Online-Therapieprogramme werden seit 2020 in Deutschland per Rezept verschrieben. Kostenfrei für Kassenpatient:innen. Die „App auf Rezept“ soll noch heuer in Österreich möglich werden.
Sarah geht es nicht gut. Mit der Corona-Pandemie hat sich der psychische Zustand der 27-Jährigen verschlechtert. Der Nebenjob in der Gastro: weg. Das Studium an der Uni: zuhause am Laptop. Freund:innen treffen und ausgehen: gar nicht oder nur beschränkt. „Mir ging es vorher psychisch auch nicht so gut, aber diese Zeit hat das einfach noch schlimmer gemacht“, sagt die Wienerin der WZ. Sarah sagt von sich selbst, dass sie immer wieder depressive Phasen hat. In Psychotherapie ist sie momentan aber nicht. „Mir war klar, ich muss was tun. Aber jetzt zur Ärztin gehen und dann Therapeut:innen suchen und warten, das war mir einfach zu viel“, sagt sie. „Vielleicht denke ich, dass es mir ja nicht schlecht genug geht für eine Therapie und das ist vielleicht auch falsch, aber es ist auch eine Kostenfrage“, erklärt die Studentin und zeigt mir ihre Mental-Health-App am Smartphone. Das Programm begleitet sie in ihrem Alltag. Sie wird immer wieder gefragt, wie es ihr gerade geht und warum es ihr so geht. Sie bekommt Angebote zum Reflektieren und zum Meditieren. Die App kostet Sarah rund 50 Euro im Jahr. Zum Vergleich: Eine Psychotherapiestunde kostet in Wien zwischen 60 und 160 Euro.
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Online-Therapie auf Kasse bald in Österreich
Wie Sarah erging es vielen. Die Corona-Pandemie war eine Ausnahmesituation. Auch für die Psychotherapie in Österreich. Hierzulande sind Online-Therapieangebote nämlich rechtlich nicht gedeckt. Selbst das „Treffen“ mit Psychotherapeut:innen per Videotelefonie war während der Pandemie nur als Ausnahme genehmigt. Mittlerweile wurde das wieder zurückgenommen. Aber lediglich „schwere Fälle“, also etwa Menschen, die wegen starker Ängste oder Depressionen nicht hinausgehen können oder sehr abgelegen wohnen, können dies beantragen. Das soll sich bald ändern.
In Deutschland gibt es zahlreiche zertifizierte Online-Therapieprogramme auf Rezept. Die sogenannten digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) verschreiben Ärzt:innen und sind damit kostenfrei für Kassenpatient:innen. Diese digitalen Begleitprogramme reichen von psychischen Problemfeldern, wie Burn-Out, Ängste und Depressionen bis hin zu Diabetes, Reizdarmsyndrom oder Vaginismus. Die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) will noch heuer DiGA in das System der Kostenerstattung einbinden. Das entsprechende Gesetz wurde im April 2024 im Nationalrat beschlossen. Es laufen bereits Pilotprojekte. Aber: Was können wir von einer Online-Therapie erwarten?
Kein Ersatz, aber zusätzliche Hilfe
„Wer einen Therapieplatz haben will, soll den auch bekommen“, sagt Juliane von Hagen im Gespräch mit der WZ. Die Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche arbeitet für die Online-Therapieplattform „HelloBetter“. Das Angebot bei „HelloBetter“ ist zur Behandlung und Prävention von psychischen Belastungen gedacht. „Wir sind eine zusätzliche Hilfe, kein Ersatz für eine Therapie. Zum Beispiel zusätzlich zu regelmäßigen Therapiesitzungen, zur Nachsorge oder vorneweg, bevor Klient:innen zu Therapeut:innen gehen.“ In Deutschland sind das zwei verschiedene Leistungen. Wer also auf seinen Therapieplatz wartet, kann in der Zeit eine DiGA für drei Monate auf Rezept in Anspruch nehmen. „Therapeut:innen können sehr gut auf solche Anwendungen aufbauen“, sagt von Hagen. Durch die Aufzeichnungen des Tagebuchs oder der Protokollierung der diversen Übungen könne man nachvollziehen, was funktioniert und wo es noch Arbeit braucht. „Die Therapie kann so verbessert werden“, sagt die Digital-Mental-Health-Expertin.
Die meisten der Therapieprogramme basieren auf der kognitiven Verhaltenstherapie bzw. Weiterentwicklungen daraus, wie der Akzeptanz- und Commitmenttherapie. Es gibt Angebote wie Tagebücher und Übungen, Protokolle und Erinnerungsgeber. Aber ganz ohne professionell ausgebildete Menschen geht es nicht. Bei „HelloBetter“ begleiten deshalb Psycholog:innen die Programme. Diese geben regelmäßig Feedback und schalten sich ein, wenn es Teilnehmer:innen schlechter geht und sie weiterführende Hilfe brauchen. Bei vielen Apps können nach dem beendeten Kurs viele Angebote weiter genutzt werden, die Begleitung durch die Therapeut:innen falle aber weg, sagt von Hagen.
User:innen sind älter als gedacht
Seit fast vier Jahren gibt es die „App auf Rezept“ in Deutschland. „Wir haben wahnsinnig viel gelernt“, sagt von Hagen. „Am Anfang haben alle geglaubt, das ist was für junge Leute, aber das Gegenteil ist der Fall. Im Durchschnitt sind die Nutzer:innen um die 45 Jahre alt, über alle Indikationen hinweg. Und es sind häufiger Frauen, da sie sich vermutlich mehr um ihre Gesundheit kümmern“, so die Psychotherapeutin. Die meisten Angebote sind allerdings für Erwachsene ab 18 Jahren zugelassen, weil die meisten Studien mit Erwachsenen gemacht werden. „Das hinkt noch etwas hinterher, aber nach und nach kommen die ersten Zulassungen auch für Jugendliche“, sagt von Hagen.
Wäre das Angebot auch etwas für Sarah? „Das würde ich auf jeden Fall ausprobieren“, sagt die Studentin. Die Mental-Health-Apps am Markt seien derzeit entweder teuer oder nicht so gut, meint Sarah. Ein zertifiziertes Programm, das die Kasse bezahlt, würden sicher viel mehr Menschen in Anspruch nehmen als eine Psychotherapie in einer Ordination, glaubt Sarah. Auch Juliane von Hagen geht davon aus, dass die Hälfte aller Betroffenen keine klassischen Versorgungsangebote in Anspruch nimmt, etwa weil sie ihre Probleme selbst lösen wollen oder keinen Zugang zu Psychotherapie haben. An diese Menschen richten sich Online-Therapieprogramme.
Währenddessen macht Sarah mit ihrer Mental-Health-App weiter. „Ich möchte meine Denkmuster und mein Verhalten verändern, und im besten Fall brauche ich die App gar nicht mehr“, sagt sie.
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Infos und Quellen
Gesprächspartner:innen
Juliane von Hagen: Digital Mental Health-Expertin sowie Psychologin und Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche bei der deutschen Online-Therapieplattform „HelloBetter“.
Sarah aus Wien: Die 27-jährige Studentin möchte ihren Nachnamen nicht nennen, ist der Redaktion aber bekannt.
Daten und Fakten
Ein Viertel der Bevölkerung in Österreich leidet an depressiven Symptomen, 23 Prozent an Angstsymptomen und 18 Prozent an Schlafstörungen. Vor allem junge Erwachsene sind davon betroffen, seit der Pandemie ist die Nachfrage nach Therapiemöglichkeiten stetig gestiegen. (Studie DUK 2021)
Seit Dezember 2019 gibt es das Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz - DVG) in Deutschland, das es ermöglicht, Apps auf Rezept zu verordnen oder Videosprechstunden zu nutzen.
Die Krankenkassen zahlen seit Herbst 2020 für „Apps auf Rezept“. Auch die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) will noch heuer digitale Gesundheitsanwendungen in das System der Kostenerstattung einbinden. Dazu laufen bereits Pilotprojekte. Nach dem Prinzip „digital vor ambulant vor stationär“ sollen digitale Gesundheitsanwendungen Menschen mit chronischen Erkrankungen physischer und psychischer Natur in ihrem Alltag unterstützen.
Quellen
Donau Universität Krems: Psyche seit COVID-19 unter Dauerbelastung
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: DiGA-Verzeichnis
Rechtsinformationssystem des Bundes: Gesamte Rechtsvorschrift für Psychotherapiegesetz
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
kurier.at: Digital gegen Depression: Psychotherapie per App bald auch in Österreich
Abendzeitung: Computer statt Couch: Immer mehr Menschen machen Psychotherapie online
instahelp.me: Therapie vs. Online-Beratung: Was ist eigentlich der Unterschied?
Spiegel.de: „Klar, Taschentuch rüberreichen ist schwierig"
Tagesspiegel.de: Psychotherapie übers Internet: „Die Wirksamkeit von Online-Therapien ist längst belegt“
Therapie.de: Wirksamkeit Online-Therapie