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Chronisch erschöpft und im Stich gelassen

8 Min
Rund 80.000 Österreicher:innen sind am Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS) erkrankt, einer oft missverstandenen und wenig diagnostizierten Krankheit.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Das chronische Fatigue-Syndrom betrifft seit Corona immer mehr junge Menschen unter dem Überbegriff Long Covid. Spezialisierte Versorgungszentren fehlen jedoch, die Betroffenen sind auf sich selbst gestellt.


Jan Equiluz-Bruck hat bereits im Alter von 14 Jahren das Trompetenspielen für sich entdeckt. Er will Berufsmusiker werden, studiert an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK) und spielt in der Volksoper, dem RSO und anderen professionellen Orchestern. Dann erkrankt er an Corona. Er ahnt nicht, dass sein Leben danach nicht mehr dasselbe sein wird. „Seit dieser Infektion vor 14 Monaten bin ich nicht mehr richtig gesund geworden“, erzählt der 22-Jährige. „Ich war dauerhaft ausgelaugt und erschöpft.“ Jan ist einer von vielen Betroffenen, die nach einer Viruserkrankung an Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) erkrankten, einer oft missverstandenen und wenig diagnostizierten Krankheit. Denn an spezialisierten Anlaufstellen mangelt es in ganz Österreich.

„Long Covid ist ein breiter Überbegriff, zu dem jede Folge einer Corona-Erkrankung zählt. ME/CFS ist hingegen ein spezifisches Syndrom, das schon viele verschiedene Namen hatte, aber als eigenständige Krankheit anerkannt ist“, sagt Michael Stingl, Fach- und Wahlarzt für Neurologie sowie einer der wenigen Spezialist:innen für ME/CFS. „Besonders die Post-Exertional Malaise‘ (PEM) – also die Verschlechterung des Zustands nach körperlicher oder geistiger Anstrengung – macht ME/CFS einzigartig und schwer behandelbar.“ Es gibt keine spezifischen Marker für ME/CFS, aber es gibt klinische Diagnosekriterien. „Es wird immer auf die Long-Covid-Leitlinien verwiesen, die in Österreich ME/CFS explizit ausklammern, weil ,zu komplex‘“.

Ein Foto von Jan und seiner Familie.
Jan mit seiner älteren Schwester Sonja und seiner Mutter Susanne auf einer ihrer vielen Reisen, die sie vor der Erkrankung erlebten.
© Fotocredit: Susanne Equiluz-Bruck

Es war Jans Mutter, Susanne Equiluz-Bruck, die als Ärztin die Schwere seiner Symptome erkannte. „Jan konnte bald keine normalen Aktivitäten mehr ausführen, weil ihm die Kraft fehlte“, erzählt sie. „Sein Zustand entwickelte sich in Richtung einer ernsteren Krankheit wie Long Covid.“ Die Schmerzen hatte er mit Medikamenten halbwegs im Griff. Er lag fast die ganze Zeit, konnte nur kurz aufstehen. „Und da war er gangunsicher und ganz wackelig auf den Beinen. Er reagierte empfindlich auf Licht und Geräusche.“ Sie fanden keine Ambulanz, aber Michael Stingl. Ein Termin bei ihm brachte Jan Gewissheit: ME/CFS. Eine Erkrankung, gegen die es keine Medikamente gibt, nur Off-Label (diese Arzneimittel werden außerhalb der von den nationalen oder europäischen Zulassungsbehörden genehmigten Anwendungsmöglichkeiten eingesetzt) und Symptombekämpfer wie Schmerzmittel oder Kreislaufunterstützer. „Mein Arzt hat mir das Konzept des ‚Pacing‘ erklärt. Das bedeutet, dass man lernen muss, mit seiner Energie hauszuhalten und Aktivitäten so zu planen, dass man sich nicht überanstrengt.“ Pacing ist derzeit die einzige Strategie, die Patient:innen hilft, diese Erkrankung zu managen. Heilung gibt es keine. „Es gibt im AKH eine kardiologische Ambulanz, die Long Covid behandelt, aber das ist nicht spezifisch für ME/CFS. Es fehlen spezialisierte Anlaufstellen, die das nötige Wissen und die Erfahrung haben.“

Zuständigkeits-Ping-Pong zwischen Bund und Ländern

Jan und seine Familie sind nicht die einzigen, die unter dieser Situation leiden. Sie werden vertreten von der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS, die sich für Betroffene einsetzt und gegen die bürokratischen Hürden und das Zuständigkeits-Ping-Pong zwischen Bund und Ländern kämpft. „Der Bund verweist zurück auf die Länder, da die Gesundheitsversorgung in deren Verantwortung liegt. Die Länder sagen, der Bund ist zuständig für die Finanzierung. Es ist ein Hick-Hack“, sagt Obmann Kevin Thonhofer. Er ist seit sieben Jahren nach einer Virusinfektion selbst Betroffener.

Auf Anfrage beim Wiener Gesundheitsverbund (WIGEV) und dem medizinischen Direktor Michael Binder zu Plänen in Bezug auf die ME/CFS-Krankenversorgung antwortete die Pressestelle in einem E-Mail: (…) „Eigens eingerichtete Post-Covid- Ambulanzen in den WIGEV-Kliniken haben in der Post-Covid-Versorgung eine zentrale Rolle gespielt. Mittlerweile werden mit einer Covid-Infektion in Zusammenhang stehende Folgeerkrankungen auch im niedergelassenen Bereich erfolgreich behandelt.“ Also beim Hausarzt?

„Die Diagnose zu erstellen, braucht Zeit“, erklärt Stingl. In der kurzen Zeit, die ein Hausarzt für einen Patienten oder eine Patientin hat, sei das oft schlichtweg unmöglich. „Meine Erstordination dauert eine Stunde. Solang die Stadt Wien keine ME/CFS-Ambulanzen schafft, macht sie zu wenig. Wir brauchen Kompetenzzentren, die nicht nur behandeln, sondern auch Forschung und Ausbildung fördern“, sagt Stingl. Solche Zentren müssten interdisziplinär arbeiten und ausreichend finanziert sein, um allen Patient:innen die notwendige Unterstützung bieten zu können. Ohne eine koordinierte Anstrengung auf politischer und medizinischer Ebene bleibt die Versorgungslücke bestehen.

Ein Foto von Dr. Stingl.
Michael Stingl, Fach- und Wahlarzt für Neurologie sowie einer der wenigen Spezialist:innen für ME/CFS.
© Fotocredit: Felicitas Matern / FEELimage

Familie Equiluz-Bruck und insbesondere Jan haben ihre eigene Strategie entwickelt, um mit der Erkrankung umzugehen. „ME/CFS ist zum Mittelpunkt geworden, obwohl Jan nie im Mittelpunkt stehen wollte. Für mich ist es mittlerweile beruhigend, zu beobachten, dass er sich zurückzieht, bevor es zu viel wird“, sagt Jans ältere Schwester Sonja (27). Das ist wichtig für Jans Gesundheit, damit es nicht zu den sogenannten „Crashs“ kommt, von denen er sich schlimmstenfalls wochenlang erholen muss. Trotz der optimalen Versorgung Jans bleibt die Belastung für die Familie enorm. Jans Mutter ist zwischen „Mutter- und Ärztin-Dasein hin- und hergerissen“. „Es gibt wenig Verständnis für diese Erkrankung, und viele sehen sie als psychosomatisch oder psychisch an, obwohl es genügend Belege für das Gegenteil gibt.“ Dieses mangelnde Verständnis in der breiten Öffentlichkeit verschärft die Situation der Betroffenen zusätzlich.

Ein weiterer Betroffener, Thomas H. (Name der Redaktion bekannt), teilt ähnliche Erfahrungen: „Es ist ein ständiger Kampf, ernst genommen zu werden. Viele Ärzte kennen sich einfach nicht aus und sind skeptisch, ob die Symptome wirklich physisch sind.“ Thomas hat es geschafft, einen Arzt zu finden, der seine Krankheit erkannt hat, doch die Unterstützung bleibt unzureichend. „Ich muss ständig selbst recherchieren und mich informieren, weil das Wissen in der medizinischen Gemeinschaft nicht vorhanden ist“, erklärt er. Diese Eigeninitiative ist für viele Betroffene aufgrund der Schwere der Erkrankung aber gar nicht möglich.

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Die politische Reaktion auf die steigende Anzahl von ME/CFS-Fällen seit dem Beginn der Corona-Pandemie ist bislang unzureichend, obwohl schon 1969 die Weltgesundheitsorganisation WHO ME/CFS als neurologische Krankheit anerkannt hat. „Es wird angenommen, dass zwischen 0,3 und 0,8 Prozent der Bevölkerung betroffen sind“, so Stingl. „Das würde für Österreich etwa 25.000 bis 30.000 Betroffene bedeuten, aber ohne die zusätzlichen Long-Covid-Fälle.“ Da würde man schon an die 80.000-Grenze herankommen. Eine Studie aus den USA schätzt das Vorkommen von ME/CFS auf 1,3 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, was ebenfalls hohe Zahlen suggeriert. Es gibt aber weder ein Register der Betroffenen noch offizielle Zahlen, deshalb kann man sich nur auf Schätzungen berufen.

Krankheit oft fehlbehandelt

Um gegen diese Missstände vorzugehen, soll ein Referenzzentrum für Postvirale Syndrome des Gesundheitsministeriums eröffnet werden. Es wurde bereits zum zweiten Mal ausgeschrieben, weil es beim ersten Mal nur national und nicht EU-weit bekannt gemacht wurde. „Das Referenzzentrum ist ein guter Schritt, aber es muss richtig umgesetzt werden“, betont Stingl. Wichtig sei, dass dort auch tatsächlich Expert:innen mit Erfahrung in ME/CFS arbeiten. „Wenn das nicht der Fall ist, wird es nicht funktionieren.“ Denn post-akute Infektionssyndrome werden oftmals als psychische oder psychosomatische Erkrankungen fehlgedeutet und entsprechend fehlbehandelt. Aber dieses geplante Zentrum soll keine Anlaufstelle für Patient:innen sein, sondern laut Gesundheitsminister Johannes Rauch eine Plattform für Wissensvermittlung und eine Schnittstelle für den Austausch zwischen Forschung und Praxis. „Auch die medizinische Ausbildung muss verbessert werden, damit zukünftige Ärztinnen und Ärzte ME/CFS frühzeitig erkennen und behandeln können“, fordert Stingl. Der Nationalrat habe einen einstimmigen Beschluss gefasst, die Versorgung zu verbessern, aber konkrete Maßnahmen würden immer noch fehlen.

Diese Krankheit ist unsichtbar.
Sonja Equiluz-Bruck, Schwester von Jan

Ines Dongowski, eine Psychotherapeutin, die über die Freundschaft mit einer Betroffenen in die Thematik eingestiegen ist, bestätigt diese Missstände aus ihrer beruflichen Erfahrung. „Es gibt kaum Unterstützung und Wissen zu diesem Thema in unserem Feld. Man muss sich viel selbst informieren, wenn man mit ME/CFS konfrontiert wird.“ Die Anerkennung als physische Erkrankung sei für die Betroffenen von größter Bedeutung. „Es wäre unglaublich tröstlich zu wissen, dass intensiv geforscht wird und dass es Kompetenzzentren gibt, die sich mit der Krankheit befassen.“ Die Notwendigkeit einer umfassenden Aufklärung und Unterstützung wird somit auch aus psychotherapeutischer Sicht deutlich.

Jan, der sein Trompeten-Studium abbrechen musste und derzeit auch sein Psychologie-Studium pausiert, blickt dennoch positiv in die Zukunft: „Ich hoffe, dass ich irgendwann weiterstudieren kann.“ Zum privaten Trompetespielen fehlt ihm die Kraft. Und von der Politik wünscht er sich: „Dass sie endlich einmal in die Hufe kommt. Lippenbekenntnisse gibt es schon genug vom Gesundheitsminister abwärts.“ Familie Equiluz-Bruck setzt sich weiterhin aktiv für mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung für ME/CFS-Betroffene ein. Während sich die Politik nur äußerst langsam bewegt, bleibt die Realität für Betroffene und deren Familien unverändert schwierig. Jans Schwester Sonja bringt es auf den Punkt: „Die Krankheit raubt nicht nur die Existenz, das Dasein eines Menschen, sie wird auch nicht beachtet. Sie ist unsichtbar.“


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Infos und Quellen

Gesprächspartner:innen

  • Susanne, Jan und Sonja Equiluz-Bruck – betroffene Familie

  • Thomas H. – Name der Redaktion bekannt. Er möchte anonym bleiben, denn er befürchtet Konsequenzen im Job.

  • Michael Stingl – Fach- und Wahlarzt für Neurologie sowie einer der wenigen Spezialist:innen für ME/CFS

  • Ines Dongowski – Psychotherapeutin

  • Kevin Thonhofer – Obmann der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS

  • Sabine Hermisson – Postdoc am Institut für Religionspädagogik der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Autorin und Mutter von Mila, die sehr schwer an ME/CFS erkrankt ist. Mila liegt seit November 2020 in totaler Dunkelheit im Bett. Sie kann Arme und Beine kaum mehr bewegen, nicht mehr selbst essen, höchstens eine Minute sitzen und seit zwei Jahren auch nicht mehr sprechen.

  • Der Wiener Gesundheitsverbund entschied sich für eine E-Mail-Antwort anstelle eines Gesprächs mit dem medizinischen Direktor Michael Binder. Der exakte Wortlaut des E-Mails: „Der Gesundheitsverbund hatte eine tragende Rolle in der Covid-19-Pandemie. Nahezu 100 Prozent aller spitalspflichtigen Covid-19-Patient:innen in Wien wurden in den Klinken des Wiener Gesundheitsverbundes behandelt. Der WIGEV hat von Beginn der Pandemie an diverse Forschungsprojekte lanciert, um sich nicht nur mit der Weiterentwicklung der Therapie von Covid-19, sondern auch mit möglichen Folgewirkungen der Infektionserkrankung wie z.B. ME/CFS auseinanderzusetzen. Es wurden diesbezüglich bereits nennenswerte wissenschaftliche Fortschritte erzielt. Erwähnenswert sind etwa die Arbeiten an den Medizinischen Abteilungen der Primarärzte Dr. Christoph Wenisch an der Klinik Favoriten und Dr. Arschang Valipour an der Klinik Floridsdorf. Eigens eingerichtete Post-Covid-Ambulanzen in den WIGEV-Kliniken haben in der Post-Covid-Versorgung eine zentrale Rolle gespielt. Mittlerweile werden mit einer Covid-Infektion in Zusammenhang stehende Folgeerkrankungen auch im niedergelassenen Bereich erfolgreich behandelt.“ (28. Mai 2024)

Daten und Fakten

  • Der Wiener Gesundheitsverbund (WIGEV) ist als Unternehmung der Stadt Wien der organisatorische Zusammenschluss aller städtischen Krankenhäuser, Pflegeheime und Ausbildungsstandorte für Pflegepersonal der Stadt Wien. Dazu zählen acht Kliniken und neun Pflegehäuser sowie das Therapiezentrum Ybbs.

  • Seit 1969 ist ME/CFS von der WHO unter dem ICD-10 Code G93.3 klassifiziert. Internationale Institutionen wie CDC (USA) und NICE (UK) haben Leitlinien zum Krankheitsbild erstellt. Zur Diagnose stehen etablierte klinische Kriterienkataloge zur Verfügung. ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom) ist eine schwere chronische Multisystemerkrankung, die je nach Ausprägung zu schweren körperlichen Einschränkungen, Verlust der Arbeitsfähigkeit und Pflegebedürftigkeit bis hin zur künstlichen Ernährung führen kann. Ein Großteil der Betroffenen ist nicht mehr arbeitsfähig, ein Viertel der ME/CFS-Erkrankten ist an Haus oder Bett gebunden und pflegebedürftig.

  • Hauptmerkmal von ME/CFS ist die Post Exertional Malaise (PEM). Dabei handelt es sich um eine belastungsinduzierte Zustandsverschlechterung nach (oft bereits leichter) körperlicher und/oder mentaler Anstrengung („Crash“). Diese Verschlechterung tritt mit etwa 24 bis 72 Stunden Verzögerung auf und kann Stunden, Tage oder sogar dauerhaft anhalten.

  • Am 22. Juni 2024 veröffentlichte die MedUni Wien einen Leitfaden für eine bessere Versorgung von ME/CFS-Betroffenen. Der Praxisleitfaden mit dem Titel „Care for ME/CFS“ wurde vom Team der Immunologin Eva Untersmayr-Elsenhuber (Zentrum für Pathophysiologie, Infektiologie und Immunologie der MedUni Wien) gemeinsam mit der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS entwickelt. Untersmayr-Elsenhuber nannte bei der Präsentation des Leitfadens die hohe durchschnittliche Diagnosedauer von fünf Jahren und die Veränderung der Erwerbsfähigkeit der Betroffenen: Während vor der Erkrankung 56 Prozent der Befragten Vollzeit arbeiteten, waren es danach nur mehr zehn Prozent. Die Zahl der Nicht-Berufstätigen wuchs hingegen von 4 auf 65 Prozent.

Quellen

Das Thema in der WZ

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