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Auszeit statt Burnout: Warum eine „Mini-Pension“ Sinn macht

5 Min
Micro Retirement: Wie gezielte Auszeiten für junge Berufstätige zur dringend benötigten Investition in mentale Gesundheit werden – und langfristig auch das Solidarsystem entlasten.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Drei Monate Auszeit vom stressigen Berufsleben: Immer mehr junge Menschen setzen auf „Micro Retirement“. Finanzexpertin Larissa Kravitz alias Investorella erklärt, warum das oft günstiger ist als gedacht – und der Gesellschaft sogar nützt.


Der neue Karriere-Trend erobert TikTok und Instagram: Jüngere Berufstätige legen gezielt längere Pausen ein – zwischen zwei Jobs, zur Reflexion oder einfach, um durchschnaufen zu können. Was nach individueller Freiheit und Selbstbestimmung klingt, scheint eine Kehrseite zu haben: wachsende Belastungen für das Solidarsystem und ein gesellschaftspolitisches Risiko. Doch stimmt das tatsächlich?

WZ | Verena Franke
Micro Retirement, also in eine Mini-Pension zu gehen, ist gerade Thema auf allen möglichen Social-Media-Kanälen. Warum ist dieses Thema gerade jetzt so präsent?
Larissa Kravitz
Ich glaube, viele Menschen brauchen einfach eine Pause. Die vergangenen Jahre waren extrem belastend – psychisch, finanziell, gesellschaftlich. Zuerst kam die Pandemie, dann die enorme Inflation. Jetzt haben viele zum ersten Mal wieder ein bisschen Luft und Geld. Die Realeinkommen haben aufgeholt, die Sparquote ist hoch. Viele sagen sich: Ich verarbeite das alles mit Abstand, nehme mir ein paar Monate frei.
WZ | Verena Franke
Ist diese Art der Auszeit auch bei jungen Menschen verbreitet?
Larissa Kravitz
Ja, gerade bei jungen Menschen ist Micro Retirement sehr beliebt. In meinem Umfeld gibt es viele digitale Nomaden. Man lebt für einige Monate in Ländern mit geringeren Lebenshaltungskosten wie Thailand, Georgien oder Bulgarien – aber vor allem asiatische Länder sind Anziehungspunkte.
Ein Portraitfoto von Larissa Kravitz, auch bekannt als Investorella.
Finanzexpertin Larissa Kravitz alias Investorella.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Avi Kravitz
WZ | Verena Franke
Wer kann sich das überhaupt leisten?
Larissa Kravitz
Es ist nicht nur eine Frage des Einkommens. Selbst mit Arbeitslosengeld – das bei gut Qualifizierten auch schon einmal 1.800 Euro betragen kann – ist es in günstigeren Ländern möglich, für eine Zeit auszukommen. Und ja, viele machen das, auch wenn es offiziell mit dem Arbeitslosengeld nicht erlaubt ist, ins Ausland zu reisen. Es ist die Realität. Auch Ersparnisse spielen eine Rolle. Wer ein bisschen zur Seite gelegt hat, kann sich eine Auszeit oft leisten.
WZ | Verena Franke
Was ist der Unterschied zum Sabbatical?
Larissa Kravitz
Ein Sabbatical ist meistens im Kollektivvertrag geregelt, läuft über das Dienstverhältnis, und man spart sich Gehalt an. Micro Retirement ist flexibler. Es passiert eher zwischen zwei Jobs oder bei Selbstständigen. Es ist oft mit einem bewussten Lebenswandel verbunden, einer Reflexion – und nicht nur mit einem Tapetenwechsel.
WZ | Verena Franke
Haben Sie eine Hausnummer – wie viel Geld braucht man?
Larissa Kravitz
Für ein dreimonatiges Micro Retirement in Asien sollte man rund 10.000 Euro einplanen. Davon etwa 2.000 Euro für Flüge, der Rest für Unterkunft, Lebenshaltungskosten, kleine Notfälle und eine Reiseversicherung. Wer zusätzlich seine Fixkosten in Österreich weitertragen muss – etwa Miete –, sollte insgesamt rund 15.000 Euro auf der Seite haben. Es bringt nichts, wenn man in der Auszeit ständig aufs Geld schauen muss. Das würde den Erholungswert zerstören.
Mentale Gesundheit hat einen realen Preis.
Larissa Kravitz
WZ | Verena Franke
Aber wenn das alle machen – kostet das nicht der Gesellschaft am Ende viel Geld?
Larissa Kravitz
Im Gegenteil. Burnouts verursachen enorme gesellschaftliche Kosten – psychisch, medizinisch, wirtschaftlich. Micro Retirement kann präventiv wirken. Viele junge Menschen nehmen sich heute ohnehin „Teilzeit-Retirements“, indem sie gar nicht mehr Vollzeit arbeiten. Diese Kosten trägt das System schon. Sabbaticals bieten auch viele Konzerne an – sicher nicht ohne betriebswirtschaftlichen Nutzen.
WZ | Verena Franke
Das heißt, Micro Retirement könnte auch als Gesundheitsmaßnahme verstanden werden?
Larissa Kravitz
Genau. Mentale Gesundheit hat einen realen Preis. Menschen mit schweren psychischen Erschöpfungszuständen brauchen nicht nur Zeit zur Erholung, sondern auch medizinische Versorgung. Diese Kosten trägt oft die öffentliche Hand und die Krankenstände sind diesbezüglich auf einem Höchstniveau. Wenn man also Micro Retirement als eine Art „mentale Prophylaxe“ sieht – als Raum zum Verarbeiten, Neuorientieren, Kraft tanken –, dann kann das langfristig sogar Kosten senken. Es ist günstiger, jemandem frühzeitig drei Monate Pause zu ermöglichen, als später eine langwierige Burnout-Behandlung zu finanzieren. Die Distanz, die ein Ortswechsel mit sich bringt, wirkt oft Wunder. Man gewinnt Klarheit, Perspektive und Stabilität zurück. Das zeigt sich dann auch in weniger Krankenständen und mehr Zufriedenheit im Job.

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WZ | Verena Franke
Sehen Sie in dem Trend eine Modeerscheinung – oder eine echte Veränderung?
Larissa Kravitz
Das Konzept gibt es schon lange. Tim Ferriss hat es 2007 mit seinem Buch „Die 4-Stunden-Woche“ populär gemacht. Was sich verändert hat, ist die gesellschaftliche Akzeptanz. Lücken im Lebenslauf mit Micro Retirement oder häufiger Jobwechsel sind heute keine Makel mehr. Und: Junge Menschen sind zunehmend erlebnisorientiert. Eigentum rückt in weite Ferne, also gönnt man sich Erlebnisse heute, weil das der erreichbare Luxus ist.
WZ | Verena Franke
Heißt das, Eigentum war gestern, Erlebnis ist heute?
Larissa Kravitz
Für viele ja. Eigentum bleibt ein Wunsch, ist aber für viele nicht realistisch. Dann lieber das kleine Glück: eine Auszeit. Manche geben bewusst Geld aus, das sie sonst für Eigentum gespart hätten, weil sie denken, das würde ohnehin nichts werden. Und auch die Unsicherheit durch Klimakrise und Inflation spielt mit hinein.
Die Bildungskarenz: gedacht für Weiterbildung, oft genutzt für Weltreisen.
Larissa Kravitz
WZ | Verena Franke
Braucht es neue politische Rahmenbedingungen für Micro Retirement?
Larissa Kravitz
Unbedingt. Man sieht es an der Bildungskarenz: gedacht für Weiterbildung, oft genutzt für Weltreisen. Auch Arbeitslosengeld wird oft als verdeckte Auszeit verwendet. Ich fände es ehrlicher, Menschen nach mehreren Arbeitsjahren ein definiertes Micro Retirement zu ermöglichen. Das wäre effizienter, transparenter und gerechter.
WZ | Verena Franke
Was sind die drei wichtigsten Tipps, die Sie für ein finanziell solides Micro Retirement empfehlen?
Larissa Kravitz
Die drei wichtigsten Tipps für ein finanziell solides Micro Retirement sind ein ausreichend bemessener Puffer, der unvorhergesehene Ausgaben zuverlässig abdeckt, eine effiziente Kapitalanlage abseits des klassischen Sparbuchs – zum Beispiel in Instrumente mit attraktiven Zinsen oder Renditen – sowie ein klarer Plan für die Zeit nach dem Micro Retirement, der sicherstellt, wie Einkommen und Lebensstandard langfristig gesichert bleiben.

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Infos und Quellen

Gesprächspartnerin

Larissa Kravitz alias @investorella kaufte bereits als Teenager ihre erste Aktie. Mit 16 gründete sie ihr erstes kleines Unternehmen, startete mit 18 als Finanzredakteurin und begann mit 20 als Aktien- und Derivathändlerin zu arbeiten. Sie hat Bank- und Finanzwirtschaft sowie Finance (Quantitative Trading & Financial Engineering) studiert und verfügt über eine Aktien- und Derivathandelslizenz, ein Strom- und CO2-Zertifikate-Handels-Diplom sowie zahlreiche Branchenqualifikationen wie die Vermögens- und Wertpapierberater-Prüfung. Ihr Berufsweg führte sie die letzten 20 Jahre durch Broker, verschiedene internationale Banken (wie Komercni Banka/Societe Generale Gruppe), Immobilienfonds (wie ING Real Estate), Start-ups (als Teilnehmerin des Microsoft Ventures Accelerator) und Energiekonzerne (wie die OMV und den Solarenergiekonzern Photon Energy). Zuletzt leitete sie eine Stabsstelle eines börsennotierten Immobilienkonzerns und saß in dessen Aufsichtsrat. 2019 entschied sie sich dafür, ihr Herzensprojekt – die Finanzbildung von Frauen – zum Beruf zu machen.

Daten und Fakten

  • Was ist Micro Retirement?

Micro Retirement beschreibt eine bewusst gewählte, mehrmonatige Unterbrechung der Erwerbstätigkeit zwischen zwei beruflichen Stationen. Während viele Beschäftigte nach einer Kündigung oder einem Stellenwechsel lediglich eine kurze Pause einlegen, häufig unter Nutzung verbleibender Urlaubstage, entscheiden sich Personen beim Micro Retirement gezielt für eine längere Auszeit. Diese wird in der Regel für Reisen, den Aufbau neuer Interessen oder zur persönlichen Weiterentwicklung genutzt. Im Unterschied zum Sabbatical, das innerhalb eines bestehenden Arbeitsverhältnisses erfolgt und meist mit einem Rückkehrrecht verbunden ist, handelt es sich beim Micro Retirement um eine eigeninitiierte Pause ohne Anspruch auf Rückkehr zum vorherigen Arbeitgeber.

  • Dürfen Arbeitslosengeld-Bezieher auf Urlaub fahren?

Prinzipiell müssen alle Urlaube beim Arbeitsmarktservice (AMS) gemeldet werden. Bei einem Inlandsurlaub erhält man weiterhin das Arbeitslosengeld. Auch bei einem Inlandsurlaub sind vorgeschriebene Kontrolltermine zu beachten, weil rechtlich nicht das persönliche Urlaubsinteresse, sondern das öffentliche Interesse an der Vermittlung der arbeitslosen Menschen Vorrang hat.

Bei einem Auslandsurlaub wird die Leistung für die Dauer des Urlaubes unterbrochen. Bei berücksichtigungswürdigen Umständen kann das AMS allerdings eine Nachsicht erteilen. Dazu muss ein Antrag beim AMS gestellt werden. In bestimmten Fällen erhält man weiterhin Arbeitslosengeld, wenn man in einem EWR-Land (Europäischer Wirtschaftsraum) oder in der Schweiz Arbeit sucht.

Quellen

Das Thema in anderen Medien

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