Im Kampf gegen die Klimakatastrophe könnten die positiven Kipppunkte die negativen noch abfedern, sagt Klimaforscherin Ilona Otto im WZ-Interview.
Ilona Otto ist optimistisch. Sie ist überzeugt davon, dass wir es schaffen können, wenn wir alle gemeinsam etwas tun, um den Klimawandel zu bremsen. Was das genau ist, was wir tun können und warum wir es tun sollten, erzählt sie im Gespräch mit der WZ.
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Der heurige März war im Vergleich mit den vergangenen fünfzig März-Monaten der bisher wärmste. Eine der vielen Auswirkungen des Klimawandels. Sie beschäftigen sich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen. Welche sind das?
Hitzewellen, zu wenig Wasser, Hochwasser, Ernteausfälle; vor allem für unsere Gesundheit hat der Klimawandel große Auswirkungen. Wir untersuchen gerade die Folgen von Hitze auf Schwangere und neugeborene Kinder. Nicht jede:r kann sich eine Klimaanlage leisten und in vielen Weltregionen gibt es Probleme mit der Stromversorgung. Daher ist es wichtig, die Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren, um die schlimmsten Klimawandel-Folgen zu vermeiden. Wir müssen aber auch mehr an Anpassung denken. Eine Strategie wäre zum Beispiel, öffentliche Räume zu schaffen, wo etwa Mütter mit ihren Kindern vor der Hitze Zuflucht nehmen können.
Die sogenannten Kipppunkte, also etwa jener Zeitpunkt, zu dem das Grönlandeis so weit abgeschmolzen ist, dass es irreversible Konsequenzen für die Erde hat, sind das eine. Sie sprechen aber über sogenannte soziale Kipppunkte. Was meinen Sie damit?
Wenn eine Minderheit die Mehrheit verändern kann. Wenn ein kleiner Teil der Gesellschaft etwas Grundsätzliches bewegt. Kippelemente sind jene Teile eines Systems, die zu schnellen Veränderungen führen, die die Evolution des gesamten Systems beeinflussen können. Ein Beispiel eines Kipppunktes ist etwa, wenn erneuerbare Energiepreise niedriger sind als fossile Energiepreise.
Ein Beispiel eines Kipppunktes ist etwa, wenn erneuerbare Energiepreise niedriger sind als fossile Energiepreise.Klimaforscherin Ilona Otto
Gab es schon solche Kipppunkte in Bezug auf den Klimawandel?
Es ist schwer einzuschätzen. Es gibt aber Zeichen wie eben die Energiepreise, die zeigen, dass wir sehr nah dran sind, beziehungsweise vielleicht haben wir hier sogar schon die Kipppunkte überschritten.
Wären die sogenannten Klimaseniorinnen in der Schweiz ein Beispiel dafür? Sie haben ihr Land verklagt, weil es nicht genug gegen den Klimawandel macht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ihnen recht gegeben.
Das Beispiel passt sehr gut. Wir brauchen Änderungen in den Gesetzen, um die Transformation zu beschleunigen, und das ist ein Beispiel. Wir bräuchten noch mehr solcher Minderheiten, um schnelle Veränderungen herbeizuführen, die auf die globalen CO2-Emissionen Einfluss nehmen.
Wie kommt es zu einem gesellschaftlichen Umschwung?
Wir haben in unserer Forschung sechs mögliche Kippelemente herauskristallisiert. Dazu gehört die Abschaffung von Subventionen für fossile Energien bei gleichzeitiger Förderung der dezentralen Energieerzeugung, der Bau treibhausgasneutraler Städte, die Veräußerung von Vermögenswerten, die mit fossilen Energien verbunden sind, die Aufdeckung möglicher moralischer Dimensionen der fossilen Energien, Verbesserungen in der Klimabildung sowie eine durchwegs transparente Offenlegung von Treibhausgasemissionen. Im Bereich erneuerbare Energien, könnte man sagen, dass wir wahrscheinlich den Kipppunkt schon oder beinahe erreicht haben. Erneuerbare Energien sind für die Masse leistbar geworden. Wenn man etwa ein Haus baut, dann ist die Wärmepumpe die erste Wahl und nicht mehr Öl oder Gas. Und sehr viele haben schon Solaranlagen auf ihren Dächern. Es ist aber schwer zu sagen, ob das globale System schon gekippt ist oder nicht. Ich denke, erst nach mehreren Jahren wird es möglich sein zu sagen, dass das der Punkt war, ab dem sich alles verändert hat.
Wenn man etwa ein Haus baut, dann ist die Wärmepumpe die erste Wahl und nicht mehr Öl oder Gas.Klimaforscherin Ilona Otto
Warum sprechen wir hier von Kipppunkten? Sind Veränderungen nicht ein schleichender Prozess?
Kipppunkte können Gesetzesänderungen sein, die etwa von einem kleinen Teil der Bevölkerung angestoßen wurden, oder wenn jemand beginnt, sein Verhalten zu ändern. Soziale Normen spielen dabei eine große Rolle. Etwa, wenn wir weniger Fleisch essen oder versuchen, weniger zu fliegen und stattdessen mit dem Zug zu fahren. Soziale Kipppunkte sind schwer voraussagbar, weil diese zum Beispiel durch Kriege beeinflusst werden können.
Trotzdem könnte man den Eindruck gewinnen, alles läuft normal weiter. Ich stand letztens in einem Supermarkt und lauschte den Durchsagen: „Heute Schweinefleisch in Aktion, … mit der richtigen Panier kann es gelingen, …“ Kein Wort von Bio, CO2-Emissionen, woher das Fleisch kommt, geschweige denn Tierschutz.
Da gebe ich Ihnen recht. Allerdings ist das nur ein Ausschnitt. Es hat sich schon sehr viel verändert. Die Regale im Supermarkt sind voll mit pflanzlichem Fleischersatz. Immer mehr Menschen sind bereit, auf Fleisch zu verzichten. Meine Student:innen sind stolz darauf, Secondhand-Kleidung zu tragen oder mit dem Fahrrad ihre Wege zurückzulegen.
In unserer Gesellschaft setzt sich aber nur ein geringer Anteil aktiv für den Klimaschutz ein. Die Mehrheit weiß nicht, was sie genau tun soll.
Es gibt viele Möglichkeiten, etwas zu tun. Die Uni Graz zum Beispiel hat Regelungen getroffen, bei denen die Emissionen genau beobachtet werden, vor allem auch bei Dienstreisen. Bei Workshops wird bei uns nur noch vegetarisches oder veganes Essen angeboten. Es gibt auch Unternehmen, in denen Mitarbeiter einen Zuschuss bekommen, wenn sie mit dem Rad ins Büro fahren. Es braucht solche Regelungen, um etwas zu verändern.
Aber Fliegen ist viel billiger …
Ja, weil die Fluggesellschaften keine Steuern für Kerosin zahlen. Landwirt:innen protestieren, weil sie Steuern zahlen müssen, und Fluggesellschaften werden im Gegensatz zum Zug subventioniert. Das ist absurd und gehört geändert.
Das Klimaticket war schon mal ein guter Anfang. Es ist aber noch sehr teuer.Klimaforscherin Ilona Otto
Aber auch in der Politik hat man den Eindruck, dass keine einschneidenden Maßnahmen gesetzt werden.
Das Klimaticket war schon mal ein guter Anfang. Es ist aber noch sehr teuer. Die Politik profitiert noch immer zu sehr von einer fossilen Welt. Es gibt viele Abhängigkeiten. Und es ist schwierig, so mutig zu sein. Deshalb sind FFF-Bewegungen, die Letzte Generation, die Klimakleber, so wichtig. Das führt zu einer Veränderung, auch, wenn man es vielleicht momentan nicht so sieht. Aber diese Bewegung setzt sich in den Köpfen von Entscheidungsträger:innen fest. Das kann dann zu mehr Fahrradwegen, grünen Flächen oder eben zum Ziel der Stadt Wien, bis 2040 klimaneutral zu sein, führen.
Viele der jungen Menschen leben lieber im Hier und Jetzt, als sich mit dem Klimawandel auseinanderzusetzen. Wie erklären Sie einem Teenager die Wichtigkeit dieses Themas?
Das ist schwierig. Auch bei meinen Kindern sehe ich, dass Influencer:innen eine gewisse Macht ausüben können. Sie zeigen schöne Autos, Villen und Swimmingpools. Es ist sehr schwer, mit dieser Frustration, dass man das alles nicht hat oder nicht haben soll, umzugehen. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass diese Bilder schädlich sind. Wenn es nach mir ginge, würde ich diese Art der Fotos beziehungsweise Videos in den Sozialen Netzwerken verbieten. Denn diese Influencer:innen zeigen oft inszenierte Bilder, die oft falsche Lebensvorstellungen beim anderen Menschen verursachen. Für einen Teenager:in ist es wichtig, seine Rolle zu finden, die Welt ein bisschen besser zu machen.
Aber würde sich nicht gerade Social Media gut dafür eignen, etwas in Gang zu bringen? Weg von den Autos hin zum Klimaschutz?
Social Media können ein gutes Instrument sein, ja. Man könnte etwas erreichen, etwa wenn man dem Post über eine Reise nach Thailand eben kein Like gibt. Das hat mit veränderten sozialen Normen zu tun. Aber im Großen und Ganzen sehe ich die Zeit am Handy als Ablenkung und Vereinsamung, es ist das Gegenteil vom gemeinsam aktiv werden und unsere Umgebung positiv zu verändern.
Sprechen Sie zuhause viele Verbote aus?
Nein. Wir reden viel darüber. Ich begrenze die Online-Zeit meiner Kinder. Wir reparieren gemeinsam Sachen, haben einen kleinen Gemüsegarten, wir kochen oft gemeinsam und versuchen, uns vegan oder vegetarisch zu ernähren. Manchmal aber, besonders zu Festen, kochen wir Fleisch, versuchen aber immer, dieses lokal und direkt vom Erzeuger zu kaufen.
Was kann der Einzelne konkret tun?
Es gibt viele Optionen! Für den Emission Gap Report des UN-Umweltprogramms habe ich mit Kolleg:innen ein ganzes Kapitel dazu verfasst, an welchen Schrauben der/die Einzelne drehen kann, um seinen/ihren Lebensstil klimagerecht zu gestalten. Besonders wichtig sind etwa der Verzicht auf das Auto und Flugreisen, eine fleischlose Ernährung und die Verwendung erneuerbarer Energien im Wohnbereich.
Das Einzige, was bis jetzt vorgeschrieben ist, ist die Mülltrennung. Gleichzeitig ist das schon ganz schön viel, wenn man es genau nimmt.
Ja, aber es sind zu viele Verpackungen. Auch hier bin ich für eine Gesetzesänderung. Es sollten nur ein paar Sorten Plastik erlaubt sein, die sich einfach recyceln lassen. Man sollte viel mehr Flaschen und Verpackungen zurückgeben können. Die Verpackungen können wir mehr standardisieren, um die Mehrfachnutzung einfacher zu machen. Das würde vieles verändern.
Eine Frage, die uns in der Redaktion beschäftigt: Bei zum Beispiel Speiseöl stehen vier Behälter nebeneinander: Glas, Plastik, Tetrapak und Metall. Welchen sollte ich wählen?
Ich kaufe am liebsten Glas. Es ist gut recycelbar und man kann es unendlich oft verarbeiten. Aber was definitiv fehlt, ist ein klares Etikett auf jeder Verpackung: wie viel CO2-Emissionen, wie viel Wasserverbrauch, wie ist die Distanz. Das könnte auch ein einfaches Farbsystem sein. Das brauchen wir dringend, um Entscheidungen treffen zu können.
Würde es nicht noch mehr bringen, wenn es mehr Vorschriften geben würde?
Ja, es bräuchte mehr Gesetzesänderungen. Werbung für fossile Brennstoffe etwa gehört verboten oder Werbung für Fleisch im Supermarkt, wie Sie das bereits angesprochen haben, gehört verboten.
Wenn man sich die möglichen Auswirkungen des Klimawandels ansieht, so ist das doch ziemlich schockierend. Etwa, wenn es den Regenwald nicht mehr gibt oder die Permafrostböden auftauen. Sie sind dennoch der Meinung, dass wir es schaffen können?
Ja! Es hängt von uns allen ab. Wenn wir Lösungen suchen, ist alles möglich. Es ist eine Entscheidung, die wir täglich treffen. Ich habe die Hoffnung, dass wir die Klimaziele erreichen. In Österreich sind ja die Emissionen im vergangenen Jahr gesunken.
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Infos und Quellen
Genese
In der Klimawandel-Debatte fallen immer wieder die sogenannten Kipppunkte. Jene Punkte, die etwas Schlimmes hervorrufen, etwa das Abschmelzen der Gletscher. Es gibt aber auch „gute“ Kipppunkte, die vieles verändern können. WZ-Redakteurin Ina Weber hat dazu die Klimaforscherin Ilona Otto von der Uni Graz interviewt.
Gesprächspartnerin
Ilona M. Otto ist Soziologin und Klimaforscherin. Sie ist Professorin für gesellschaftliche Auswirkungen des Klimawandels am Wegener Center für Klima und Globalen Wandel an der Universität Graz und beschäftigt sich mit Klimawandelauswirkung und Nachhaltigkeitstransformation.
Daten und Fakten
Definition Kippelemente, beziehungsweise „Kipppunkt“: Der Begriff „Kipppunkt“ bezieht sich auf einen kritischen Schwellenwert in einem Systemsteuerungsparameter, der nach dem Überschreiten um einen kleinen Betrag ein entscheidendes Systemmerkmal von Bedeutung beeinflusst, was zu einer qualitativen Veränderung im System führt, nachdem eine Referenzzeit verstrichen ist, die das Auftreten des Effekts ermöglicht. Beispiele findest du hier.
Sozialer Kipppunkt: Eine Minderheit von Menschen stößt etwas an, das sich exponentiell ausbreitet, also von vielen übernommen wird.
Sechs mögliche Kippelemente: Subventionen für fossile Energieträger entfernen, CO2-neutrale Städte, Investitionen weg von fossilen Energien, veränderte Normen und Werte, wenn man die Konsequenzen der fossilen Energienutzung sieht, Bildungssystem (es könnten 20 Prozent der direkten Emissionen aus Haushalten reduziert werden), Infos zu Treibhausgasemissionen offenlegen.
Beispiele für gute Kipppunkte: Wärmepumpen erste Wahl, immer mehr Solarenergie, E-Autos, kein tägliches Fleischessen mehr.
Beispiele für schlechte Kipppunkte: unaufhörliche Waldbrände im Amazonas für Weideflächen für Rinder, Eisschilder schmelzen, Auftauen der Permafrostböden.
Das Europäische Klimagesetz: Mit dem Europäischen Klimagesetz, das ein Element des europäischen Grünen Deals ist, soll das Ziel einer klimaneutralen EU bis 2050 in der Gesetzgebung verankert werden. Das bedeutet, dass die Netto-Treibhausgasemissionen verringert werden müssen, nämlich um mindestens 55 Prozent bis 2030 im Vergleich zu 1990.
Die Österreichische Bundesregierung hat sich im Regierungsübereinkommen für die Jahre 2020 bis 2024 festgelegt, die Klimaneutralität bereits mit dem Jahr 2040 zu erreichen. Dazu müssen in jedem Sektor weitreichende Maßnahmen gesetzt werden, welche die THG-Emissionen auf null oder quasi null reduzieren.
Die großen Verursacher sind fossile Energien.
Auszug UN Emission Gap 2020 Report:
Quellen
Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung: Kippelemente - Großrisiken im Erdsystem
Das Thema in anderen Medien
Kleine Zeitung: Der Treibhauseffekt einfach erklärt
Der Standard: Wie zehn Prozent zum Mainstream werden können