Es ist bereits möglich, aus alten Medikamenten neue herzustellen. Warum das trotzdem noch nicht in die Praxis umgesetzt wird, erklärt der deutsche Forscher Markus Heinrich.
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In Österreich verweist man in Sachen Altmedikamenten-Forschung auf Ihre Forschungsgruppe, auf die Universität Erlangen-Nürnberg. Sind Sie wirklich die einzigen, die sich mit dem Thema Recycling von Altmedikamenten befassen?
Unseres Wissens gibt es aktuell nur unsere Forschungsgruppe, die sich mit der Thematik befasst.
Sie beschäftigen sich mit der Wiederverwertung von Altmedikamenten. Wie sind Sie dazu gekommen?
Dazu muss man etwas ausholen. Unsere Arbeitsgruppe ist in der pharmazeutischen Chemie angesiedelt, sprich wir entwickeln neue Wirkstoffe. In der Wirkstoffforschung geht man dabei häufig von bekannten Medikamenten aus. In einem ehemaligen Projekt ging es um ein sehr teures Medikament, welches wir für Forschungszwecke gebraucht hätten. Anstatt es über einen Chemikalienhändler oder in der Apotheke zu kaufen, ist der Gedanke entstanden, wir könnten ja abgelaufene Medikamente einsammeln und damit forschen.
Durch die stetig wachsende Zahl und Menge zurückgewonnener Wirkstoffe können wir Forschungseinrichtungen beliefern.Markus Heinrich
Hat das Einsammeln von abgelaufenen Medikamenten funktioniert?
Ja, ich muss sagen, es war ein großer Erfolg und wir haben dafür bisher sehr viel positive Resonanz erhalten. Nach einer Probephase mit mehreren ausgewählten Apotheken haben wir uns entschlossen, einen Sammel-Container vor dem Universitätsgebäude aufzustellen, über den die ortsansässigen Apotheken ihre Altarzneimittel bei uns abgeben können. Mittlerweile konnten wir sogar unser Einzugsgebiet ausweiten. Etwa 300.000 Menschen haben nun die Möglichkeit, Altmedikamente an bestimmten Sammelstellen abzugeben und diese somit der Forschung zur Verfügung zu stellen.
Und was machen Sie mit den vielen alten Medikamenten?
Zunächst sortieren wir die Altmedikamente und entfernen dann die Verpackung. Anschließend trennen wir im Labor die in den Tabletten oder Kapseln enthaltenen Hilfsstoffe ab und gewinnen so den Wirkstoff zurück. Ein allgemeines Verfahren gibt es übrigens nicht, das Vorgehen ist für jeden Wirkstoff anders und wir arbeiten ständig an der jeweiligen Optimierung.
Es ist verboten, ein Altarzneimittel ein zweites Mal für den Menschen oder das Tier einzusetzen.Markus Heinrich
Wie viele Wirkstoffe konnten Sie bis jetzt gewinnen?
Im Jahr 2022 waren von vier Tonnen gesammelten Altarzneimitteln etwa 50 Prozent für unsere Forschungsarbeiten nutzbar. Über die Sammlung stehen uns grundsätzlich etwa 500 verschiedene Wirkstoffe zur Verfügung, wobei wir mittlerweile mehr als 200 Wirkstoffe hinsichtlich ihrer Rückgewinnung untersucht haben. Durch die stetig wachsende Zahl und Menge zurückgewonnener Wirkstoffe können wir neben unserer eigenen Universität nun auch andere deutsche Forschungseinrichtungen beliefern.
Wenn das so gut funktioniert, weshalb wird das nicht im großen Stil gemacht? Wenn man nichts verschwendet, sondern aus Altem etwas Neues produziert, ist das doch eine gute Sache.
Das hat unter anderem auch rechtliche Gründe. In Deutschland ist es verboten, ein Altarzneimittel ein zweites Mal für den Menschen oder das Tier einzusetzen. Sprich: Alte Arzneimittel dürfen nicht wiederverwendet werden. Durch die Rückgewinnung der Wirkstoffe kommt man jedoch zurück auf die Stufe der Rohstoffe. Diese können als Forschungschemikalien oder auch in der Lehre eingesetzt werden, wobei eine Anwendung an Menschen oder Tieren aber weiterhin ausgeschlossen bleibt.
Altmedikamente kann man nicht wie Altglas sammeln.Markus Heinrich
Außer der gesetzlichen Ebene, welche Herausforderungen gibt es noch?
Das Sammeln von Altmedikamenten ist nicht einfach. Besonders das von den Wirkstoffen ausgehende Gefährdungspotenzial stellt eine Herausforderung dar. Bei Sammelstellen und -containern muss somit sichergestellt sein, dass niemand anderer Zugang zu den gesammelten Altmedikamenten bekommt. Deshalb kann man Altmedikamente nicht wie Altglas sammeln. Der Container vor unserem Institutsgebäude wird deswegen auch sorgfältig überwacht. Wenn man die Sammlung größer denken will, braucht man dafür zuverlässige Partner, etwa große Uni-Kliniken oder Großhändler.
Wenn das Einsammeln sichergestellt werden würde, wäre es dann denkbar, dass ihr Verfahren auch für Unternehmen interessant sein könnte?
Neben dem schon aufwendigen Einsammeln der Altmedikamente muss man auch den Aufwand der Sortierung und der Entfernung der Verpackung einbeziehen. Für den Maßstab der Forschungschemikalien ist das realistisch, für größere Mengen mit industrieller Anwendung der Rückgewinnung ist eine Sammlung aber kaum mehr sinnvoll. Man kann die Rückgewinnungsverfahren jedoch auch auf industrielle Fehlchargen anwenden, wobei dann große Mengen ohne vorherige Sortierung zur Verfügung stehen. Daran zeigen Pharmafirmen Interesse und wir haben bereits erste Kooperationsprojekte begonnen.
Wie sieht diese Zusammenarbeit aus? Heißt das, dass Sie die Firma mit Wirkstoffen beliefern und diese stellt damit Medikamente her?
Nein, wir bekommen von der Pharmafirma etwa 100 Kilogramm einer Fehlcharge und optimieren damit das Verfahren zur Rückgewinnung des Wirkstoffs. Unsere besten Proben werden dann an die Pharmafirma zurückgesandt und im Labor der Firma unter den Bedingungen der üblichen Eingangskontrolle untersucht. Damit wollen wir überprüfen, ob wir mit unserer Rückgewinnung wieder die auf dem Weltmarkt übliche Reinheit erreichen.
Welche Wirkstoffe könnten Sie rein theoretisch sofort auf den Markt bringen?
In den Industriekooperationen sind wir erst noch bei der Optimierung der Verfahren, wobei wir für drei Wirkstoffe, darunter das bekannte Ibuprofen, hinsichtlich der Reinheit schon das Weltmarktniveau erreicht haben. Der nächste Schritt ist eine Optimierung im industriellen Maßstab, die nur beim Industriepartner erfolgen kann. Um das Verfahren dann tatsächlich anwenden zu können, sind eine Anmeldung und eine entsprechende Freigabe durch die zuständigen Behörden erforderlich.
Ibuprofen wird tonnenweise aus China oder Indien importiert. Diese Mengen müsste man erst einmal aus Altmedikamenten herausholen.Markus Heinrich
Warum macht man dann nicht aus Ibuprofen wieder Ibuprofen? Anstatt Neues herzustellen?
Hier muss man die Frage stellen: Lohnt sich das? Bei vergleichsweise billigen Medikamenten wie Ibuprofen wahrscheinlich nicht. Man muss sich vorstellen, dass Ibuprofen tonnenweise aus China oder Indien importiert wird. Diese Mengen müsste man erst einmal aus Altmedikamenten herausholen. Hier würde man ganz schön viel wieder einsammeln und sortieren müssen, um auch nur ansatzweise an den Bedarf der Menschen heranzukommen.
Doch es gibt angesichts der Risiken am Weltmarkt, mit Lieferkettenengpässen, doch ein großes Bedürfnis der Länder, sich unabhängiger zu machen. Würde Ihre Methode dabei nicht helfen?
Bei solchen Überlegungen sind vor allem die wirtschaftlichen Hintergründe entscheidend. Solang die Versorgung mit Medikamenten als weitestgehend gesichert angesehen wird, was aktuell der Fall zu sein scheint, wird es wahrscheinlich keine größeren Initiativen für mehr Unabhängigkeit der Arzneimittelversorgung geben. Sollte sich dies zukünftig jedoch ändern, kann die Rückgewinnung von Wirkstoffen für Notsituationen durchaus eine Option darstellen, da sehr gut optimierte Rückgewinnungsverfahren ja zu keinerlei Einbußen in der Qualität der Wirkstoffe führen. Wir werden auf jeden Fall weiter an der Ausweitung und der Optimierung der Rückgewinnungsverfahren arbeiten. Und, sollte dieses Wissen doch einmal für eine Krisensituation gebraucht werden, steht es dann zur Verfügung.
Kann man aber trotzdem sagen, dass es nachhaltiger ist, ein Medikament beziehungsweise einen Wirkstoff wiederzuverwerten, als ein neues zu produzieren?
Ja, das hängt aber eben sehr stark vom jeweiligen Wirkstoff und von der Quelle der entsprechenden Altarzneimittel ab. Bei billigen Wirkstoffen und hohem Sortieraufwand hat man keine Chance. Umgekehrt sind teure Wirkstoffe, die zudem noch als sortenreine Fehlcharge zur Verfügung stehen, natürlich eine gute Ausgangsbasis. Generell kann man sagen, dass ein Kilogramm eines durchschnittlichen Medikaments bei seiner Produktion etwa das 200-Fache an Abfall produziert hat. Viele Herstellungsverfahren von Medikamenten verursachen deshalb auch eine erhebliche Umweltverschmutzung.
Wann kommt das erste nachhaltige Medikament auf den Markt?
Für ein Medikament, das auf der vorherigen Rückgewinnung des enthaltenen Wirkstoffs basiert, ist das schwer zu sagen. Neben wirtschaftlichen Faktoren spielt dabei auch die Freigabe durch die Behörden eine Rolle und gegebenenfalls auch eine mögliche Krisensituation im Sinn eines dramatischen Versorgungsengpasses. Eine Verbesserung der Nachhaltigkeit kann aber auch durch die Optimierung bestehender Produktionsverfahren nach Umweltkriterien erreicht werden. Medikamente sind für die Umwelt eine Belastung, in erster Linie durch die Ausscheidung des Menschen, bei der Rückstände im Abfluss landen und schlussendlich im Boden oder in Gewässern. Aber auch durch die Produktionsweise und teilweise Medikamentenverschwendung werden Schäden verursacht. Eine gute Aufklärung über die fachgerechte Entsorgung von Medikamenten sowie eine nachhaltigere Produktion können hier viel helfen.
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Infos und Quellen
Genese
Tonnen von Medikamenten landen im Müll. Entweder, weil Patient:innen nicht gut organisiert sind und sich immer wieder neue Medikamente holen, obwohl sie noch dieselben zuhause haben. Oder, weil Medikamente nicht richtig entsorgt werden. Aber auch, weil neue, nicht angefangene Packungen nicht an andere Patient:innen weitergegeben werden dürfen. Auch diese Medikamente werden einfach verbrannt. Wäre es nicht ressourcenschonender, wenn man alte Medikamente wieder in Umlauf bringen könnte? An der Uni Erlangen wird dazu seit Jahren geforscht. Es ist übrigens die einzige Forschungsgruppe, die sich mit diesem Verfahren beschäftigt. Nach WZ-Recherche gibt es in Österreich dazu keine Forschungen.
Gesprächspartner
Markus Heinrich forscht an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg, Abteilung Pharmazeutische Chemie, Department Chemie und Pharmazie.
Daten und Fakten
OECD-Studie: 3 bis 50 Prozent der Medikamente landen im Müll
Sammelcontainer vor der Uni in Erlangen-Nürnberg, wo ansässige Apotheken Altmedikamente abgeben können. Die zurückgewonnenen Wirkstoffe können, je nach Reinheit, als Forschungschemikalien, bei der Lebensmittelkontrolle oder für die Wirkstoffentwicklung in der medizinischen Chemie genutzt werden – nicht aber für den Wiedereinsatz an Mensch und Tier.
Europaweite Awareness-Kampagne
Quellen
Pharmig (Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs)
Euronews: Arzneimittel-Rückstände im Abwasser
Leading Minds Network: Ungenutzte Medikamente erneut abgeben