Zweimal in der Woche fährt ein Zug aus dem österreichischen Villach in das türkische Edirne. Dutzende Menschen begeben sich dabei auf eine lange Fahrt ohne Zwischenstopps.
„Das ist hier ja wie ein historisches Artefakt“, sagt die Abteilsgenossin beim Betreten ihrer Unterkunft mit einem Augenrollen auf Türkisch. Zusammen mit ihrem Mann, beide sind in ihren 60ern, teilen wir uns zu dritt ein Abteil für die nächsten zwei Tage. Dass die restlichen drei Plätze frei sind – eigentlich sind die meisten Abteile im Zug für sechs Personen gedacht –, lässt Vorfreude aufkommen. Auch dass „Dürdane Teyze“ (türkisch für Tante Dürdane) keine Scheu hat, gleich mal das Offensichtliche anzusprechen, macht sie auf Anhieb sympathisch.
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Zwar ist im Großen und Ganzen alles sauber, überraschenderweise vor allem die Toiletten, dennoch wirkt alles abgenutzt und in die Jahre gekommen. Positiver formuliert könnte man auch sagen: Der Zug hat „Vintage-Charm“ und versprüht „nostalgisches Flair“. Der eine oder andere Griff ist vergilbt, die Flecken und Verfärbungen auf den blaugemusterten Stoff-Liegen lassen vermuten, dass hier schon viele Menschen gelegen haben. Und auch die technischen Standards scheinen nicht ganz im Jahr 2023 angekommen zu sein. WLAN wird zwar versprochen, funktioniert aber nur teilweise. Ähnlich sieht es bei den Steckdosen aus. Ein noch lebendiges Relikt aus vergangenen Zeiten ist die Raucherzone. Zigarettenqualm in einem kommerziellen Verkehrsmittel? Boomer werden sich noch daran erinnern können. Ebenso das Land, in dem die Waggons produziert wurden: der DDR. Ein Stück Geschichte steckt auch in vielen Gästen dieses Zuges. Aber alles der Reihe nach.
Zweimal schlafen und in der Türkei aufwachen
Rund zwei Kilometer vom Hauptbahnhof Villach entfernt beginnt die Reise. Am Terminal 2, einem Ort, wo sonst nicht viel ist außer ein paar Gleisen und ein bisschen Beton, ist an diesem Samstagabend ganz schön viel Trubel. Ungeduldig warten viele Menschen darauf, endlich in den Zug einzusteigen. Koffer, Taschen und sogar Hunde warten darauf, loszufahren. „Wir sind schon seit drei Uhr nachmittags hier, weil wir nicht einschätzen konnten, wie schlimm der Verkehr sein würde“, erzählt mir ein älteres türkischstämmiges Pärchen. Sie sind, wie viele der Passagiere, mit dem Auto aus Deutschland für die Zugreise nach Villach angereist. Die Direktlinie von Optima-Express ist nämlich ein Autoreisezug, viele der Passagiere reisen samt ihrem Fahrzeug.
Nachdem das Einladen der Autos und Motorräder in die Transportwaggons abgeschlossen ist, ertönt kurz vor zehn Uhr Abend schließlich die Ansage, die zum Einsteigen in den Zug auffordert – und erklärt, dass man bitte doch auf das Gleis auf der gegenüberliegenden Seite hinübergehen soll. Auch wenn danach für einen kurzen Moment Massenpanik ausbricht, schaffen es nach ein paar Minuten dennoch alle Passagiere, ihre Plätze einzunehmen und der Zug fährt plangemäß um 21:32 Uhr in Richtung Türkei los.
Zweimal schlafen und ohne Umsteigen in der türkischen Grenzstadt Edirne aufzuwachen, ist das Ziel. Dafür werden nacheinander Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien und Bulgarien durchquert.
Ab Serbien, wo wir nach der ersten Nacht ankommen, gibt es bei jedem Grenzübergang ausführliche Reisepass-Kontrollen. „Dobro jutro“. Ein strammer, hochgewachsener Grenzbeamter mit gleichgültiger Miene sammelt die Pässe der Passagiere an der serbischen Grenze ein und nimmt sie, ohne ein Wort zu sagen, nach draußen mit. Löst das bei der ersten Grenzkontrolle noch ein mulmiges Gefühl aus, normalisiert sich das offenbar gängige Prozedere bei jedem Mal ein Stück mehr. An der bulgarischen Grenze, wo wir etwa um zwei Uhr nachts ankommen, und ein junger, genervter Grenzbeamter uns aufweckt, indem er mit seiner Taschenlampe direkt in unsere Gesichter leuchtet, ist es mir zugebenermaßen sogar fast egal.
Abgesehen von den Grenzen hält der Zug in den Bahnhöfen in Belgrad, Niš und Sofia. Statt Fahrgastwechsel – die Halte dienen auch den Zugreisenden nur als kurze Gelegenheit, an die frische Luft zu gehen, und Hundebesitzer:innen, eine Gassi-Runde einzulegen – heißt es bei diesen Stopps aber Lokwechsel. Im serbischen Niš etwa von Elektro auf Diesel, da es zur bulgarischen Grenze auf einer nicht-elektrifizierten, eingleisigen Bahnlinie weitergeht.
Und? Ist es auch das erste Mal mit dem Zug?
Den nächsten Tag fährt der Zug durch das Nišava-Tal. Ich habe viel Zeit, um die Landschaft aus dem Fenster zu betrachten, die sich mit jedem Kilometer verändert, und die Häuser, die sich von Ort zu Ort unterscheiden. Ich überlege, wie langsam ein Zug eigentlich fahren kann – die durchschnittliche Geschwindigkeit beträgt 40 km/h. Und ich rede mit meinen Mitreisenden. Die Gespräche starten meist ähnlich – ob in den schmalen Gängen, wo alle paar Meter Menschen stehen, die aus den Fenstern schauen, in der Raucherzone, die im Grunde nur aus einem Küchentresen und einem Tisch in der Mitte besteht, oder im angrenzenden Restaurantbereich, einem mit Holz ausgekleideten Waggon, der mit Tischen sowie blaugemusterten Stoff-Sitzen ausgestattet ist. Letzterer bildet den Mittelpunkt des sozialen Geschehens im Zug.
„Und? Ist es auch das erste Mal mit dem Zug?“ Bei vielen lautet die Antwort ja.
„Urlaub beginnt für mich im Zug“
Nicht so bei Ismail Güler und Ahmet Vural. Die beiden End-Fünfziger schauen verträumt aus dem Fenster, bevor sie mich mit einem „Kaffee? Den brauchst du nicht zu kaufen, den kriegst du auch bei uns“ einladen. Neben Instant-Kaffee ist das Abteil der Vierer-Gruppe auch mit selbstgemachtem Börek, gefüllten Weinblättern, Marillen, Haselnüssen und noch vielem mehr – ja sogar mit einem Minikühlschrank, der mittels Akkupack betrieben wird – ausgestattet. „Nimm ruhig, wir haben mehr als genug“, insistieren auch die Ehefrauen der beiden.
Alle vier wohnen in der Gegend von Frankfurt und sind, wie die meisten der Zuggäste, samt Auto aus Deutschland angereist. Miteinander verbunden sind die beiden Pärchen durch die Heirat ihrer Kinder. „Aber wir sind mittlerweile auch gute Freunde“ betonen sie. Das siebte, oder vielleicht auch schon das achte Mal – so genau kann sich niemand mehr erinnern – macht die Gruppe die Zugreise miteinander. „Eigentlich sagen wir jedes Jahr, dass es das letzte Mal ist. Aber im Jahr darauf sitzen wir wieder in diesem Zug“, sagt Ahmet Vural lachend.
Eigentlich sagen wir jedes Jahr, dass es das letzte Mal ist.
Der große Vorteil der Reise ist für die Vier, dass man das Auto mitnehmen kann. Denn in der Türkei ist es für sie unverzichtbar. Denn eines dort zu mieten, sei teurer, als das eigene mit dem Zug mitzunehmen. Für das Auto zahlt man im Schnitt einen Aufpreis von etwa 500 Euro. Außerdem, so Güler und Vural, könne man mit dem Zug mitnehmen, was und so viel man wolle. „Die Reise ist zwar lang, aber dafür beginnt der Urlaub für mich, sobald ich in Villach in den Zug einsteige“, sagt Güler. Früher seien sie immer mit dem Auto in die Türkei gefahren. „Das war schon echt eine Tortur. Damals waren die Kinder auch noch klein, die Wege viel schlechter“, erklären Vural und Güler. Mit fortschreitendem Alter aber hätten sie keine Lust mehr, so lange selbst Auto zu fahren, da sei die Zugfahrt viel angenehmer.
Damals, das ist bei den Vieren übrigens vor mehr als dreißig Jahren. Die gebürtigen Türken kamen in den 80ern nach Deutschland, um dort zu arbeiten. „Ich wollte eigentlich nur genug Geld sparen, um mir einen Lkw zu kaufen. Ich dachte, damit könnte ich mir dann ein Geschäft aufbauen und wieder in die Türkei zurückkehren“, schwenkt Ismail Güler, der als Automechaniker anfing und seit 1993 als Installateur in Deutschland arbeitet, das Gespräch bald in eine andere Richtung. „Als man mich vor 20 Jahren gefragt hat, sagte ich immer, dass ich froh bin, nach Deutschland gekommen zu sein. Heute bin ich mir manchmal nicht so sicher“, führt Vural, wehmütig aus dem Fenster in die Ferne blickend, weiter aus. Von Jahr zu Jahr vermisse er seine Heimatstadt immer mehr. Tekirdağ, eine Hafenstadt am Marmarameer in Ostthrakien, ist der Sehnsuchtsort. Von Edirne, der Enddestination des Zuges, ist dieser nur zirka 150 Kilometer entfernt. Die nächsten fünf Wochen werden sie dort verbringen.
Diaspora als Hauptzielgruppe
Türkeistämmige Menschen bilden einen Großteil der Gäste des Optima Express. Die Diaspora scheint auch Hauptzielgruppe der Optima Tours GmbH mit Betriebssitz in München zu sein. Anstatt die lange Fahrt selbst mit dem Auto zu absolvieren, bevorzugen viele die Bequemlichkeit der Liegeabteile des Zuges. Seit 1992 bietet Optima Express Autoreisezugfahrten an. Derzeit ist die Saison auf die Zeit zwischen April und November beschränkt. „Unsere Kund:innen reisen fast ausschließlich mit Autos, Motorrädern oder Fahrrädern. Nur eine geringere Anzahl der Kunden reist mit unseren Zügen ohne Fahrzeug“, heißt es auf Anfrage. Laut Optima Tours entscheiden sich pro Jahr um die 10.000 Passagiere für den Direktzug.
Doch auch abseits der türkischen Diaspora stößt die Autoreisezugfahrt auf Interesse. Es ist ein buntes Potpourri, das von Schweizer Frauen-Runden (sie sind Teil eines Chors, der in Istanbul einen Auftritt hat), Motorrad-Enthusiasten (sie wollen innerhalb von fünf Wochen den Weg wieder zurück nach Deutschland fahren) bis zu „gewöhnlichen“ Familien reicht. Ruslan Gamsari ist etwa aus dem bayrischen Oberfranken, gemeinsam mit seiner Frau und den zwei Kindern, für die Zugreise nach Villach angereist. „Zum einen wollten wir etwas Neues ausprobieren, zum anderen spielte auch der Klimaaspekt eine Rolle. Wir wollen nicht so viel fliegen, wenn es denn auch mit der Bahn geht“, begründet der Arzt, wieso sie diese lange Reise auf sich genommen haben. „Und natürlich wollten wir auch die Möglichkeit nutzen, unser Auto mitzunehmen“, fügt er noch hinzu. Auch wenn die Reise sehr lang dauere, sei es für ihn der ideale Weg, in die Türkei zu kommen. „Ein bisschen schneller könnte es natürlich schon gehen. Da verstehe ich auch, warum Menschen das Fliegen bevorzugen.“
„Der Weg ist das Ziel“
Total begeistert – trotz der Dauer und der nicht funktionierenden Dinge – ist auch Katharina Engländer. Die Lehrerin ist gemeinsam mit ihrer Freundin Bea unterwegs. Aus Deutschland, wie die meisten der Zugreisenden, aber ohne Auto, wie die wenigsten der anderen Gäste. „Eigentlich wollten wir mit dem Orient-Express fahren. Aber der war uns zu teuer. Also haben wir uns nach Alternativen umgesehen und sind auf diesen Zug gestoßen“, erzählt Engländer. Von Edirne geht es für die beiden zu einem Kurz-Trip nach Istanbul weiter, denn einmal am Tag fährt auch ein Zug in die türkische Metropole. Stündliche Angebote gibt es von Busunternehmen. Drei Nächte haben die beiden Freundinnen in Istanbul eingeplant, bevor es zurück nach Stuttgart geht. Retour fliegen sie. „In unserem Fall ist der Weg das Ziel“, sagt Katharina Engländer.
Knappe 40 Stunden dauert in diesem Fall bis zum Ziel. Angepeilt für sechs Uhr, endet die Zugreise mit einiger Verspätung um 13 Uhr. Pünktlich sei dieser Zug aber noch nie in Edirne angekommen. Das wissen erfahrene Passagiere wie Vural und Güler bereits von vergangenen Fahrten.
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Infos und Quellen
Genese
Als Wienerin mit türkischer Migrationsgeschichte, deren nahezu komplette Familie an der Schwarzmeerküste lebt, kennt die Autorin die Strecke zwischen Österreich und der Türkei nur zu gut. In ihrer Kindheit absolvierte sie mit ihrer Familie diese Reise Jahr für Jahr mit dem Auto (und hasste es jedes Mal zutiefst). Als sie älter wurde (und sich stärker gegen ihre Eltern durchsetzen konnte), begann sie, den Flieger zu nutzen. In die Türkei mit dem Zug zu fahren war für sie, wie für einige der Reisenden, ein erstes Mal. Sie dachte, es könnte ein Abenteuer werden. Ihren C02-Ausstoß niedriger zu halten, war ebenfalls eine große Motivation. Ob der Zug den Flieger in Zukunft ersetzen wird, ist allerdings noch nicht entscheiden.
Daten und Fakten
Seit 1992 bietet Optima Express Autoreisezugfahrten in die Türkei an.
Rund 10.000 Personen entscheiden sich pro Jahr für die Zugstrecke.
Knappe 40 Stunden dauert die Fahrt bis zum Ziel.
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