Ein Bürgermeister im Zwielicht: Selbst nach mehr als 100 Jahren ist Karl Lueger ein Thema in der Bundeshauptstadt.
Schön war das nicht, und es hat Kaiser Franz Joseph zweifellos nicht gefreut: Dennoch fand zum allerhöchsten Missvergnügen seiner Majestät am Vormittag des 20. April 1897 die Vereidigung von Dr. Karl Lueger als Wiener Bürgermeister statt. Es war der fünfte Anlauf, und es musste sogar ein Papst eingreifen.
Lueger war am 29. Oktober 1895 gewählt worden. Zum ersten Mal. „Ich erkläre nun hiemit, daß ich, selbstverständlich falls Se. Majestät unser allergnädigster Kaiser und Herr die auf mich gefallene Wahl zum Bürgermeister der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien bestätigen wird, diese Wahl annehme“, sagte er damals laut Wiener Zeitung.
Der kaiserliche Widersacher
Das klingt , als stünde Lueger auf dem Standpunkt, der alternde Herr in der Hofburg würde schon zustimmen. Weshalb denn auch nicht?
Doch Franz Joseph lehnte Lueger ab. Der Kaiser wollte seine Residenzstadt nicht in den Händen eines Antisemiten und Nationalisten sehen. Vereidigt hat er dennoch, wenngleich gegen seinen Willen. Seither prägt Lueger die Stadt und macht es in vielen Facetten bis heute. Selbst etwas scheinbar Unverdächtiges wie der „Öffi-Tag“, mit dem die Wiener Linien am 9. September 2023 ihr 120-Jahr-Jubiläum begehen, hat mit Lueger zu tun: Er war gleichsam der Gründungsvater der Wiener Linien.
Diese Durchdringung Wiens mit Luegers Maßnahmen ist der ideale Dünger für den Zankapfel. Denn Lueger war ein Konservativer, ein Nationalist und Antisemit, der mit seiner Politik Adolf Hitler lehrte, wie auf dem Rücken von Minderheiten und Ethnien Wahlen zu gewinnen sind. Er passt nicht ins Bild von Wien, das sich seit 1919 als „rot“ und in jüngster Vergangenheit als multiethnischer Schmelztiegel versteht.
Vorausschauende Kommunalpolitik
Andererseits war dieser Lueger ein erstaunlich vorausschauender Kommunalpolitiker mit Ideen, die selbst aus heutiger Sicht modern und ganz und gar sozialdemokratisch anmuten.
Der Kaiser und der Bürgermeister: Freunde waren sie nicht und Freunde wurden sie nicht. Luegers Einstellung war der von Franz Joseph entgegengesetzt. Der Kaiser hatte seinen Beamten gegenüber mehrfach bekundet: „Ich dulde keine Judenhetze in meinem Reiche“, und in einem Brief an seine Frau, Kaiserin Sisi, schrieb er: „Der Antisemitismus ist eine bis in die höchsten Kreise ungemein verbreitete Krankheit, die Auswüchse sind entsetzlich.“ Es kann gut sein, dass er dabei an Lueger dachte, denn der Brief stammt aus 1895, dem Jahr, in dem Lueger erstmals zum Wiener Bürgermeister gewählt wurde.
In Wien spiegelt sich das Habsburgerreich
Franz Josephs Denken war darauf ausgerichtet, alle Bürger seines Reichs als gleich anzusehen. Trotz aller Verwerfungen, die letzten Endes zum Ersten Weltkrieg führen sollten, waren nicht weniger als elf Sprachen als Amtssprache anerkannt und noch mehr wurden gesprochen, christliche Religionen standen gleichberechtigt neben dem Judentum und dem Islam. Wäre es nach dem Kaiser gegangen, hätte sich sein Vielvölkerreich zumindest im Denken seiner Residenzstadt widerspiegeln müssen.
Wien in den Händen eines deutsch-völkischen Antisemiten wollte der Kaiser nicht hinnehmen. Knapp eineinhalb Jahre weigerte er sich, Lueger im Amt zu bestätigen. Dann jedoch geriet der Kaiser in eine Zwickmühle. Lueger und seine Anhänger mobilisierten Papst Leo XIII., der entweder über Luegers Antisemitismus hinwegsah oder hinweggetäuscht wurde. Franz Joseph, apostolische Majestät von Gottes Gnaden, musste dem Stellvertreter Christi auf Erden die Bitte erfüllen und ließ Lueger als Bürgermeister Wiens zu.
Der „Herrgott von Wien“
Was darauf folgte, kann nur als Lueger-Hysterie beschrieben werden. Ein Flugblatt verbreitete das Glaubensbekenntnis an den „Herrgott von Wien“: „Ich glaube an Dr. Lueger, Schöpfer des christlichen Wiens und an Herrn Strobach, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist von der antisemitischen Volkspartei, geführt von Dr. Lueger, welcher geboren aus dem christlichen Wien […].“ Was sich heute wie Ironie liest, war damals durchaus ernst gemeint.
Das ist die eine Seite Luegers: die eines völkischen, antisemitischen Demagogen. Sie trug ihm in der jüngeren Vergangenheit mehrmals bunte Beschmierungen seines Denkmals auf dem Dr.-Karl-Lueger-Platz im 1. Bezirk samt einer künstlerischen Intervention ein. Demnächst soll das Monument schräg gestellt werden, damit sich die schiefe Optik des bronzenen Kerls auch historisch weniger Bewanderten mitteilt.
Das Denkmal ist ein Magnet für Demonstrant:innen, und manch einer und manch einem von ihnen entschlüpft für den ehemaligen Bürgermeister eine schlimmere Bezeichnung als „Drecksau“. Die Frage, wer die erste psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt in Wien bauen hat lassen, die nicht nur auf ein Wegsperren der Erkrankten abzielte, können indes nur wenige beantworten.
Luegers andere Seite
Denn diese andere Seite Luegers existiert ebenso: die des vorausblickenden Kommunalpolitikers. Lueger initiierte Sozialprojekte wie den Bau von Krankenhäusern, etwa das Psychiatrische Krankenhaus am Steinhof, und Altersheimen. Vor allem aber war er davon überzeugt, dass die Lebensadern einer Stadt die Sache der Stadt sein müssen und nicht die privater Geschäftsleute, was, genau genommen, ein Ansatz ist, der Sozialdemokraten begeistern müsste. Luegers Rezept hieß Kommunalisierung. Er kommunalisierte die Wasserversorgung, für die er die Zweite Wiener Hochquellenwasserleitung bauen ließ, die Gas- und Elektrizitätsversorgung sowie die Straßenbahnen, woraus die heutigen Wiener Linien entstanden sind.
Die freilich wollen von ihrem Gründungsvater, so scheint es, heute wenig wissen. Befragt, wie man angesichts des Jubiläums am 9. September mit Lueger umzugehen gedenkt, antwortet Pressesprecherin Eunike de Wilde: „Die Wiener Linien haben maßgeblich zur Stadtentwicklung in Wien beigetragen, und auf diesen Aspekt konzentrieren wir uns auch in unserer Kommunikation zum 120-jährigen Bestehen. Im Hinblick auf die 120-Jahr-Feier fokussieren wir daher auf die Auswirkungen, die der öffentliche Verkehr auf die Infrastruktur und das Leben in Wien in den vergangenen 120 Jahren hatte und in Zukunft noch haben wird. Die Rolle des Verkehrsbetriebs während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts arbeiten die Wiener Linien im Verkehrsmuseum Remise sehr detailliert auf.“
Man kommt nicht darum herum, dass bei dieser Distanz, auf die das offizielle Wien zu Lueger geht, vor dem geistigen Auge das Bild eines schmunzelnden Kaisers ersteht: als ob es ihn, letzten Endes, doch gefreut hätte.
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Infos und Quellen
Genese
Der Geschichtsunterricht der Mittelschule vermittelte Edwin Baumgartner eine rein positive Darstellung Karl Luegers. Erst, als sich Baumgartner in Zusammenhang mit Richard Wagner mit anderen Wegbereitern Adolf Hitlers befasste, erhielt das Bild Luegers Kratzer. Sie reichten aus, dass Baumgartner die Person Luegers genauer unter die Lupe nahm. Seither bemüht er sich um die objektive Darstellung eines Politikers, in dessen Denken und Handeln kommunalpolitischer Weitblick mit einer in höchstem Maße abzulehnenden Ideologie verbunden ist.
Gesprächspartnerin
Eunike de Wilde ist Pressesprecherin der Wiener Linien und zweite Pressesprecherin der Caritas, wo sie zuvor Mitarbeiterin der Innovationsabteilung war.
Daten und Fakten
Der Versuch, Karl Luegers Antisemitismus als den zeittypischen Salonantisemitismus kleinzureden, scheitert an den Tatsachen: Einerseits war der Salonantisemitismus keineswegs ungefährlich, denn er verstärkte antijüdische Klischees und trug sie in alle Gesellschaftsschichten; andererseits zeugen Aussagen Luegers von einem weit über gedankenlose Konversation hinausgehenden Antisemitismus. So bekannte sich Lueger ab 1887 öffentlich zum Antisemitismus, den er als Teil seines politischen Programms verstand. Seiner Auffassung nach wurde der Kapitalmarkt von „Geldjuden“ gelenkt, Zuwanderer bezeichnete er als „Betteljuden“ und ihm gegenüber kritische Journalisten als „Tintenjuden“ und Juden allgemein als „Raubtiere in Menschengestalt”. Lueger kritisierte sogar die katholische Kirche: Sie verhalte sich zu zahm gegenüber dem
Unter dem Salonantisemitismus versteht man gemeinhin antisemitische Äußerungen in einem Kreis von Freunden, Bekannten, zumeist in den gehobenen Gesellschaftsschichten (nämlich in jenen, die sich in Salons begegneten), die mit antijüdischen Klischees spielten. Charakteristisch für den Salonantisemitismus war, Juden skrupellose Geschäfte, mehr oder minder unredlich erworbenes Vermögen, Einfluss auf die Presse und dergleichen zu unterstellen. Solche antisemitischen Äußerungen galten als gesellschaftsfähig. Obwohl sie die Basis des radikalen gewaltbereiten Antisemitismus’ waren (und sind), werden sie bisweilen als harmlos eingestuft.
Am 5. Juni 2012 benannte der Gemeinderatsausschuss für Kultur und Wissenschaft den vor der Universität Wien gelegenen Abschnitt der Wiener Ringstraße von Dr.-Karl-Lueger-Ring in Universitätsring um. Der damalige Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny (SPÖ) verstand das als ein Zeichen für einen „differenzierten Umgang” mit Lueger.
Im Juli 2012 wurden die neuen Straßentafeln angebracht. Das Straßenschild mit der Aufschrift „Dr.-Karl-Lueger-Ring", das an der Universität angebracht gewesen war, wurde dem Wiener Jüdischen Museum übergeben und ist in dessen permanenter Ausstellung „Unsere Stadt” zu sehen.
Im Zuge der Diskussionen über die Umbenennung des „Dr.-Karl-Lueger-Ring" in „Universitätsring" stellte die Wiener Stadtverwaltung klar, dass der Dr.-Karl-Lueger-Platz, auf dem das umstrittene Denkmal steht, seinen Namen behält.
Quellen
Aus dem Archiv der Wiener Zeitung, Wiener-Zeitung-Beilage Abendpost vom 29. Oktober 1895, Seite 3, aus Dr. Karl Luegers Rede nach der Wahl: „Bei den letzten Wahlen hat nicht eine Partei gesiegt, sondern das ganze christliche Volk hat den Sieg über seine Feinde errungen. […] Das Volk von Wien will, daß in den Schulen christlicher und nationaler Geist walte, daß die Kinder von Männern ihres Standes und Glaubens unterrichtet, daß den Kindern in den Schulen die Liebe zu ihrer Nation, zu ihrem Glauben und zu ihrem Vaterlande Oesterreich eingeprägt werde.“
Aus dem Archiv der Wiener Zeitung, Wiener-Zeitung-Beilage Abendpost vom 13. November 1895 Seite2f, K. k. Bezirkshauptmann Erich Graf von Kielmansegg am 12. November: „Sollte der Wiener Gemeinderath bei der am 13. November 1895 stattfindenden Bürgermeisterwahl den Gemeinderath Dr. Karl Lueger, dessen erste Wahl seine k. u. k. Apostolische Majestät mit der Allerhöchsten Entschließung vom 9. November 1895 nicht zu bestätigen geruht haben, neuerlich zum Bürgermeister erwählen und sich dadurch mit der Allerhöchsten Willensmeinung in Widerspruch setzen, so sind der Herr Bezirkshauptmann ermächtigt, in meinem Namen die Auflösung des Wiener Gemeinderathes gemäß des § 101 des Gemeindestatutes sofort in offener Sitzung auszusprechen.“
Aus dem Archiv der Wiener Zeitung, Wiener-Zeitung-Beilage Abendpost vom 20. April 1897, Seite 4: „Heute Vormittags um 9 Uhr fand die Beeidigung des neugewählten Bürgermeisters Dr. Karl Lueger statt.“
Jüdische Allgemeine: „Franz Joseph, der Gerechte“
Wien Museum: Raubtiere in Menschengestalt
Das Thema in anderen Medien
Deutschlandfunk: Karl Lueger - Als die Wiener Hitlers Lehrmeister wählten
Der Standard: Lueger nach rechts kippen? Reicht das?
Der Standard: Wien braucht dieses Lueger-Denkmal nicht!
Die Presse: Rinks oder lechts – wohin neigt sich Lueger jetzt?
Die Presse: Wiens selbst ernannte Denkmalstürmer
MeinBezirk.at: Umstrittenes Lueger-Denkmal wird um 3,5 Grad gekippt
profil: Karl-Lueger-Statue in Wien: Das Schandmal