Zum Hauptinhalt springen

Wenn der Krieg anklopft in St. Jakob

12 Min
"Heldenfriedhof" von St. Jakob. Hier liegen Soldaten begraben, die noch halbe Kinder waren.
© Fotocredit: Michael Schmölzer

Der Zweite Weltkrieg hat die Gemeinde St. Jakob im steirischen Joglland verheerend getroffen. Bis heute werden die Menschen dort lautstark an den Fanatismus der Nationalsozialisten erinnert, die einen aussichtslosen Krieg gewinnen wollten.


In St. Jakob im Walde meldet sich der Zweite Weltkrieg regelmäßig zu Wort. Das wissen fast alle hier. Ganz sicher aber weiß es Markus Grabenhofer. Spätestens dann, wenn die Schneidemaschine seines Sägewerks mit lautem Getöse in einen jener Granatsplitter fährt, die hier zu Tausenden in den Bäumen verborgen sind — Relikte aus dem Jahr 1945, die Probleme machen.

Wie viele Sägeblätter in den vergangenen Jahrzehnten Schaden genommen haben, vermag Grabenhofer nicht zu sagen. Auf alle Fälle waren es zu viele. Einige der Sägeblätter, deren Zacken abgerissen sind, hat er aufbewahrt. Deshalb untersucht er mühsam und mit einem Metalldetektor bewaffnet die Baumstämme, um drohenden Schaden abzuwenden. Es sind die Zeugen der Kämpfe, die hier im April und Anfang Mai 1945 zwischen deutschen Soldaten und der Roten Armee stattgefunden haben. Die Splitter sind „ganz groß bis miniklein“, sagt Grabenhofer zur WZ. In den vergangenen Monaten hat er zwei Metallteile gerade noch rechtzeitig entdeckt, in einen aber trotzdem „voll reingesägt“.

Kein Hof hat überlebt

Zu Spitzenzeiten steht Grabenhofer auch nachts in seinem kleinen Werk im Ortsteil Kaltenegg — „Klein-Sibirien“, wie ältere Ortsbewohner scherzhaft sagen. Kein Hof hier hat den Krieg überlebt, erzählt er. In den Tagen kurz vor dem endgültigen militärischen Zusammenbruch waren die Deutschen – ein Konglomerat aus verschiedenen Truppenteilen – genau hier, im oststeirischen Joglland, der Ansicht gewesen, den Krieg noch in letzter Sekunde gewinnen zu können. So fanden östlich von St. Jakob bis zum 2. Mai 1945 Offensiven der Deutschen statt. „Diese Wahnsinnigen“, sagt Grabenhofer und lächelt. Mindestens drei Mal wurde der Ort im April und Mai 1945 von der Roten Armee überrannt und dann von den Deutschen wieder zurückerobert. Mit dabei: Hitlerjugend aus Hartberg. So gut wie jedes Gebäude, jeder Bauernhof, wurde in Schutt und Asche gelegt. Tagelang war das Dröhnen der Geschütze und das entnervende Heulen der Stalinorgeln, eine Art Raketenwerfer, zu hören. Die Lage für die Menschen war verzweifelt, sie zimmerten aus den Überresten ihrer Höfe und Wohnhäuser notdürftig kleine Unterkünfte.

Ein Foto von Markus Grabenhofer, Zimmermann in der Region Joglland.
Markus Grabenhofer mit einem beschädigten Sägeblatt.
© Fotocredit: Michael Schmölzer

Will man nicht fast 80 Jahre später noch Schaden nehmen, ist ein wachsames Auge nötig: „War ein Baumstamm länger mit Metall in Kontakt, dann verfärbt sich das Holz“, weiß der Sägewerksbesitzer und gelernte Zimmermann Grabenhofer, der mit seiner Mutter einen Biobauernbetrieb führt, und der im Sommer und im Winter Gäste beherbergt. Häufig ist die Ursache dafür banal - ein Stück Stacheldraht oder ein gut erkennbarer Nagel -, manchmal aber ist es ein gefährliches Kriegsrelikt. Die, die Bäume fällen müssen, stehen ebenfalls vor Problemen. Bis in die 50er-Jahre hinein wurde mit der Handsäge gearbeitet, da waren die Splitter kein Problem. Doch fährt die Motorsäge in ein metallenes Kriegsrelikt, reißt die Kette, die dann ein Fall für den Mistkübel ist.

Russische Retter

Hier in St. Jakob im Walde kursieren immer noch zahllose Geschichten über die Kämpfe anno 1945, die die völlige Vernichtung des Dorfes zur Folge hatten. Markus Grabenhofers Mutter Rosa, die Bäuerin, kennt viele davon. Da wird erzählt von jenen zwei russischen Soldaten, die um den 20. April herum am späten Abend in das Bauernhaus „Hansl im Arzberg“ treten und die dort ängstlich Zusammensitzenden auf Deutsch auffordern, die Schuhe anzuziehen. Der Hof lag genau zwischen den deutschen und den sowjetischen Linien. Wenig später begannen die Kämpfe, alle hatten sich aber rechtzeitig in einem Stollen in Sicherheit bringen können. Die Rede ist auch von einem hungernden deutschen Soldaten, der am nächsten Tag von den Bauern, die am Rückweg zu ihrem Hof waren, Brot erbat und bekam. In diesem Moment sei das Gehöft „Hansl im Arzberg“ in Brand geschossen worden. Die Verzögerung hätte den freigiebigen Bauern das Leben gerettet, heißt es, denn wären sie schon am Hof gewesen, hätte es kein Entrinnen gegeben.

Kämpfe im Skigebiet

Auf den Gipfeln, wo heute Ski gefahren wird und die Schlepplifte „Ochsenkopf“ und „Leitn“ hinaufführen, wurde am heftigsten gekämpft, sagt Markus Grabenhofer. Die beteiligten deutschen Soldaten waren nicht aus dem Ort. Und manchmal tauchen sie scheinbar aus dem Nichts wieder auf. Einmal, so erinnert er sich - es mag in den 90er-Jahren gewesen sein -, sei ein fremder alter Mann aus Deutschland auf der Bank am Weg gesessen. Er habe erzählt, dass er einst als Soldat hier gekämpft hätte, und führte die Bauern zu einem Stein, wo er damals seine Munition versteckt hätte. Sie rollten den Stein zur Seite und tatsächlich lagen die besagten Patronen darunter.

Der Krieg, er hat sich eingebrannt in die Köpfe aller Beteiligten wie in die Stämme der ausgedehnten Nadelwälder. Nachdem die deutschen Soldaten am 7. Mai 1945 in einer Nacht- und Nebelaktion Reißaus genommen hatten, um nicht in russische Kriegsgefangenschaft zu geraten, und der Spuk vorbei war, lagen auf den Feldern und in den Wäldern um St. Jakob unzählige Waffen. Unter anderem jenes deutsche Maschinengewehr, das Markus Grabenhofers Vater eigenhändig auf der rechten Seite unter dem Dachfirst der Familienkapelle, die unweit des Bauernhofs steht, eingemauert hat: „Damit es nicht in falsche Hände gerät.“ In der Tat war explosives Kriegsgerät einem Nachbarbauern zum Verhängnis geworden, der in der Nachkriegszeit zwei seiner damals kleinen Kinder verlor, weil diese mit den gefundenen Waffen spielten.

Blinde Wut

Unmittelbar nach dem Krieg ließen die Bauern, die ihre Existenzgrundlage verloren hatten, ihre Wut an den gefallenen Soldaten der Roten Armee aus. Den Toten sei manchmal der Kopf eingeschlagen worden, heißt es. In St. Jakob wird erzählt, dass eine russische Einheit nicht wie der Rest den Rückzug angetreten habe, sondern plündernd durch die Gegend zog und die Bevölkerung terrorisierte. Diese Einheit sei plötzlich verschwunden. Ob die Rotarmisten, die Soldaten der Roten Armee, von den Bauern getötet wurden oder ob sie sich zu ihren Linien zurückzogen, ist unklar. Im Fall des Falles hätten die Bauern jedenfalls kein Pardon gekannt, heißt es.

In diesen letzten Kriegstagen wurden auch tausende Frauen und Mädchen vergewaltigt. Rosa Lechner, die zu Kriegsende elf Jahre alt war und die Kämpfe in St. Jakob miterlebt hat, kann das bestätigen: Sie selbst habe „viel Angst“ gehabt. Die russischen Soldaten seien in die wenigen von der Zerstörung verschonten Häuser gekommen, hätten auf die anwesenden Frauen gedeutet und „mitkommen“ befohlen. Sie habe damals freilich nicht verstanden, worum es ging. Die Rotarmisten wären dann mit ihren Opfern im Wald verschwunden.

Ein Foto von Rosa Lechner.
Rosa Lechner erinnert sich an die Luftkämpfe über St. Jakob.
© Fotocredit: Michael Schmölzer

Das Unglück habe schon im Sommer 1944 begonnen, berichtet sie. Da seien Bombergeschwader über St. Jakob in Richtung Wiener Neustadt gezogen, es habe Fliegeralarm und Luftkämpfe gegeben, brennende Trümmer seien vom Himmel gefallen. Sie sei mit ihrem kleinen Bruder an der Hand losgelaufen und habe versucht, sich in Sicherheit zu bringen. Auch Tieffliegerangriffe habe es gegeben, „sie haben auf die Leute geschossen“. Einer etwas jüngeren Nachbarin habe es das Gesicht verbrannt. Rosa Lechner erinnert sich, dass die Russen am 17. April zu Pferd gekommen sind, ihre Gewehre seien mit Bajonetten versehen gewesen, „vor diesen Spitzen haben wir uns besonders gefürchtet“. Der deutsche Volkssturm, Hitlers letztes Aufgebot, das gegen die Rote Armee in Stellung ging, habe „die Russen wütend gemacht“, erzählt Lechner, und sie hätten Bauern erschossen, wenn die Soldaten dachten, dass sie etwas gestohlen oder Deutsche oder Waffen versteckt hätten. Die Szenen, die sich abspielten, waren verstörend: Die Menschen, die sich in den Kellern versteckt hatten, mussten mit erhobenen Händen ins Freie kommen. Überall habe man schon davor weiße Fahnen gehisst. Fallweise durchstöberten die Russen auch die Keller. Ein Rotarmist habe mit dem Gewehr auf einen ihrer Brüder, der damals 16 Jahre alt war, gezielt, berichtet Rosa Lechner. Er habe aber ganz offenbar das Mostfass treffen wollen, das sich hinter dem Bruder befand – um es dann mit seinen Kameraden zu leeren.

„Ich bin geflüchtet“

„Braun war es überall vor lauter Russen“, erinnert sich Maria Ochabauer, die das Kriegsende im nahegelegenen Ratten erlebt hat. Sie war damals 16 Jahre alt und habe Reißaus genommen. „Ich bin geflüchtet, geflüchtet“, sagt sie. Überall hätten Granaten eingeschlagen. Sie habe sich zunächst mit der Tochter des Bauern, bei dem sie arbeitete, im Heuboden versteckt, doch der habe zu brennen begonnen: „Verbrennen wollten wir nicht.“ Sie habe sich dann über die Feistritz in Sicherheit bringen können, weil das Gelände „so steil war, dass keine Russen dort hingegangen sind“. Sie erinnert sich, dass die Sowjets den Bauern den Hafer für ihre Pferde wegnehmen wollten, das habe man aber durch Intervention und Diplomatie in letzter Sekunde verhindern können. Ein Ochse, der über den Semmering in Sicherheit gebracht werden sollte, sei aber von den Russen requiriert worden.

Die Russen hatten unglaubliche Angst, vergiftet zu werden.
Johann Payerhofer

Johann Payerhofer ist der Großvater des aktuellen Bürgermeisters von St. Jakob. Er war 1945 13 Jahre alt und erinnert sich an die Vorliebe der Rotarmisten für den lokalen Most. Allerdings musste immer ein Einheimischer vorkosten, die Russen hätten Angst gehabt, vergiftet zu werden. Je länger man mit Payerhofer spricht, desto mehr Erinnerungen tauchen auf: Erinnerungen an eine verstörende Zeit, scheinbar ungeordnet, die aber den Wahnsinn offenbaren, dem die Menschen in St. Jakob ausgesetzt waren. Das Leben gerettet hat der Familie, so Payerhofer, die massive Eingangstür zum Bauernhaus, die die Wucht einer explodierenden Granate abfangen konnte. Die Tür, die mit handgeschmiedeten Nägeln versehen ist, gibt es heute noch.

Am gefährlichsten, so Payerhofer, seien die weiblichen sowjetischen Soldaten gewesen, die hätten schneller zur Waffe gegriffen als die Männer. Eine Soldatin habe seinen Vater zum Verhör mitgenommen und immer wieder auf Deutsch gefragt: „Wo der Mann gesessen?“ Was sie damit meinte, ist bis zum heutigen Tag nicht klar und wird nie enträtselt werden. Payerhofers Vater ist jedenfalls mit dem Leben davongekommen.

Metallenes Mahnmal auf dem Feld

Auch ein abgeschossener russischer Panzer sorgte dafür, dass die Menschen in St. Jakob lange an den Krieg erinnert wurden. „Der ist 20 Jahre lang hier auf dem Feld gestanden, bis er zerschnitten und abtransportiert worden ist“, sagt Payerhofer. Als Kinder hätten sie jedenfalls viel Spaß mit den Kriegsrelikten gehabt. So hätten sie Leuchtraketen in blecherne Wehrmachts-Proviantbüchsen gesteckt und abgeschossen. Mit einer Maschinenpistole schossen sie auf eine Mauer; da gab es allerdings eine Anzeige und die Gendarmerie sei angerückt. Einem seiner Brüder sei beim Spielen mit einem Kriegsrelikt bei der Explosion desselben ein Auge dauerhaft beschädigt worden.

Ein Foto von Johann Payerhofer, der Großvater des aktuellen Bürgermeisters von St. Jakob und ein Überlebender des Krieges.
Johann Payerhofer vor jener Tür, die ihm und seiner Familie 1945 das Leben gerettet hat.
© Fotocredit: Michael Schmölzer

Der Krieg hat die Menschen in St. Jakob geprägt, auch in dritter und vierter Generation. Im Ortszentrum, neben der Kirche, gibt es einen „Heldenfriedhof“, wo die gefallenen Wehrmachtssoldaten begraben sind, auch wenn die meist nicht aus der Gegend stammen. Der Kameradschaftsbund und das Schwarze Kreuz kümmern sich darum, dass die Erinnerung nicht stirbt und der Soldaten zu Allerheiligen mit Kranzniederlegungen gedacht wird. Beim Kameradschaftsbund gehe es mit „habt acht“ sehr militärisch zu, der Friedhof werde gepflegt, das sei man den „Vorfahren schuldig“, sagt Johann Payerhofer: „Eine gute Sache.“ Die jungen Männer des Ortes werden direkt nach Ableistung des Bundesheerdienstes für den Kameradschaftsbund angeworben, „das gehört automatisch dazu“, heißt es hier im Ort. Von rund 1.100 Einwohnern sind mehr als 200 beim Heimkehrer- und Kriegerverein – manche nur „zahlende“ Mitglieder, manche aktiv. Auch Frauen beteiligen sich.

Gesten der Versöhnung

Im Zeichen der Völkerverständigung gibt es am Heldenfriedhof auch ein Denkmal für die abgestürzte Mannschaft eines US-Bombers, an der Absturzstelle wurde 2009 eine kleine Gedenkkapelle errichtet. Doch „die Granatsplitter in den Bäumen, die wird es in 100 Jahren noch geben“, ist sich Johann Payerhofer sicher.


Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.


Infos und Quellen

Genese

WZ-Redakteur Michael Schmölzer war in St. Jakob im Walde Skifahren, als ihm eine Bäuerin mit Metalldetektor in der Hand über den Weg lief. Die Neugierde siegte, er hat nachgefragt und die Geschichte kam ins Rollen. Unübersehbar auch der “Heldenfriedhof” im Ortskern mit Holzkreuzen und Stahlhelmen. Viele von denen, die hier ihr Leben ließen, waren gerade 18 Jahre alt. Schmölzer konnte daran nicht einfach vorbeigehen.

Gesprächspartner:innen

  • Markus Grabenhofer ist Mitte 30 und führt mit seiner Mutter Rosa den Bühlhofer-Hof im St.- Jakober Ortsteil Kaltenegg, einen Bio-Bauernhof für Urlaub mit Kindern.

  • Rosa Lechners Hof liegt im Ortsteil Steinhöf und ist über eine gewundene Forststraße zu erreichen. Es war erstaunlich, wie präsent die Ereignisse des Jahres 1945 der alten Dame waren.

  • Maria Ochabauer ist die älteste Zeitzeugin, mit der Schmölzer sprechen konnte. Sie war 1945 16 Jahre alt. Während die Rotarmisten zu Kindern meistens nett waren, traf das auf junge Erwachsene nicht mehr unbedingt zu.

  • Johann Payerhofer hat für die WZ-Reportage unermüdlich in seiner Erinnerung geforscht und den Autor auch an damalige Schauplätze geführt.

Quellen

Manfried Rauchensteiner: “Der Krieg in Österreich 1945”, Amalthea-Verlag, 2015. In diesem Buch sind die militärischen Details der Kämpfe im Joglland nachzulesen.

Das Thema in anderen Medien