Seit 2010 regiert Viktor Orbán in Ungarn. Mit Péter Magyar erwuchs ihm nun Konkurrenz aus seinen eigenen Reihen. Seit seinem starken Ergebnis bei der EU-Wahl trauen ihm nicht wenige zu, das System Orbán zu durchbrechen. Kritiker:innen sprechen mangels Programmes von der „Katze im Sack“. Wer ist der Mann?
Der unermüdliche Wahlkampf in Hunderten Städten und Dörfern in ganz Ungarn, praktisch immer im weißen Hemd und mit Piloten-Sonnenbrille, hat sich für Péter Magyar gelohnt. 29,60 Prozent erreichte seine Tisza-Partei bei der EU-Wahl im Juni, und das aus dem Stand und ohne nennenswerte Parteistrukturen. Orbáns Fidesz fiel auf unter 45 Prozent, ihr schlechtestes Ergebnis seit der Machtübernahme 2010. Zuletzt war Orbán nur mehr absolute Mehrheiten gewohnt.
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Der Hauptgrund für das schlechte Abschneiden ist Péter Magyar. Er ist seit kurzem die Lichtgestalt der ungarischen Opposition, auch wenn viele Linke und Liberale ihn eher zähneknirschend als überzeugt unterstützen. Magyar ist ebenso konservativ und steht Orbán in Sachen Populismus kaum nach. Er ist jedoch gemäßigter als Orbán und proeuropäisch. Er verspricht ein Ende der Korruption und eine Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit. Für viele Grund genug, ihn zu wählen.
Während Premier Orbán den ungarischen EU-Ratsvorsitz mit Besuchen bei Wladimir Putin, Xi Jinping und, Donald Trump begann, fuhr Magyar in die Ukraine. Unmittelbar nach dem Angriff auf ein ukrainisches Kinderkrankenhaus und mit Hilfsgütern im Gepäck. Magyar ist zwar ebenfalls gegen Waffenhilfen für das angegriffene Land. Anders als Orbán drängt er die Ukraine aber nicht darauf, eigenes Territorium für einen Friedensschluss unter russischen Bedingungen aufzugeben.
Magyars Herkunft
Spätestens seit dem EU-Wahlerfolg trauen dem 43-jährigen Magyar viele zu, Orbán auch bei den Parlamentswahlen in zwei Jahren gefährlich zu werden. Dabei war er bis vor wenigen Monaten noch weitgehend unbekannt.
Seine Karriere machte der Jurist Magyar im inneren Zirkel Orbáns. Auf Tickets der Fidesz hatte er mehrere diplomatische Positionen inne. Bis vor einem Jahr war er zudem mit der Justizministerin Judit Varga verheiratet, die ebenfalls der Fidesz angehört. Mittlerweile sind die beiden geschieden.
Zum Bruch mit seiner früheren Partei kam es, als eine umstrittene Amnestie in einem Pädophilie-Fall bekannt wurde. Laut einem Gerichtsurteil hatte der Vizedirektor eines Waisenhauses nahe Budapest jahrelangen Kindesmissbrauch seines Chefs gedeckt und Missbrauchsopfer zu Falschaussagen genötigt. Kurz vor einem Besuch des Papstes in ebenjenem Waisenhaus wurde der Mitwisser jedoch amnestiert, wie im Frühjahr bekannt wurde.
Tausende gingen daraufhin in Budapest auf die Straße, der Fall wurde über Wochen zum bestimmenden Thema. Er war besonders pikant, da sich Fidesz seit Jahren den Kinderschutz auf die Fahnen schreibt, vor allem wenn es um vermeintliche LGBTQI+-Rechte geht.
Bald war die Lage für die Regierung nicht mehr beherrschbar, es kam zum Rücktritt von Präsidentin Katalin Novák und von Justizministerin Varga, die als Justizministerium die Begnadigung gegengezeichnet hatte.
Magyars 180°-Wendung
In diesen Wochen sah Magyar seinen Zeitpunkt gekommen. Er schaffte es, die anhaltende Proteststimmung für sich zu nutzen und rief selbst zu Großdemos auf. Er habe genug von der Korruption und den Lügen der Regierung, wiederholte er beständig – und traf damit einen Nerv.
Ein Zeugnis dieser Korruption veröffentlichte Magyar in diesen Tagen selbst. Auf einem heimlichen Mitschnitt eines Privatgesprächs mit seiner Ex-Frau – Ministerin Varga, beschrieb diese ausführlich, wie die Regierung bei Korruptionsermittlungen intervenierte. Unliebsame Ergebnisse wurden auf Geheiß Orbáns direkt aus einer Ermittlungsakte gestrichen, wie Varga darin erklärt. Die Aufnahme schlug hohe Wellen: Korruption ist in Orbáns Ungarn alles andere als neu, aber selten war sie so greifbar.
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Wenige Wochen später gab Magyar bekannt, bei den EU-Wahlen zu kandidieren, und zwar an der Spitze der seit 2021 bestehenden Kleinpartei Tisza (Langform: Tisztelet és Szabadság Párt, deutsch „Respekt und Freiheit“). Für eine eigene Parteiengründung blieb wegen der nahen EU-Wahl nicht genug Zeit.
Seitdem war Magyar fast durchgehend auf Wahlkampf in Hunderten ungarischen Gemeinden. Zu seinem rasanten Aufstieg verhalf ihm auch sein professioneller und intensiver Auftritt in den sozialen Medien. Seine Gegner:innen kritisieren hingegen den übertriebenen Personenkult um ihn.
Zu Magyars Versprechen zählt es, die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen und die Korruption beenden. Er wolle Bildungs- und Gesundheitssystem, beide kaputtgespart, auf neue Beine stellen. Er wolle die Beziehungen zur EU verbessern und dabei auch die Ukraine unterstützen, aber nicht zu sehr.
Was kann Ungarn von Magyar erwarten?
„Magyar kopiert Orbáns erfolgreiche Politik aus den frühen 2010er-Jahren, als Orbán sich noch nicht den politischen und wirtschaftlichen Interessen Russlands und Chinas angeschlossen hatte“, sagt Andrea Pető, Politikwissenschaftlerin an der CEU Wien, zur WZ. Magyar gebe sich als Unterstützer von EU und USA, wolle aber im Gegenzug die Kontrolle über innere Angelegenheiten behalten.
Laut Pető ist er die „Katze im Sack“, denn er drehe sich nach dem Wind und bemühe sich tunlichst, Orbáns Staatsapparat keine Angriffsfläche zu bieten. Noch wisse niemand, welche Politik er am Ende tatsächlich verfolgen werde. „Nach allem, was wir bisher wissen, unterscheiden sich seine Ansichten nicht wesentlich von jenen Orbáns. Etwa im Bereich Frauenrechte, LGBTQI+ oder Zuwanderung. Das ist erschreckend“, sagt Pető. Sie sieht in ihm vor allem einen Populisten, wenn auch nicht ganz so rückwärtsgewandt und nationalistisch wie Orbán.
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Luca Flora Soltesz, Junior Fellow und Politikanalystin am polnischen Thinktank Visegrad Insight: „Magyar will seine Wähler:innen maximieren. Deshalb bleibt er in seinen Aussagen so vage wie nur möglich, um nicht angreifbar zu werden.“ Bevor er sich an heikle und in Ungarn kontroverse Themen wie LGBTQI+- und Minderheitenrechte wage, sage er lieber gar nichts dazu. Anders als andere Oppositionspolitiker:innen habe er sich etwa auch bei der Budapest Pride nicht gezeigt.
„Mit Sicherheit kritisieren viele, dass er kein klares Programm hat. Aber momentan reicht es für die meisten seiner Anhänger:innen, dass er eben nicht Orbán ist, um ihn zu wählen“, sagt Soltesz. Dass er die Tätigkeit als Abgeordneter im EU-Parlament angenommen habe, könne ihm nur nutzen, meint sie. „Einerseits, um sein Netzwerk in Europa auszubauen. Anderseits natürlich auch für die mediale Präsenz, und um sich als demokratische Alternative zu positionieren.“
Klar ist: Irgendwann wird sich Magyar stärker deklarieren müssen. Denn die wirkliche Härteprobe steht noch bevor: die ungarische Parlamentswahl im Frühling 2026. Bis dahin wird Orbán wohl alle Mittel einsetzen, um seinen Herausforderer zu bekämpfen, bis hin zu (bisher unbegründeten) Vorwürfen, dass er aus dem Ausland finanziert werde. Erste Versuche, Magyar etwa wegen privater Verfehlungen anzupatzen, gab es bereits. Auch für seine parlamentarische Tätigkeit in Brüssel werde er wohl Kritik bekommen, vermutet CEU-Expertin Pető.
Noch aber hat Magyar das politische Momentum an seiner Seite. Er war der erste, der die jahrelange Lähmung der ungarischen Politik beendete. Anders als die bisherige Opposition steht Magyar für frischen Wind und für die reale Chance auf einen Regierungswechsel.
Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Magyar braucht erst noch ein größeres Team, die nötigen Strukturen und eine dauerhafte Finanzierung – momentan besteht diese vor allem aus den Spenden seiner Anhänger:innen. Und er braucht noch viel Ausdauer. Zumindest die scheint er zu haben.
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Infos und Quellen
Genese
Der Autor verfolgt Péter Magyars Erfolgswelle seit seinem Erscheinen auf der politischen Bühne im Frühjahr. In kürzester Zeit gelang ihm, woran die Opposition seit Jahren scheitert: Zur kritischen Kraft im Land zu werden, die dem System Orbán gefährlich werden könnte. Magyar steht für den Neuaufbruch, den Ungarn laut Meinung vieler so dringend braucht. In welche Richtung er genau strebt, ist noch unklar. Für die meisten seiner Unterstützer:innen ist das aber nicht so wichtig, wie der Autor selbst bei der EU-Wahlkampf-Abschlusskundgebung Magyars in Ungarn in Erfahrung brachte.
Quellen
Recherche vor Ort (Juni 2023)
Interview Andrea Pető, Politikwissenschaftlerin CEU Wien
Interview Luca Flora Soltesz, Politikanalystin am Thinktank Visegrad Insight
Das Thema in anderen Medien
Der Standard: Péter Magyar – Messias, Rattenfänger oder Hoffnungsträger?
Die Presse: Péter Magyar: „Viktor Orbán hat schon weiche Knie“
Deutsche Welle: Ungarns Politneuling Magyar: Chance auf Zukunft ohne Orban?