Einmal heilige Ruhe

und zurück

Mit Allerheiligen ist „Badeschluss“, wie Fiaker Christian Schuh es nennt, für seine Fiakerfahrten durch den Wiener Zentralfriedhof. Es sind Fahrten vorbei an Denkmälern, wildromantischen Grabstätten und hinein in die Ruhe, die ihm heilig ist.

Text: Petra Tempfer & Jan Michael Marchart

Fotos: Luiza Puiu

Gestaltung & Produktion: Cornelia Hasil

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Dann ist der Termin beim Fiakerstand hinter Tor 2 des Zentralfriedhofs in Wien-Simmering endgültig überschritten. Wir sind zu früh, wir sind ungeduldig.

Die herbstliche Kälte kriecht in Finger- und Zehenspitzen, es nieselt. Hat Fiaker Christian Schuh womöglich auf uns vergessen? Ein nervöser Blick auf die Uhr, ein entschlossener Griff zum Handy, ein hektisches Telefonat.

„Gemach, gemach“, sagt Schuh, als er fast zeitgleich mit seiner tiefblauen Kutsche, gezogen von zwei braunen Pferden, um die Ecke biegt. Das gleichmäßige Hufegeklapper beruhigt. Es fügt sich in den Nebel, der in den welken Blättern und über den Gräbern hängt.

„Mich sieht die Ringstraße nicht mehr“

Für Schuh ist seine Arbeit aber alles andere als morbid. Der 52-Jährige, der seit 43 Jahren „bei d‘Ross“ ist, wie er in breitem Wienerisch erzählt, schätzt am Zentralfriedhof vor allem eins: die heilige Ruhe.

„Ich bin 21 Jahre lang in der Stadt gefahren. Mich sieht die Ringstraße nicht mehr“, sagt er, schnalzt mit der Zunge, und die Kutsche fährt los.

Hier, inmitten der rund 330.000 Gräber auf dem 250 Hektar großen Friedhofsgelände, seien Pferde und Menschen ruhig. „Jede Jahreszeit ist schön“, schwärmt Schuh, während er sich eine Zigarette anzündet, die mattschwarze Melone richtet und seinen Blick vom Kutschbock aus über die Alleebäume schweifen lässt.

Im Sommer zum Beispiel seien die Blätter ganz dicht, ideal für die Pferde, die dann immer Schatten hätten. Am Herbst schätzt er vor allem die Farben.

Mit Allerheiligen sei allerdings „Badeschluss“, wie Schuh es nennt, dann kommen die Pferde bis 1. April auf die Koppel. Derzeit stünden 13 Pferde im nahe gelegenen Stall in der Simmeringer Hauptstraße.

Seit vier Jahren fahren sie mit Touristen und Wienern durch den Wiener Zentralfriedhof, nachdem der Unternehmer und Fiaker Frank Ferdinand Paul Wulf die Idee dazu geboren hatte.

An sechs Tagen pro Woche (außer Dienstag) kann man nun zwischen einer halbstündigen Runde um 50 Euro pro Kutsche und der längeren Variante um 80 Euro wählen, die ungefähr eine Stunde lang dauert.

Mit der Betonung auf ungefähr. Denn Schuh trägt nicht einmal eine Uhr, wie er sagt. Auf den Rundfahrten könne er so viele Geschichten erzählen, „do red‘st di schwindlig“. Da kann eine große Runde schon einmal eineinhalb Stunden lang dauern.

„Der Udo hat den Falco aus‘bremst“

„Links liegt der Beethoven, rechts Franz Schubert, dahinter die ganze Strauss-Dynastie“, sagt Schuh und deutet in die jeweilige Richtung. Und weiter: „Maxi Böhm, Helmut Qualtinger, die liegen alle da.“

Beim Grab des im Vorjahr verstorbenen Sängers und Komponisten Udo Jürgens – ein Flügel, der von einem weißen Marmortuch umhüllt ist – dreht er sich auf seinem Kutschbock nach hinten um und sagt: „Der Udo, der hat den Falco aus‘bremst. Vorher wollten s‘ alle zum Falco, jetzt zum Udo.“

Zwei Friedhofsgärtner grüßen. „Servas“, sagt Schuh. Er kenne sie alle hier. Die Gärtner, die Totengräber.

Hin und wieder spannt Schuh selbst die Pferde vor einen Konduktwagen und fährt bei Begräbnissen mit. Nur die drei Millionen Toten des Zentralfriedhofs, die kenne er freilich nicht einzeln beim Namen, sagt er. „Wenn ich alle Gräber auswendig könnt‘, wär‘ ich Bundespräsident oder Universitätsprofessor.“

Mausoleum zu verkaufen

Der Zentralfriedhof ist der zweitgrößte Friedhof Europas. Täglich finden hier zwischen zwölf und 20 Begräbnisse statt, und pro Jahr werden rund 2500 Gräber aufgelöst.

Nur der Ohlsdorf-Friedhof in Hamburg in Deutschland ist größer. Die Stadt Wien verwaltet noch 45 weitere Friedhöfe – sie alle zusammen seien so groß wie „der hier“, sagt Schuh, während er mit der Peitsche in die Ferne deutet und die Pferde an den Gräbern der Ex-Kanzler Julius Raab und Leopold Figl vorbei lenkt. Da drüben das Mausoleum, das sei zu kaufen.

Liverpool, das rechte der zwei Pferde, schert kurz aus, weil ein Gärtner zwischen den Gräbern auftaucht. Schuh brummt beruhigend. „Die Stadt wäre nichts für ihn“, sagt er, „und für mich auch nicht.“

Er kennt keine Eile. Schon gar nicht, wenn es durch den alten jüdischen Friedhof geht. Jenes Areal, das ihm mit seinem wildromantischen Flair am liebsten ist. „Des hot scho wos, des Jüdische.“

Der alte jüdische Friedhof erstreckt sich vom 1. bis zum 11. Tor, erst 1917 kam der neue jüdische Friedhof bei Tor 4 dazu. Damals, 1874, als der Zentralfriedhof eröffnet wurde, hatte die jüdische Gemeinde den alten Teil um 60.000 Gulden gekauft. Seitdem ist er in Privatbesitz.

Grabsteine für den Straßenbau

Die umgestürzten Grabsteine, die die Stadt Wien normalerweise schreddert und für den Straßenbau verwendet, bleiben liegen, bis sie von Gras umwuchert werden. Hier spürt man den Tod in seiner urtümlichsten Form.

Die Vergänglichkeit alles Irdischen – und die Macht der Natur. Diese älteste Abteilung des Zentralfriedhofs sei nämlich auch die lebendigste, so Schuh.

Rehe, die Menschen und Hunde nicht fürchten müssen, Hasen und Füchse habe er schon gesehen. Hamster und Eichhörnchen.

Morsche, umgestürzte Baumstämme säumen den Weg. „Beim Sturm host do nix verlurn“, sagt Schuh. Seine Worte verhallen. Danach hört man nur noch das Klappern der Hufe. Hier will selbst Schuh nichts mehr erzählen. Nun ist es die Stille, die ihren Part übernimmt.

Blumenräuber und Grabschänder

Vor zwei Jahren hätten Grabschänder hier gewütet, erzählt Schuh später. Am restlichen Friedhof würden vor allem um Allerheiligen herum Kränze gestohlen und Blumen geraubt.

Viel gebe aber ohnehin nicht mehr zu holen. Früher habe man auf „a schene Leich‘“ gespart. „Des gibt’s heit nimmer.“

Nur wenige Angehörige kämen zu den Gräbern, sagt Schuh. Die meisten hätten kaum Zeit.

Zuletzt, „bei der 40er Gruppe“, wo auch ein Mahnmal für die Bombenopfer der Jahre 1944 und 1945 steht, habe es sogar einen Autounfall mit zwei Totalschäden gegeben, weil die Fahrer so gerast seien. Und das, obwohl die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit auf dem Friedhof eigentlich bei 20 Stundenkilometern liegt.

„Heute muss immer alles schnell, schnell, schnell gehen. Aber Nerven gespart ist auch Geld verdient“, meint Schuh und richtet sich bedächtig auf seinem Kutschbock auf.

Gebührenfreie Baby-Gräber

Nichts als ein Holzkreuz oder ein Schild markieren die Armengräber. Jeder habe zwar das Recht, begraben zu werden, so Schuh – bis zu mehrere tausend Euro für Sarg und Begräbnis habe man aber „nicht so einfach daheim liegen“.

Wie ein schriller Kontrast dazu wirken die unzähligen Gräber des Babyfriedhofs für Totgeburten.

Bunte Windräder und Stofftiere stecken in den kleinen Erdhaufen. Die gebührenfreien Grabstätten sind ein Angebot an jene Eltern, die ihr Kind nicht in einer eigenen Familiengruft beerdigen können.

Schuh selbst fährt jeden Tag an seinem Familiengrab vorbei. Seine Eltern und die Schwester seien in der 9er Gruppe begraben, sagt er, während er in die Allee zurück zum Fiakerstand einbiegt.

Die Blätter wirken jetzt bunter als vorher. Der Nebel scheint verflogen. Vielleicht liegt es daran, dass der Wiener Zentralfriedhof etwas von seiner Melancholie verloren hat.

Und an der Erkenntnis, dass er fernab von Trauer und Tod, die freilich unweigerlich mit ihm verbunden sind, auch die Kraft der Stille schenkt.

Die Pferde kommen zum Stehen. Schuh steigt vom Kutschbock und zündet sich eine Zigarette an.

Auf der anderen Seite des Tores hört man den Autolärm Richtung Stadt und die einfahrenden Straßenbahnen. Die Hektik hat uns wieder. Schuh lächelt. „Gemach, gemach“, sagt er und lüpft den Hut.

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Eine Kutschenfahrt ins Totenreich

Fiakerfahrten finden von April bis November täglich außer Dienstag von 10 bis 17 Uhr statt. Reservierungen unter: +43 (0) 699-181 540 22