35 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Gesellschaft immer noch gespalten, bei vielen die Angst vor dem sozialen Abstieg groß. Das ist brandgefährlich.
Fast im Wochentakt berichten deutsche Medien von Angriffen auf Politiker:innen oder einfache Parteimitglieder, die Bandbreite reicht von Beleidigungen bis zu schweren Körperverletzungen. Betroffen sind alle Parteien, egal ob SPD, Grüne oder AfD – wobei Letzterer immer wieder vorgeworfen wird, durch ihren Rechtsextremismus für die Entwicklung mitverantwortlich zu sein. Die Stimmung in der Bevölkerung ist schlecht, der gesellschaftliche Zusammenhalt gering.
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Verdoppelung der politisch motivierten Kriminalität
Im Gegensatz zu Österreich sammelt man in Deutschland Zahlen zu politisch motivierter Gewalt. Das Bundeskriminalamt schlüsselt in seiner Statistik ausführlich auf, welchen politischen Richtungen welche Delikte zuzuordnen sind. Hier wurden im vergangenen Jahr 3.561 politisch motivierte Gewalttaten verzeichnet (umgelegt auf Österreichs Bevölkerungsgröße wären das etwa 356, also fast eine täglich). Bei der politisch motivierten Kriminalität insgesamt (also etwa auch Sachbeschädigungen und Vandalismus, Bedrohungen, Beleidigungen, verbotene Propaganda oder Verhetzung) gab es 60.028 Delikte – eine Verdoppelung innerhalb der vergangenen zehn Jahre. Knapp die Hälfte aller politisch motivierten Straftaten und zwei Drittel der Gewalttaten konnten aufgeklärt werden.
Nicht von ungefähr warnt der Präsident des deutschen Bundeskriminalamts, Holger Münch, vor Radikalisierungstendenzen, „die bis hin zu einer versuchten Delegitimierung des Staates und seines Gewaltmonopols reichen. Diese Entwicklung müssen wir sehr ernst nehmen, denn sie bedroht unsere Demokratie und unseren gesellschaftlichen Frieden.“ Innenministerin Nancy Faeser von der SPD ortet „einen neuen Höchststand von Straftaten, die sich gegen unsere offene und freiheitliche Gesellschaft richten“, und „eine Eskalation der politischen Aggression mit immer stärkeren Einschüchterungsversuchen und Übergriffen gegen Bürgerinnen und Bürger, die sich politisch engagieren, sich im Ehrenamt für unsere Gesellschaft engagieren oder bei der Polizei und Rettungsdiensten für andere da sind. Wir müssen unmissverständlich zeigen, dass der Rechtsstaat diese Gewalt nicht hinnimmt.“
Rhetorische Gewalt und Hassexzesse in Sozialen Medien münden letztlich in konkrete politische Handlungen.Politologin Dorothee de Nève
Aber woher kommt sie? Wo sind ihre Wurzeln? Die Politologin Dorothee de Nève von der Justus-Liebig-Universität Gießen unterscheidet bei den Gewalttaten der vergangenen Jahre zwei unterschiedliche Falltypen: „Es handelt sich entweder um Menschen, die bewusst Gewalt als Instrument gegen politische Gegner zum Einsatz bringen. Oder es handelt sich um Menschen, die gravierende psychische Probleme haben und aufgrund einer Erkrankung gegenüber Personen gewalttätig werden.“ Und sie hat keine guten Nachrichten für jene, die meinen, Hass im Netz wäre vergleichsweise harmlos. „Aus der Forschung wissen wir, dass rhetorische Gewalt und Hassexzesse in Sozialen Medien letztlich in konkrete politische Handlungen münden. Es wäre eine Illusion zu hoffen, die Hasskultur würde in der digitalen Sphäre verharren.“
Wenn Kommunalpolitiker:innen, Bürgermeister:innen und Wahlkampfhelfer:innen auf offener Straße oder bei Veranstaltungen angegriffen werden, hat das schwerwiegende Folgen, erklärt die Politologin. „Es gibt Menschen, die sich so weit einschüchtern lassen, dass sie ihr Engagement aufgeben, um sich und ihre Familien zu schützen. Viele, insbesondere Frauen, nehmen aufgrund dieser zunehmenden Gewalt von vornherein Abstand davon, überhaupt für ein politisches Amt zur Verfügung zu stehen.“ Forderungen nach mehr Polizeischutz für Politiker:innen kann sie angesichts der aktuellen Ereignisse nachvollziehen, auch wenn damit „eine wesentliche Qualität der demokratischen politischen Kultur kaputtgeht“. Denn: „Die Nahbarkeit deutscher Politiker und politischer Institutionen wird zerstört, wenn Parlamente und Regierungsgebäude hinter hohen Mauern verschwinden und Politiker von Bodyguards und mit Panzerfahrzeugen geschützt werden müssen.“
Wachsende Ungleichheit spaltet die Gesellschaft
Der Politologe und Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge verortet eine wichtige Wurzel politisch motivierter Gewalt in der wachsenden Ungleichheit, die er als „Gift für die Demokratie und das Kardinalproblem unserer Gesellschaften“ bezeichnet. „Das Klima wird rauer, die Aggressivität und die Gewaltkriminalität nehmen zu.“ Auch dreieinhalb Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung ist Deutschland immer noch auf eine spezielle Art geteilt. Knapp 230 Milliardäre gibt es im Land. „Wissen Sie, wie viele davon im Osten leben?“, fragt Butterwegge und gibt gleich selbst die Antwort: „Man ist nicht ganz sicher, ob es einen einzigen gibt oder ob der doch nur nahe dran ist und knapp unter der Milliarde liegt.“
Die Spaltung der Gesellschaft schürt Hass und Rassismus.Politologe Christoph Butterwegge
Vor allem viele Ostdeutsche fühlen sich als Opfer der sozioökonomischen Ungleichheit. „Diese Spaltung der Gesellschaft, die wachsende Konkurrenz, die neoliberale Standortlogik, mit der andere zwangsläufig abgewertet werden – all das schürt Hass und Rassismus“, ist der Politologe überzeugt. Seit rund drei Jahrzehnten beobachtet Butterwegge die Armut in Deutschland, insbesondere die Kinderarmut. „Etwas hat sich dabei seither verändert. Es gibt keine klare Ost-West-Spaltung mehr, sondern Verbesserungen im Osten und Verschlechterungen im Westen. Das Ruhrgebiet ist zum neuen Armenhaus der Republik geworden, während Städte wie Dresden, Leipzig oder Potsdam boomen. Das heißt aber nicht, dass Armut in Ostdeutschland zum Auslaufmodell geworden ist.“
Angst vor Armut macht gewalttätiger als echte Armut
Die Angst vor dem sozialen Abstieg, das Gefühl, zu den Verlierer:innen zu gehören und von der regierenden Politik im Stich gelassen zu werden, ist in Hinblick auf die Gewaltbereitschaft gefährlicher als echte Armut, meint der Politologe: „Die Alleinerzieherin im Bürgergeld, die am Zwanzigsten des Monats nicht weiß, wie sie die restlichen Tage etwas Warmes auf den Tisch bekommen soll und ob ihr womöglich der Strom abgedreht wird, die hat weder die Zeit noch das Geld, um zur Demo vor dem Kanzleramt zu fahren. Die Armen haben jedenfalls andere Sorgen, als sich ein Messer zu besorgen und auf einen Politiker oder einen Islamgegner einzustechen.“
Allerdings reduziert Armut die demokratische Teilhabe, warnt Butterwegge: „Wir haben hier in Köln ein Hochhausviertel mit 24,5 Prozent Wahlbeteiligung, während sie im Villenviertel, wo etwa Stefan Raab oder Toni Kroos wohnen, bei 88,5 Prozent liegt.“ Das führt die repräsentative Demokratie, in der alle Schichten gleichermaßen und gleichberechtigt an der Politik teilhaben sollen, ad absurdum.
Illegale politische Partizipation
An sich könnte man Gewalt auch als eine Form politischer Partizipation deuten, freilich als eine illegale, meint Politologin de Nève. „Die Legitimation politischer Gewalt ist indes von den politischen Kontexten abhängig: Bei dem missglückten Attentat gegen Adolf Hitler handelte es sich um eine illegale Tat. Zugleich wird dieser Akt der Gewaltanwendung als legitimes Instrument des politischen Widerstands gedeutet.“ In einem demokratischen Kontext gibt es diese Legitimation politischer Gewalt nicht, betont de Nève. „Demokratien zeichnen sich gerade dadurch aus, dass es mit dem politischen Kontrahenten einen fairen, eben demokratischen Wettbewerb gibt. Insofern lassen sich auch mit Blick auf rechtsradikale Tendenzen bei der AfD keine Legitimationsketten für Gewaltanwendungen gegen sie konstruieren.”
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Infos und Quellen
Genese
Fast schon im Wochentakt berichten Medien über Angriffe auf politisch aktive Personen in Deutschland, bei denen die Opfer mitunter schwer verletzt werden. WZ-Redakteur Mathias Ziegler hat sich die Zahlen des deutschen Bundeskriminalamts zum Thema politisch motivierte Gewalt angesehen und mit zwei Politolog:innen darüber gesprochen, wo diese wurzelt.
Gesprächspartner:innen
Christoph Butterwegge, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln
Dorothée de Nève, Professorin für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen
Sonja Kock, Pressesprecherin des deutschen Bundesministeriums des Innern und für Heimat
Daten und Fakten
Die Zahl der politisch motivierten Straftaten in Deutschland ist im Jahr 2023 um 1,89 Prozent auf 60.028 Delikte angestiegen. Damit befindet sich die politisch motivierte Kriminalität auf dem höchsten Stand seit Einführung des Meldedienstes im Jahr 2001. Die mit Abstand höchsten Zahlen von Straftaten insgesamt, von Gewalttaten und Gewaltopfern gibt es durch politisch rechts motivierte Taten.
Das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) legt in Bezug auf politisch motivierte Gewalt Schwerpunkte auf die Erkennung von Personen und Netzwerken sowie auf die Bekämpfung der digitalen Hasskriminalität. „Dass die Zahl der Hasspostings stark gestiegen ist, ist auch ein Ergebnis der stark gestiegenen Eingänge in der Zentralen Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet“, erläutert BKA-Präsident Holger Münch. „Hier zeigt sich: Die Strafverfolgung wird effektiver. Daran müssen wir anknüpfen, um Hass im Netz zu stoppen und damit auch reale Gewalt zu verhindern.“
Besonders stark waren die Anstiege bei Straftaten gegen Asylwerber (plus 75 Prozent) und Asylunterkünfte (plus 50 Prozent). Im vergangenen Jahr wurden 321 Fälle von Gewalt gegen Flüchtlinge verzeichnet, also fast einer pro Tag. Bei Brandstiftungen gab es sogar eine Zunahme um zwei Drittel auf 117 Delikte. Stark angestiegen sind auch die Straftaten im Bereich der ausländischen Ideologie, nämlich um 33 Prozent auf 5.170 Taten, im Bereich der religiösen Ideologie haben sie sich sogar auf 1.458 Straftaten verdreifacht. In beiden Bereichen haben die Gewalttaten ebenfalls deutlich zugenommen. Hier dürften insbesondere die jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten Auswirkungen auf die Straftatenentwicklung in Deutschland haben.
Insgesamt ist die Hasskriminalität in Deutschland im Jahr 2023 um knapp 48 Prozent auf rund 17.000 Fälle angestiegen. Einen starken Rückgang um zirka 30 Prozent gab es hingegen Im Themenfeld „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ mit 1.300 Straftaten. Delikte wie Beleidigung, Nötigung und Erpressung sind teilweise deutlich zurückgegangen, was darauf zurückgeführt werden kann, dass die Sicherheitsbehörden verstärkt mit Maßnahmen gegen Personen aus diesem Spektrum vorgegangen sind. Auch das Protestgeschehen im Zusammenhang mit den Covid-Schutzmaßnahmen ist stark rückläufig und wohl hauptverantwortlich für den Rückgang im Bereich der sonstigen politisch motivierten Kriminalität von 24.080 um gut 30 Prozent auf 16.678 Straftaten. Hier gab es auch weniger Gewaltdelikte, was für einen insgesamten Rückgang der politisch motivierten Gewalttaten um insgesamt etwa zwölf Prozent auf 3.561 Delikte sorgte – in allen anderen Bereichen ist die Anzahl der Gewaltdelikte im Jahr 2023 gestiegen. Auch die Zahl der Verletzten ist gestiegen: 1.759 Menschen Personen erlitten im vergangenen Jahr gesundheitliche Schäden (2022: 1.660); dass dieser Anstieg nicht noch viel stärker war, lag am Rückgang im Bereich der Covid-Maßnahmengegner:innen von 546 auf 337 Verletzte. Drei Menschen wurden getötet, dazu kamen siebzehn Tötungsversuche.
Quellen
Statistik des Bundeskriminalamts zur politisch motivierten Kriminalität in Deutschland
Pressemeldung des deutschen Bundeskriminalamts zu politisch motivierter Gewalt
https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2024/05/meldung-pmk-2023.html
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
Die Zeit: Die Welt zu Gast bei Feinden
Tagesschau: Gewalt gegen Politiker – „Ein wesentlicher Grund sind Ohnmachtsgefühle“
Der Standard: AfD-Mitarbeiter brüstete sich mit Gewalt gegen linken Aktivisten
Tagesschau: Angriffe auf Politiker – Die besondere Rolle der AfD
ZDF: Gewalt gegen Politker – „Die Wut wächst und Schuldige werden gesucht“
Deutschlandfunk: Politikwissenschaftler: Rechte Gewalt ernst nehmen