)
Mein Vater erzählt über die Flucht vor der Roten Armee kurz vor Kriegsende 1945 durch umkämpftes Gebiet.
Nichts zu essen, überall Schüsse und Flüchtlingsströme aus allen Richtungen: Vor den Soldaten der russischen Besatzungsmacht waren sie tagelang auf der Flucht gewesen. Doch jetzt brannte die Mittagssonne, der Hunger war unerträglich und mein vierjähriger Vater wollte keinen Schritt weitergehen. An jenem Apriltag kurz vor Kriegsende 1945 setzte er sich aus Protest an den Straßenrand in den Staub, obwohl in der Ferne bereits wieder die nächsten Schüsse zu hören waren. „Meine Großmutter hat mir fest zugeredet. Wien ist nicht mehr weit, sagte sie. Doch aus meiner Sicht waren wir unendlich weit weg von zu Hause“, erzählt mein Vater.
- Kennst du schon?: Schulkind im Weltkrieg: Panini-Pickerl und Bespitzeln
Wegen der zu Kriegsende besonders intensiven Bombenangriffe auf die Städte wurden viele Frauen und Kinder damals aufs Land umquartiert. Meine Großmutter, meine Urgroßmutter und mein Vater landeten zu Weihnachten 1944 in Neudorf bei Staatz im Weinviertel direkt an der heutigen tschechischen Grenze, damals Reichsprotektorat Böhmen und Mähren. Doch als die russische Rote Armee ins Burgenland und bald darauf in Richtung Wolkersdorf und Mistelbach vorrückte, ging es nicht mehr um die Flucht vor Luftangriffen, sondern um die Gefahr aus dem Osten. Auch die Richtung Prag zurückweichende deutsche Wehrmacht stellte eine große Bedrohung dar.
Flüchtlingsstrom „wie ein müder Faschingszug“
Mein Vater erinnert sich: „Meine Mutter entschied sich für den Marsch in die entgegengesetzte Richtung. In Wien war unser Zuhause, unsere Verwandten waren dort. Wir brachen nach der Messe am Ostersonntag 1945 (also am 1. April, Anm.) auf. Die Bäuerin, bei der wir untergebracht waren, gab uns Schmalzbrote und eine Flasche Haustrunk aus dem eigenen Keller mit. Alles wurde mit ein paar Decken und Kleidern in einem Kinderwagen verstaut, die Bäuerin machte jedem von uns ein Kreuz auf die Stirne und los ging’s.“
Nach etwa 15 Kilometern Fußmarsch blieben die drei für ein paar Nächte in einem Heustadl bei Hörersdorf (siehe untenstehende Karte), weil das NS-Ortskommando sie nicht in Richtung Wien durchließ. Doch eines Morgens waren die Kontrollen plötzlich weg. Vermutlich hatten sich die Nazis vor den heranrückenden Russen aus dem Staub gemacht. „Also ging es weiter nach Wolkersdorf. Noch vor Erreichen der Stadt wurden wir von der Front überholt. Unser Flüchtlingszug war inzwischen zu einem Treck von 200 bis 300 Leuten angewachsen. Später erzählte man mir, er hätte sich wie ein müder Faschingszug dahingeschleppt. Männer, vielleicht Deserteure, vielleicht Nazis, die sich schuldig gemacht hatten, waren als Frauen verkleidet, um unerkannt zu bleiben, Frauen wiederum als Männer oder mit von Asche gebleichten Haaren als alte Mütterchen, um Vergewaltigungen zu entgehen“, erzählt mein Vater.
„Es war das reinste Wunder!“
Und plötzlich reichte es ihm. Er wollte nicht mehr weitermarschieren. Er setzte sich auf den Boden, maulte und heulte – und sah mitten in seinem Gezeter auf einmal im Straßengraben einen Riesenlaib Brot. „Der Laib Brot war so schwer, dass ich ihn gar nicht allein heben konnte. Er muss von irgendeinem Wagen heruntergefallen sein. Er war noch ein, zwei Tage über unsere Ankunft in Wien hinaus unsere einzige Nahrung“, sagt er.
Von dieser Begebenheit weiß ich, seit ich mich erinnern kann. Denn immer, wenn meine Großmutter zu Lebzeiten davon erzählte, sagte sie: „Es war das reinste Wunder!“
)
Historiker:innen haben errechnet, dass sich mit Beginn des Vorrückens der Roten Armee in Ostpreußen und in den Karpaten eine Flüchtlingswelle von Deutschen, Österreicher:innen und NS-Kollaborateur:innen aus Bulgarien, Rumänien, Ungarn und Jugoslawien in Richtung Westen in Bewegung setzte, die bis zum Fall Wiens und Berlins 14 Millionen Menschen umfasste. Auch dass meine Großmutter, mein Vater und meine Urgroßmutter vom nördlichen Weinviertel aus schließlich die Wohnung meiner Großtante in Wien-Fünfhaus nach Todesängsten und Strapazen unbeschadet erreichten, obwohl die Floridsdorfer Brücke zum Zeitpunkt ihrer Ankunft bereits gesprengt worden war, grenzte für meine Oma an ein Wunder. „Ich weiß heute nicht mehr, wie wir über die Donau gekommen sind. Ich weiß nur, dass wir eines Tages in der Schanzstraße ankamen“, sagt mein Vater.
Vom Krieg in den Frieden ins Nichts
Wie lang sich die drei in der Wohnung in der Schanzstraße im 15. Wiener Gemeindebezirk versteckten, weiß mein Vater nicht mehr. Wohl aber erinnert er sich daran, dass man dort aus gutem Grund Unterschlupf suchte. „Meine Mutter fürchtete damals österreichische Vernaderer und Wendehälse mehr als die Russen. Sie war, gleich nachdem 1938 die NSDAP in Österreich legalisiert wurde, der Partei beigetreten, um endlich eine Wohnung zu bekommen. Der Leumundsbürge, den sie dafür brauchte, schlug ihr vor, den Beitritt um zwei Jahre rückzudatieren, damit das mit der Wohnung schneller ging“, sagt mein Vater. „Ab Ende April 1945 konnte man aber als Illegale plötzlich in einem Viehwagen nach Sibirien landen. Was meiner Oma und ihrer Familie einen Vorteil gebracht hatte, stellte jetzt eine Gefahr für Leib und Leben dar.” (Siehe Infos und Quellen.)
Erst nach dem offiziellen Kriegsende am 8. Mai trauten sie sich, Richtung Guntramsdorf weiterzugehen. Ihr Ziel war ihr Haus in der Holzwebersiedlung (heute Neu-Guntramsdorf), benannt nach Franz Holzweber, der am Dollfuß-Attentat vom 24. Juli 1934 beteiligt war und dafür von den Nazis heroisiert wurde (siehe Infos & Quellen).
Nur der Küchenofen stand noch da
Mein Vater war damals erstaunt: „Die Dörfer im Süden von Wien sahen ganz anders aus als die zerbombte Wienerstadt mit ihren Ruinen. Plötzlich gab es wieder unbeschädigte Häuser, putzig und schön.“ Auch ihr Siedlungshaus war zwar nahezu unbeschädigt, aber es fehlten die Einrichtungsgegenstände. „Wir hatten überhaupt nichts – keine Betten, keine Tische, keine Sessel, keine Scheiben in den Fensterflügeln und vor allem nichts zu essen. Nur ein schwerer Küchenofen stand noch da. Das Backrohr war mit Strom zu beheizen, aber Strom gab es nicht. Die Kochfelder beheizte man mit Holz, aber auch das gab es nicht. Glücklicherweise war es im April nicht mehr so kalt, die Bedrohung, zu erfrieren, war also nicht akut. Wo und wie wir geschlafen haben, ist mir nicht mehr in Erinnerung. Ich weiß nur, dass es stockfinster war, wenn wir die Fenster zugemacht haben, weil es nur Fensterläden gab, aber keine Scheiben.“
Unmittelbar nach der Ankunft in der Siedlung musste meine Großmutter sich bei der sowjetischen Kommandantur in Mödling melden. Sie wurde zur Zwangsarbeit in die Gärten von Steinhof abkommandiert. Von meinem Großvater hieß es, dass er, ebenfalls NSDAP-Mitglied, von seinem Arbeitsplatz im Postamt Wien-Westbahnhof weg verhaftet worden war. Eine Tante übernahm das Kommando über meinen Vater Werner, Jahrgang 1941, und seinen Bruder Heinz, Jahrgang 1933. Es sollte mehr als ein Jahr dauern, bis die beiden ihre Mutter wieder zu Gesicht bekamen, die erst Mitte 1946 aus der Zwangsarbeit entlassen wurde. Der Vater kam erst Ende der 1940er-Jahre zurück.
Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen, dir ist ein Fehler aufgefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.
Infos und Quellen
Genese
Redakteur:innen der WZ haben es sich zur Aufgabe gemacht, in der persönlichen Familiengeschichte zu graben. Konkret handelt es sich um die Jahre der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs, eine Zeit, über die lang nicht gesprochen wurde und über die in den meisten Familien nicht viel bekannt ist. Es geht darum, eine Lücke, die wohl in vielen österreichischen Familien besteht, anzusprechen und den Versuch zu unternehmen, sie ansatzweise zu schließen.
Eva Stanzl hat ihren Vater Werner über seine Kindheit in Niederösterreich am Ende des Zweiten Weltkriegs befragt. Bruchteile der Geschichten kannte sie bereits aus Erzählungen ihrer Großmutter Rosa. Teil 1 seiner Erinnerungen dreht sich um die Flucht vor dem Bodenkrieg im April 1945 vom nördlichen Weinviertel Richtung Wien und dann weiter nach Mödling. In den kommenden Wochen folgt eine weitere Episode zu seinem Verbleib in einem Erziehungslager für Kinder von NSDAP-Mitgliedern, die unbetreut waren, weil ihre Eltern nach dem Krieg Zwangsarbeit verrichten mussten.
Gesprächspartner:innen
Werner Stanzl, geboren 1941 in Mödling bei Wien, Dokumentarfilmer, Journalist und Buchautor.
Rosa Stanzl (1912-2005), meine Großmutter, Näherin, Köchin und ab den 1960er-Jahren Geschäftsfrau in Wien.
Daten und Fakten
Mit Beginn des Vorrückens der Roten Armee ab März 1945 setzte sich eine Flüchtlingswelle in Gang, die bis zum Fall Wiens und Berlins Mitte April 14 Millionen Menschen umfasste. Dabei verloren Kinder ihre Eltern oder sie mussten miterleben, wie Mutter oder Schwester von Rotarmisten vergewaltigt wurden.
Die Bezeichnung „illegale Nationalsozialisten“ bezieht sich auf Personen in Österreich, die zwischen 1933 und 1938, in der Zeit der Ersten Republik, Aktivitäten für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP-Hitlerbewegung) ausführten oder ihr beitraten, obwohl die Partei durch ein Dekret des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß am 19. Juni 1933 verboten worden war. Dieses Verbot blieb bis zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich am 12. März 1938 in Kraft. Diejenigen, die sich in dieser Zeit dennoch für die NSDAP engagierten oder ihr über Untergrundzellen beitraten, galten als „Illegale“.
„Illegale“ nach Kriegende: Von den fast 700.000 ehemaligen NSDAP-Mitgliedern wurden nach 1945 rund 540.000 registriert, davon galten 98.330 als „Illegale“. Diese wurden zusätzlich von den Volksgerichten als „Hochverräter“ verfolgt. So berichtet die Ortschronik des niederösterreichischen St. Egyd zum April 1945: „Die Zeit der Revanche und Verleumdungen ist angebrochen, ob Faschist oder nicht. Jeder, der beschuldigt wird, muss mit einer Festnahme rechnen. Frauen können sich gar nicht so gut verstecken, dass die Russen sie nicht finden. Da sie nur in Rotten auftreten, können sich die Frauen oft nicht wehren. Auch ein Kleinkind auf dem Arm nutzt wenig. Einer Frau wird das Kind aus dem Arm geschossen und sie muss im Anschluss daran vier oder fünf Soldaten gefällig sein. Die Russen finden im Kasten der Oberlehrerwohnung die Uniform eines Parteimannes, worauf sie die Schule anzünden. Niemand darf das Feuer löschen, sie brennt tagelang.“
„Sühnepflicht“ für NSDAP-Mitglieder: Am 17. Februar 1947 trat nach Berücksichtigung zahlreicher alliierter Abänderungswünsche das Nationalsozialistengesetz (NSG) in Kraft. Die registrierungspflichtigen Personen wurden nun in „Belastete“ und „Minderbelastete“ eingeteilt und nach dem Anteil ihrer Betätigung innerhalb der NSDAP beurteilt. Fast alle Registrierten waren „sühnepflichtig“, mussten also Strafsteuern entrichten oder Zwangsarbeit leisten.
Franz Holzweber (1904-1934) war ein österreichischer Nationalsozialist und Putschist. Dem Urteil des Militärgerichts zufolge war er beim Juli-Putsch, ein gescheiterter nationalsozialistischer Umsturzversuch in Österreich am 25. Juli 1934, einer der hauptverantwortlichen Anführer. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 an das Deutsche Reich wurden in mehreren Städten Straßen nach ihm umbenannt.
Quellen
Ludwig Boltzmann Institute for Digital History: Wer waren die illegalen Nazis?
Lebendiges Museum Online: Die Flucht der deutschen Bevölkerung 1944/45
Truppendienst - Magazin des österreichischen Bundesheers: Die letzten Gefechte