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Kriminologe zu Amoklauf: Ein Täterprofil ist nutzlos

4 Min
Erinnerung, Erschütterung – und die Hoffnung, dass künftig Warnzeichen erkannt werden.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Anna Stockhammer

Nach dem Amoklauf in Graz spricht Kriminologe Manuel Heinemann mit der WZ über Täterfantasien, Warnzeichen und was Schulen jetzt wirklich tun müssten.


    • Es gibt kein festes Täterprofil, jedoch häufig männliche Täter mit Kriegermentalität und Gewaltidentifikation.
    • Warnsignale umfassen Gewaltfantasien, Rückzug, Sammeln von Waffenobjekten und fehlende Distanzierung von Drohungen.
    • Prävention gelingt durch Sozialarbeit, krisensensible Lehrkräfte und gestärkte Eltern-Schul-Kommunikation.
    • In den USA gab es zwischen 2018 und 2023 alle 11 Tage einen Amoklauf, insgesamt 173 Fälle.
    • In Graz 2025 tötete ein 21-jähriger Ex-Schüler neun Schüler:innen und eine Lehrerin, danach verübte er Suizid.
    • Typische Warnsignale: Gewaltfantasien, sozialer Rückzug, Sammeln militärischer Objekte, Gewaltidealisierung.
    • Drei Präventionssäulen für Schulen: Sozialarbeit, Krisenkompetenz der Lehrkräfte, Sensibilisierung der Eltern.
    Mehr dazu in den Infos & Quellen

WZ | Verena Franke
Herr Heinemann, was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie vom Amoklauf in Österreich erfuhren?
Manuel Heinemann
Das ist eine schwere Frage. Für mich ist das Thema Beruf – wissenschaftlich, fallanalytisch und operativ. Entsprechend denke ich zuerst fachlich: Was ist passiert? Was steckt dahinter? Welches Motiv? Wie war die Vorgehensweise, der Modus Operandi? Und natürlich auch: Wie viele Menschen sind verletzt oder tot? Gibt es Überlebende?
In den USA passiert rund alle elf Tage ein Amoklauf.
Manuel Heinemann
WZ | Verena Franke
Macht es für Ihre Analyse einen Unterschied, ob sich ein Amoklauf in den USA oder in Österreich ereignet?
Manuel Heinemann
Es sind zwei völlig unterschiedliche Welten. Die USA haben eine andere Waffen-Gesetzeslage. Dort veröffentlichte der Secret Service Zahlen, wonach zwischen 2018 und 2023 alle elf Tage ein Amoklauf stattfand – insgesamt 173. Da liegen wir in Deutschland und Österreich zum Glück weit darunter.
WZ | Verena Franke
Gibt es also einen Zusammenhang zwischen Waffengesetz und Amoklauf?
Manuel Heinemann
Keinen direkten, wohl aber zwischen dem verfügbaren Tatmittel und der Art der Umsetzung. Wer töten will, findet Wege – auch ohne Schusswaffe. In Deutschland, wo die Waffengesetze strenger sind, kommen Messer oder Fahrzeuge zum Einsatz. Entscheidend ist der Modus Operandi, also das Vorgehen des Täters während der Tat, das sich häufig im Planungsverlauf ändert. In Graz etwa versuchte der Täter vergeblich, eine Rohrbombe zu bauen.

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WZ | Verena Franke
Gibt es ein typisches Täterprofil für Amokläufer?
Manuel Heinemann
Danke für diese Frage, sie ist sehr wichtig. Nein. Ein Täterprofil ist in diesem Bereich nutzlos. Wir können nicht sagen, dass ein 21-jähriger Ex-Schüler mit narzisstischer Persönlichkeitsstruktur ein höheres Risiko trägt. Was aber auffällt: Die allermeisten Täter sind männlich. Weitere Risikomuster sind eine sogenannte Kriegermentalität sowie die Identifikation mit Polizei, Militär oder anderen Gewalttätern – also ein extremes Identifikationsverhalten.
WZ | Verena Franke
Welche Warnsignale deuten auf eine mögliche Tat hin?
Manuel Heinemann
Es sind mehrere. Dazu zählen wiederholte Gewaltfantasien, die Fixierung auf bestimmte Themen oder Personen, der Rückzug aus sozialen Beziehungen, das Sammeln militärischer Objekte oder Uniformen sowie Gewaltidealisierung. Wenn jemand ständig über dieselbe Kränkung spricht oder Tötungswünsche äußert, sollte das Umfeld aufmerksam werden.
Eine Person mit Brille und Bart trägt ein blaues Hemd und eine Krawatte, vor einem farbenfrohen, abstrakten Hintergrund.
Kriminologe Manuel Heinemann
© Illustration: WZ
WZ | Verena Franke
Man wird ja nicht als Amoktäter geboren – wie wird man zu einem?
Manuel Heinemann
Am Anfang steht meist ein persönlicher, sehr subjektiver Missstand, wie etwa Mobbing, das mit Schmerz, Ohnmacht und Verzweiflung einhergeht. Wenn jemand keine Bewältigungsstrategien hat, beginnt eine Spirale: gedankliches Kreisen um diesen Missstand, erste Fantasien. Daraus können Tötungsfantasien werden. Diese geben das Gefühl von Kontrolle. Manche erleben das als Ersatz für reale Macht. Dann beginnt die Planung – und im schlimmsten Fall folgt die Tat. Oft geht es dabei um erweiterte Suizide, also um das „Mitnehmen“ anderer in den eigenen Untergang.
WZ | Verena Franke
Und dann sehen wir diese Bilder in den Medien…
Manuel Heinemann
Genau. Die mediale Berichterstattung mit Bildern flüchtender Schüler:innen oder abtransportierter Opfer kann andere potenzielle Täter triggern – hier spricht man von den sogenannten Copycat-Effekten. Der Werther-Effekt besagt, dass Taten durch mediale Aufmerksamkeit weitergetragen werden und Nachahmer inspirieren.
Wenn sich jemand nicht von der Drohung distanziert, ist das ein Indiz.
Manuel Heinemann
WZ | Verena Franke
Was können Eltern, Lehrende und Mitschüler:innen tun?
Manuel Heinemann
Auf Veränderungen und die eben schon erwähnten Warnsignale achten. Wichtig ist aber: Es muss immer eine Kombination mehrerer Faktoren vorliegen. Eine verlorene Freundschaft allein ist kein Alarmsignal, wohl aber in Verbindung mit weiteren Veränderungen.
WZ | Verena Franke
Manche Jugendliche sagen viel, das nicht ernst gemeint ist. Wie erkennt man ernstzunehmende Drohungen?
Manuel Heinemann
Es kommt auf die Substanz an. Wenn jemand im Spaß zu einem Freund sagt: „Wenn du jetzt gewinnst, bring ich dich um“, ist klar, dass das ein dummer Witz ist. Problematisch wird es, wenn jemand etwa sagt: „Ich laufe Amok“ – und sich dann, auf Nachfrage, nicht davon distanziert. Wenn also keine klare Ablehnung folgt wie „War nur Blödsinn, würde ich nie tun“, sondern eher ein ausweichendes oder bestätigendes Verhalten. Ein weiteres Warnsignal ist, wenn solche Aussagen mehrfach und gegenüber verschiedenen Personen gemacht werden: gegenüber Lehrer:innen, Mitschüler:innen, Eltern. Je spezifischer, je häufiger, je weniger Distanz, desto ernster muss man das nehmen.
Drei Säulen zur Vorbeugung.
Manuel Heinemann
WZ | Verena Franke
Was ist für Schulen die bestmögliche Prävention?
Manuel Heinemann
Es gibt drei Säulen: Erstens, eine starke sozialarbeiterische Struktur. Zweitens, qualifizierte Lehrkräfte – nicht nur pädagogisch, sondern auch in Sachen Krisenerkennung und -ansprache. Drittens, die Sensibilisierung der Eltern. Das muss ruhig und ohne Panik passieren. Auch Schüler müssen wertschätzend bestärkt werden: Wenn euch etwas auffällt, redet mit uns. Die Schule muss ein sicherer Ort sein – auch emotional.

Falls du Sorgen oder Ängste hast, hier ein paar Kontakte:


Die Bildungsdirektion Steiermark hat eine Hotline für schulpsychologische Betreuung eingerichtet: 0664/ 80 345 55 665

Telefonseelsorge: 142 (Notruf), täglich 0–24 Uhr

Sozialpsychiatrischer Notdienst: 01/ 31330, täglich 0–24 Uhr

Rat auf Draht: 147. Beratung für Kinder und Jugendliche. Anonym, täglich 0–24 Uhr

PsyNot Steiermark 0800 449933


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Infos und Quellen

Gesprächspartner

Manuel Heinemann, M.A. ist Kriminologe (Ruhr-Universität Bochum) und Sozialarbeiter (Bachelor FH / Technische Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm). Seit Jänner 2024 ist er Associate Partner am Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt.

Daten und Fakten

  • Kriminolog:innen beschäftigen sich wissenschaftlich mit Kriminalität, ihren Ursachen, Auswirkungen und Präventionsmöglichkeiten. Sie erforschen, analysieren und interpretieren kriminelles Verhalten, entwickeln Präventionsmaßnahmen und beraten Entscheidungsträger:innen in der Gesetzgebung und Strafverfolgung. Kriminolog:innen arbeiten oft an Hochschulen, in Forschungsinstituten und im öffentlichen Dienst Kriminalist:innen dagegen sind hingegen auf der Straße, bei der Ermittlung und Aufklärung von Straftaten tätig.
  • Chronologie von Schusswaffenangriffen an österreichischen Schulen seit 1993:

Hausleiten (NÖ) 1993: Ein 13-Jähriger verletzt den Direktor schwer und verübt Suizid.

Zöbern (NÖ) 1997: Ein 15-Jähriger tötet eine Lehrerin und verletzt eine weitere schwer.

St. Pölten (NÖ) 2012: Ein Schüler wird vom Vater erschossen.

Mistelbach (NÖ) 2018: Ein 19-Jähriger wird von einem anderen Jugendlichen angeschossen.

Graz (Stmk.) 2025: Ein 21-Jähriger ehemaliger Schüler tötet neun Schüler:innen und eine Lehrerin. Danach verübt er Suizid.

  • Der Copycat-Effekt, oder Nachahmungseffekt, ist ein psychologisches Phänomen, bei dem die Handlung einer Person das Verhalten anderer beeinflusst, was zu Nachahmungen von Verhaltensweisen, Ereignissen oder Ideen führt. In der Kriminologie bedeutet dies, dass ein Verbrechen durch das Vorbild eines anderen Verbrechens inspiriert wird, insbesondere wenn dieses Vorbild mediale Aufmerksamkeit erhält.
  • Als Werther-Effekt wird in der Medienwirkungsforschung, Sozialpsychologie und Soziologie die Annahme bezeichnet, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen Suiziden, über die in den Medien ausführlich berichtet wurde, und einem Anstieg der Suizidrate in der Bevölkerung besteht.
  • In der Kriminologie bezeichnet „Modus Operandi“ (oft abgekürzt als „MO“) die charakteristische Vorgehensweise oder das Muster eines Täters bei der Tatbegehung. Es geht darum, welche Methoden und Strategien ein Täter einsetzt, um eine Straftat zu begehen oder zu verdecken.
  • Der United States Secret Service (oder kurz Secret Service) ist eine US-amerikanische Strafverfolgungsbehörde auf Bundesebene.

Quellen

Interview mit Manuel Heinemann

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien

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