichen. Die Menschen vor Gericht sind es jedoch nicht. Ihre Motive und Lebensläufe sind verschieden. Ihr Verhalten ist nie vorhersehbar. Der muskulöse Autoschieber mit den tätowierten Unterarmen bricht in Tränen aus. Der 19-jährige Kleindealer schreit die Richterin mit hochrotem Kopf an. Die Ladendiebin beschließt beinhart zu schweigen.

Und wie sich die Angeklagten voneinander unterscheiden, unterscheiden sich auch die Richterinnen und Richter. Manche schimpfen mit Steuerhinterziehern wie mit Kindern, manche üben sich in Engelsgeduld, andere sind ironisch wie Kleinkünstler. Diese ist für ihre Strenge bekannt, dieser für seine Milde.

„Kennen Sie den Richter?“, fragt ein Beschuldigter seinen Anwalt vor Saal 104. Der zuckt die Schultern. „Ich kann ihn schwer einschätzen. Er urteilt aber eher hart.“ Szenen wie diese sind im Landesgericht gang und gäbe.

Oszillierende Urteile

Oszillierende Urteile sind jedoch kein Zeichen dafür, dass der Rechtsstaat nicht funktioniert. Die Gesellschaft hat sich auf Strafrahmen geeinigt. Innerhalb diesen entscheiden Menschen. Sie wurden dafür ausgebildet. Sie repräsentieren den Rechtsstaat. Ein besseres System ist der Demokratie bisher noch nicht eingefallen.

Schräg vis-á-vis der Festung Straflandesgericht sitzt Leonhard Kregcjk im Café Bendl und wirft eine Münze in die Jukebox. Die Stimme von Johnny Cash erfüllt den Raum. Kregcjk ist einer jener Menschen, die darum bemüht sind, die Folgen strafgerichtlicher Verfolgung so gering wie möglich zu halten.

Kregcjk ist Strafverteidiger. Er verteidigt seine Klienten vor der Hoheitsgewalt des Staates - und zwar aus Prinzip. „Ich vertraue den Menschen“, sagt er. Dabei mache er keinen Unterschied, ob jemand „gut“ oder „böse“, ein geistig abnormer Rechtsbrecher, ein Dieb oder ein Drogendealer sei. „Ich helfe jemandem, sein Recht zu wahren. Die Geltendmachung der eigenen Rechte ist kompliziert, das kann ein Laie nicht.“

Arbeit mit Idealismus

Spricht Kregcjk über seine Arbeit, schwingt Enthusiasmus mit. Seine Berufswahl war ideologisch geprägt. „Jeder hat das Recht auf einen fairen Prozess“, sagt er. Deshalb spezialisierte er sich auch auf das Strafrecht. „Im Wirtschaftsrecht wäre mehr Geld zu holen. Privatpersonen sind nicht immer so liquide. Ich vertrete sie aber lieber.“

Wie Spreitzer ist auch Kregcjk an der Wahrheit interessiert. Doch am Ende des Verfahrens entscheidet stets der Richter, welchen als wahr erachteten Geschehensablauf er seinem Urteil zugrunde legt. „Ich muss nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheiden. Das macht der Staat, das macht der Richter.“

Diesem sitzt Rene in Saal 101 gegenüber. Schon wieder. Er kennt das Gefühl. 13 Mal wurde er bereits rechtskräftig verurteilt. Einbruch, Diebstahl, Suchtmittel, Hehlerei, Verstoß gegen das Waffengesetz, gefährliche Drohung. Der 42-Jährige scheint die Paragrafen des Strafrechtskatalogs regelrecht zu sammeln.

Profi oder Stümper?

Diesmal muss sich Rene wegen Diebstahl verantworten. Er soll Werkzeuge von Baustellen gestohlen und im Internet verscherbelt haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm schweren, gewerbsmäßigen Diebstahl vor. Drei Jahre Haft könnte er ausfassen.

Einen Anwalt kann sich Rene nicht leisten. Das Arbeitslosengeld reiche kaum zum Leben. Doch das Gesetz garantiert gleiches Recht für alle „und zwar unabhängig davon, ob Sie ein Verfahrenshelfer vertritt oder fünf großzügig honorierte Anwälte“, sagt Forsthuber.

Deswegen gibt es das Instrument der Verfahrenshilfe. Wer keinen eigenen Anwalt zahlen kann, bekommt einen zugeteilt. In Wien trifft dies laut Forsthuber auf 85 Prozent aller Fälle zu.

Heute ist Leonhard Kregcjk Renes Helfer. In Absprache mit ihm bekennt er sich teilweise schuldig. Er habe zwar die Geräte gestohlen, doch den Wert, auf den sie geschätzt werden, zweifelt er an. Für die Staatsanwältin ist die Sache klar: „Hier haben wir es mit einem Profi zu tun.“

Kregcjk sieht das anders. „Vor Ihnen sitzt ein Stümper“, sagt er. Denn besonders schlau sei es nicht gewesen, das Diebesgut auf einer Online-Plattform zu verhökern. „Das Geständnis, das er heute abgelegt hat, muss ein wichtiger Milderungsgrund sein“, führt Kregcjk weiter aus.

Nach knapp einer Stunde ist die Verhandlung vorbei. Rene steht am Gang vor dem Gerichtssaal. Der Richter hat ihn schuldig gesprochen. Die Strafe: acht Monate bedingt. Ins Gefängnis muss er also nicht. „Ich bin froh, dass es vorbei ist“, sagt Rene und grinst. Kregcjk hat ihn vor seiner 14. Haftstrafe bewahrt. Der Anwalt ist zufrieden. Es hätte kaum besser laufen können.

Die Last eines Adjektivs

In Verhandlungssaal 205 läuft es nicht ganz so geschmiert. Mit gesenktem Kopf starrt Helmut auf die Tischplatte. Er schafft es nicht, klare Gedanken zu fassen. „Wenn Sie glauben, dass Sie hier lügen können und nichts zur Aufklärung des Falls beitragen müssen, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Sie eine Haftstrafe bekommen“, unterbricht die Richterin seine Konzentration.

Helmut hat sich in Widersprüche verstrickt. Seine Hände zittern. Jedes falsche Wort kann ihn jetzt ins Gefängnis bringen. „Also“, versucht es die Richterin noch einmal, „haben Sie jetzt als erstes zugeschlagen oder nicht?“ Helmut nickt. „Ich glaube schon. Ich war so betrunken.“

Helmut wird nach der Verhandlung durch die monotonen Flure des Landesgerichts schlendern. Er wird die Treppen nach unten steigen, das Wachpersonal grüßen, das Gebäude über die Wickenburggasse verlassen. Er wird seine Frau umarmen und sie auf einen Kaffee einladen. Er wird die ersten Schritte seiner Tochter sehen. Er wird dienstags weiterhin Fußball spielen. Helmut hatte Glück. Das Adjektiv ist nicht gefallen.

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