Der israelisch-palästinensische Konflikt ist vor allem eines: eine Geschichte gescheiterter Friedensverhandlungen.
„Immer wenn wir kurz vor einer Lösung stehen, kommt irgendein Arschloch von einer der beiden Seiten und macht es wieder kaputt.“ Dieser Satz, mit dem der deutsche Publizist Jürgen Todenhöfer im Gespräch mit der WZ einen Israeli zitiert, umschreibt den israelisch-palästinensischen Konflikt am besten. Dieser hat nun eine neue Eskalationsstufe erreicht. Die radikalislamische Hamas hat am 7. Oktober Gewalttaten in Israel verübt, „für die es keine passenden Worte gibt, Massaker ist noch zu schwach“, wie es der langjährige ORF-Korrespondent Ben Segenreich gegenüber der WZ formuliert. Im Gegenzug hat Israels Premier Benjamin Netanjahu die endgültige Auslöschung der Terrororganisation als Ziel der Bodenoffensive in Gaza ausgegeben.
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Es ist ein Konflikt, dessen Ausgangspunkt weit in der Vergangenheit liegt. Für die einen beginnt er mit dem UN-Teilungsbeschluss für das britische Mandatsgebiet Palästina am 29. November 1947, andere blicken bis in die Antike zurück, als Kanaaniter, Hebräer und Philister um diesen Landstrich am Mittelmeer kämpften, auf den heute zwei Völker Anspruch erheben. Wer ist schuld daran, dass es auch 75 Jahre nach der Gründung des Staates Israel keine friedliche Lösung gibt? Die Antwort darauf hängt vom jeweiligen Standpunkt ab.
„Mit diesen Nachbarn kann man nicht leben“
Aus israelischer Sicht ist man seit dem Verzicht auf einen Teil des beanspruchten Gebietes Mitte des 20. Jahrhunderts stets Kompromisse eingegangen, die von der Gegenseite immer wieder abgelehnt wurden, erläutert Segenreich. Umgekehrt ist der umstrittene israelische Siedlungsbau im seit dem Sechstagekrieg 1967 okkupierten Westjordanland Sprengstoff für den Konflikt. Der politische Schwebezustand des Gebietes macht den Palästinenser:innen, die sich von Israel unterdrückt fühlen, zu schaffen.
Die Hamas ruft ausdrücklich zur Ermordung von Juden auf.Ben Segenreich, langjähriger Nahost-Korrespondent
Wirklich fatal ist freilich die Lage im Gazastreifen, die Todenhöfer als „menschenunwürdig“ beschreibt. Seit Jahrzehnten wird das von Israel und Ägypten abgeriegelte Gebiet, das ungefähr die Größe und Einwohnerzahl Wiens hat, in unregelmäßigen Abständen als Vergeltung für Hamas-Raketenbeschuss zerbombt. Rund 15.000 Raketen soll die Hamas besitzen, finanziert aus abgezweigten Hilfsgeldern. Und im Libanon, an Israels Nordgrenze, sind noch zehnmal so viele Hisbollah-Raketen Richtung Israel gerichtet – auf jenes Land, das als einzige Demokratie im Nahen Osten gilt. „Mit diesen Nachbarn“, sagt Segenreich, „kann man nicht leben. Israel und die Israelis werden nur überleben können, wenn die Hamas nicht mehr existiert, keine einzige Rakete, kein einziges Gewehr, kein einziger Kommandant, kein einziger Kämpfer. Und das sagt nicht nur Netanjahu, das sieht fast jede einzelne Person in Israel so, auch die Opposition und die Militär- und Geheimdienstchefs.“ Denn im Gegensatz zur Fatah im Westjordanland hat die Hamas immer noch die Vernichtung Israels in ihrer Charta stehen. „Sie ruft ausdrücklich zur Ermordung von Juden auf. Das Ziel ist die Herrschaft des Islam, ohne nationale Grenzen, also eigentlich Dschihadismus wie beim IS.“
Mit der Hamas kann nicht einmal die PLO verhandeln
Ein eigener palästinensischer Staat, den die PLO fordert und den viele als einzige Lösung sehen, kommt darin nicht vor. Dass man mit der 1987 gegründeten Hamas nicht verhandeln kann, diese Erfahrung musste nicht nur Israel machen, sondern auch die PLO. Die Dachorganisation der Palästinenserparteien, deren Präsident Mahmoud Abbas auch Fatah-Chef ist, ist nominell auch für den Gazastreifen verantwortlich. Doch nach den letzten Wahlen im Jahr 2006 hat die Hamas die Macht gewaltsam an sich gerissen und laut Todenhöfer sogar PLO-Leute exekutiert. Seither gab es immer wieder den vergeblichen Versuch, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden und die Institutionen in Gaza und der Westbank zu vereinen, berichtet der palästinensische Botschafter in Österreich, Salah Abdel Shafi. „Die Kontakte sind aufrecht. Und wir werden weiter versuchen, mit der Hamas zu verhandeln, bis diese Spaltung beendet ist.“
Die Kontakte zu Israel hingegen hat die PLO nach den jüngsten Gegenschlägen auf Gaza abgebrochen. Dabei war man schon ein paar Mal auf einem sehr guten Weg. So legte im Jahr 2008 der damalige israelische Premier Ehud Olmert ein Friedensangebot vor: Durch einen territorialen Austausch sollten das Siedlungsproblem im Westjordanland gelöst und ein souveräner Staat Palästina geschaffen werden. „Bei den Verhandlungen mit ihm sind wir damals sehr weit gekommen“, berichtet Shafi. Doch dann musste Olmert wegen eines Untreueskandals zurücktreten und Netanjahu kam erneut an die Macht. Und dann war da ja immer noch die Hamas in Gaza, die Todenhöfer zufolge „aus gutem Grund keine Wahlen mehr abhält“. Überzeugte Unterstützer:innen dürfte sie unter den Palästinenser:innen weniger haben, als sie die Welt glauben machen will, meint er. Allerdings spielt ihr die Verzweiflung der Bevölkerung im Gazastreifen in die Hände.
Wer ist schuld am Elend im Gazastreifen?
Für Not und Elend dort ist aus israelischer Sicht die Hamas ganz allein verantwortlich: „Die Israelis sind im Jahr 2005 abgezogen, haben alle ihre Siedlungen dort aufgelöst und dieses an sich fruchtbare Land den Palästinensern übergeben in der Hoffnung, dass dort eine Friedenszone entstehen würde, ein Shanghai des Nahen Ostens“, sagt Segenreich. „Dort ist ein wunderschöner Strand, sie haben Landwirtschaft, hätten eine Industrie aufbauen können, ein besseres Bildungssystem – aber nix.“ Auf Kosten der unterdrückten Zivilbevölkerung sei gegen Israel aufgerüstet worden.
Todenhöfer will das nicht unkommentiert stehen lassen: Man dürfe nicht außer Acht lassen, dass Israel den Gazastreifen wirtschaftlich massiv einschränke. „Wenn es Israel nicht passt, darf zum Beispiel eine ganze Erdbeerernte nicht ausgeführt werden. Und Gaza wird von Israel immer wieder der Strom oder das Wasser abgedreht. Ich kann Menschen nicht in einen Käfig setzen und dann sich selbst überlassen. Es ist ein Volk ohne jede Hoffnung, das in eine ausweglose Ecke gedrängt worden ist. Eine solche Aussichtslosigkeit habe ich sonst nur bei den Rohingya in Bangladesch erlebt.“
Die Zeit spielt für Israel
Dass man, wenn wieder einmal die Grenzübergänge blockiert werden, nur durch illegale Tunnels in den Gazastreifen kommt, sollte zu denken geben, sagt Todenhöfer. Er selbst hat seinerzeit einem Schmuggler 300 Dollar bezahlt, „und dann sind wir da durchgekrochen wie Maulwürfe“. Es soll aber auch breit ausgebaute Tunnels geben, durch die ganze Lastwagen fahren können. Entsprechend groß ist die Sorge um die israelischen Soldaten, die nach Gaza geschickt werden, auch wenn Segenreich erklärt, dass sich die Armee seit Jahren auf genau diesen Kampf vorbereitet. Und dass eine Verschiebung der Bodenoffensive auch Taktik sein kann: „Irgendwann wird der Hamas das Wasser ausgehen, der Sprit für die Stromgeneratoren, und je länger man wartet, desto schwächer wird sie. Die Zeit spielt hier also für Israel.“ Zeit, die man bei einem anderen Gegner für Verhandlungen nutzen würde.
Es ist ein Volk ohne jede Hoffnung, das in eine ausweglose Ecke gedrängt wurde.Jürgen Todenhöfer, Publizist und Politiker
Wie aber soll der Gazastreifen nach Israels Bodenoffensive aussehen? „Diese Frage ist absolut berechtigt“, sagt Segenreich. „Da lautet die Antwort der Israelis: Wir wissen es auch nicht. Aber wir haben jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken, und es ist auch nicht unsere Verantwortung.“ Ob später der Gazastreifen von Ägypten annektiert wird, unter UN-Kontrolle kommt oder islamistische Grüppchen von Warlords einander bekriegen – und was aus den zwei Millionen Menschen dort wird, interessiert die Israelis im Moment nicht.
Von Kriegen geprägte Politiker
Die meisten Politiker der Region haben in mehreren Kriegen gegen die Nachbarn gekämpft. Das hat sie geprägt. So wie Jitzchak Rabin. Der Handschlag des israelischen Premiers mit PLO-Chef Jassir Arafat vor US-Präsident Bill Clinton stand sinnbildlich für das Oslo-Abkommen, das im Jahr 1993 den Autonomieprozess einleitete und den beiden einstigen Gegnern den Friedensnobelpreis einbrachte. Doch zwei Jahre später wurde Rabin ermordet, und der Friedensprozess scheiterte.
An dieser Stelle räumt Segenreich mit einem Mythos auf: „Nicht das Attentat ließ den Friedensprozess scheitern. Es war genau umgekehrt, und ich kann das sogar belegen: 1996 standen in Israel Wahlen bevor, und Rabins Arbeiterpartei hatte in den Umfragen die Mehrheit verloren. Der Grund war eine Serie von Anschlägen radikaler Palästinenser als Antwort auf das Oslo-Abkommen. Rabin wurde im November 1995 auf einer großen Friedenskundgebung in Tel Aviv ermordet, die gerade deshalb stattfand, um dem beschädigten Friedenslager neuen Schwung zu geben. Er hätte wahrscheinlich kurz darauf die Wahlen verloren, womit der Friedensprozess beendet gewesen wäre. Das Entsetzen über seine Ermordung sorgte dann dafür, dass die Linke doch noch Stimmen zugewinnen konnte und es in den Umfragen wieder knapp wurde.“ Rabins Nachfolger Shimon Peres stand damals bei Likud der noch junge Netanjahu gegenüber, der dann haarscharf zum ersten Mal Premier wurde.
„Arafat hat nie den Terror aufgegeben“
So friedlich, meint Segenreich, war auch der Nobelpreisträger Arafat nicht. „Er hat nie, außer wenn er mit dem Westen Englisch gesprochen hat, den Terror aufgegeben. Als nach seinem Tod Abbas Präsident wurde, hat er gesagt, dass die Intifada der falsche Weg war, der den Palästinensern nur Schaden zugefügt hat. Er war also rhetorisch gemäßigter als Arafat, der in seinen Reden meist gehetzt und sich als Guerilla-Freiheitskämpfer stilisiert hat, immer in Uniform, die Pistole am Gürtel. Abbas hingegen trägt Anzüge und wird nicht mit Terror identifiziert.“
In der Grundposition sei Abbas aber nicht so weit weg von Arafat. So würden palästinensische Schulbücher den Staat Israel und den Holocaust totschwiegen. Abbas sei freilich ein Getriebener: „In der Politik geht es ja um Kompromisse, um Lösungen, wo beide Seiten auf etwas verzichten – das hat auch mit ihm nicht funktioniert. Vielleicht auch, weil er weiß, dass er, wenn er Konzessionen an Israel macht und einen endgültigen Friedensvertrag unterschreibt, in den Augen vieler seiner Landsleute diskreditiert ist“, vermutet Segenreich. Oder er würde womöglich dasselbe Schicksal erleiden wie der ägyptische Präsident Anwar Sadat, der 1981 ermordet wurde, nachdem er mit Israel Frieden geschlossen hatte.
Auch Israel sehnt sich nach Frieden
Kriege und Terror begleiten also den Staat Israel, der eine Rettungsinsel für Jüdinnen und Juden aus aller Welt sein soll, seit seiner Gründung. Macht das nicht irgendwann kriegsmüde? „Das kann man sich nicht leisten”, sagt Segenreich, „wenn man ständig angegriffen wird. Wenn man sich nicht wehrt, ist man tot.“ Aber natürlich sehne man sich nach Frieden: „Schon über Generationen heißt es, wenn Babys geboren werden: Diese Kinder werden hoffentlich keinen Krieg mehr erleben und zur Armee müssen.“ In seiner ganzen Zeit als Nahost-Berichterstatter, sagt er, habe es immer zwei Phasen gegeben: „In der einen gab es Terror, weil es keinen Friedensprozess gab; und in der anderen gab es Terror, um den Friedensprozess zu stoppen.“
Es gibt keine Lösung für Palästina.Henry Kissinger, ehemaliger US-Außenminister
Der große Streitpunkt zwischen Israelis und Palästinensern ist seit jeher Jerusalem mit dem Tempelberg; die Stadt, die für beide Seiten heilig und damit unverhandelbar ist. So begann die Zweite Intifada (Palästinenseraufstand) nach einem Besuch des Likud-Politikers Ariel Sharon auf dem Tempelberg am 28. September 2000 laut Segenreich mit einem Tag Verspätung: „Offenbar beschloss die Palästinenserführung, den Anlass für einen lange geplanten Aufstand zu nutzen.“
Die Israelis machen auch abseits der Politik geografisch einen Unterschied zwischen Westjordanland und Gaza: Auf das eine erheben sie einen historischen Anspruch, „das andere soll der Teufel haben“, formuliert es Todenhöfer. „Ein hochrangiger israelischer Beamter hat einmal vorgeschlagen, den Palästinensern das gesamte Westjordanland zu geben mit Ausnahme einer Sicherheitszone um Jerusalem, und ihnen sogar die Oberhoheit über die israelischen Siedlungen zu überlassen, wenn es dafür Frieden gäbe – aber das wird kein Siedler akzeptieren.“ Schließlich sei Rabin ja auch nicht von einem Palästinenser erschossen worden, betont der Publizist, der später auch die Witwe Leah Rabin getroffen hat.
Trotz allem ist die Zweistaatenlösung für die PLO noch nicht vom Tisch: „Es ist aus unserer Sicht die einzige Lösung“, betont der palästinensische Botschafter. Die Chancen dafür waren allerdings noch nie so schlecht wie jetzt. Und so könnte der ehemalige US-Außenminister und Friedensnobelpreisträger Henry Kissinger recht behalten, der einmal im Gespräch mit Todenhöfer klipp und klar feststellte: „Es gibt keine Lösung für Palästina.“
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Infos und Quellen
Genese
Seit der Staatsgründung Israels vor 75 Jahren haben sich alle möglichen klugen Menschen vergeblich den Kopf über eine Lösung des Konflikts mit den Palästinensern zerbrochen. WZ-Redakteur Mathias Ziegler wollte wissen, woran sie gescheitert sind.
Gesprächspartner
Ben Segenreich, langjähriger Nahost-Korrespondent für den ORF (1990 bis 2018), Physiker und Software-Entwickler, 1983 nach Israel ausgewandert
Salah Abdel Shafi, Vertreter des Staates Palästina in Österreich, Slowenien und Kroatien sowie bei der UNO in Wien
Jürgen Gerhard Todenhöfer, Publizist und ehemaliger Bundestagsabgeordneter (1972 bis 1990), nach dem Austritt aus der CDU Gründer einer eigenen Partei (2020), ehemaliger Herausgeber der Wochenzeitung Der Freitag, mehrmalige Aufenthalte in Israel und Gaza
Quellen
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
Kleine Zeitung: „Historiker Tom Segev: ‚Alle reden jetzt von Sieg, aber was heißt das in diesem Krieg?‘“
FAZ: „Warum der Tempelberg für Muslime und Juden so wichtig ist“
Münchner Merkur: „Hamas gegen Israel: Das sind die Hintergründe zum Nahost-Konflikt“
Correctiv: „Diese Falschmeldungen kursieren nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel“