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IS-Camps in Syrien: Die Brutstätten der Radikalisierung

7 Min
Zwar gilt der IS militärisch als besiegt, doch seine Ideologie lebt weiter. Nicht nur über soziale Netzwerke, in denen sich junge Menschen radikalisieren – sondern vor allem hier, in den Lagern.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Die IS-Camps in Syrien sind ein logistischer Knotenpunkt für radikale Strukturen in Europa. Eine Recherche vor Ort zeigt, wie die Ideologie weiterlebt – und welche Gefahr sie für uns bedeutet.


„Viele der Insass:innen in den Lagern sind immer noch hochradikalisiert. Erst kürzlich hatten wir einen Fall, bei dem ein 13-Jähriger mehrere der erwachsenen Frauen geschwängert hat. Damit eine neue IS-Generation entsteht. Diese Kinder sind sehr indoktriniert“, erzählt mir Jihan Hamza, Mitglied des Syrischen Frauenrates, als wir in ihrem Büro in der Nord-Ost-Syrischen Stadt Qamishli Tee trinken. „Diese Radikalisierung in den Camps bei uns wird auch ein Problem für euch in Europa werden“, sagt Jihan ernst.

Jihan und ich sprechen über die Attentate in Villach, Mannheim, Solingen und München. Europa erlebt gerade eine neue Welle der Radikalisierung. Viele der Täter bekennen sich zum sogenannten „Islamischen Staat“. Zwar gilt der IS militärisch in Syrien und im Irak als besiegt, doch seine Ideologie ist nach wie vor lebendig. Nicht nur über soziale Netzwerke, in denen sich junge Menschen radikalisieren – sondern vor allem hier, in den Lagern im kurdischen Gebiet Syriens.

Ich bin an den Ort gereist, an dem die Ideologie einst in den damaligen IS-Hochburgen groß geworden ist: Nordostsyrien, die kurdisch dominierte Region Rojava, wo heute noch tausende ehemalige IS-Kämpfer und -Anhänger:innen in von kurdischen Milizen bewachten Lagern inhaftiert sind. In den Lagern sind rund 50.000 Menschen untergebracht, darunter circa 6.000 Frauen und Männer aus Europa, die einst nach Syrien gereist sind, um sich dem IS anzuschließen. Die meisten von ihnen waren damals noch sehr jung – gelockt durch geschickte Propaganda-Videos reisten sie nach Syrien, um dort im damaligen Kalifat zu leben. 2019, als die letzten IS-Hochburgen gefallen sind, wurden vor allem Frauen und Kinder evakuiert und in die Lager gebracht.

Was passiert in der Region?

Nicht nur die Situation in den Lagern schürt die Unsicherheit in der Region: Seit dem Sturz von Baschar al-Assad im Dezember 2024 steckt Syrien in einer Phase großer Umbrüche. Das Miliz-Bündnis Hayat Tahrir al-Sham (HTS) hat eine Übergangsregierung gebildet, die von vielen Ländern nicht anerkannt wird. In den letzten Wochen kam es zu Eskalationen der Gewalt, besonders gegen die alawitische Minderheit, wobei Hunderte Zivilist:innen ums Leben kamen. Die Lage bleibt extrem angespannt, es kommt weiterhin zu Kämpfen und Menschenrechtsverletzungen. Die Türkei erhöht den Druck auf die kurdischen Gebiete, was zu weiteren Spannungen führt.

Jihan Hamza leistet Deradikalisierungsarbeit in den Lagern Al Hol und Roj. Sie leitet dort Workshops mit den Insass:innen und ihren Kindern und bietet psychosoziale Beratung an: Gemeinsam erarbeiten sie kritisches Denken gegenüber extremistischer IS-Ideologie.

Jihans Anwesenheit dort wird nicht von allen dort begrüßt: Ihr Zelt wurde von radikalen Insassinnen niedergebrannt, ihre Hunde getötet – einer geschlachtet, der andere lebendig verbrannt. Jihan zeigt mir Fotos und Protokolle der Vorfälle.

Junglöwen des Kalifats

Viele der Frauen haben Kinder mit IS-Kämpfern bekommen – die Kinder sind in den Camps aufgewachsen und kennen die Außenwelt nicht. Sie wachsen in einem eigenen Mikrokosmos auf, befeuert durch ihre teilweise immer noch radikalisierten Mütter: Einige von ihnen haben sich von der Ideologie abgewandt, andere wiederum hoffen auf ein erneutes Erstarken des IS und ein neues Kalifat. Die Lager gelten deshalb als Brutstätten der Radikalisierung – Buben werden hier zu Kämpfern ausgebildet. So fanden kurdische Milizen im Lager Al Hol Tunnel, die für das Training der „Junglöwen des Kalifats“, einer IS-Jugendorganisation, genutzt wurden. Mittlerweile werden Buben im Teenager-Alter in anderen Gefängnissen untergebracht, um nicht mehr unter dem Einfluss der Frauen zu sein – die ganz radikalen Frauen organisieren sich in der „Hisba“, der einstigen Sittenpolizei des IS, und attackieren jene, die sich lossagen wollen, erklärt mir Taha Khalil, Projektleiter der österreichischen Volkshilfe in den Kurdengebieten. Auch er ist arbeitsbedingt oft in den Lagern.

Trotz Bewachung durch Spezialeinheiten ist die Situation schwer einzudämmen: Angriffe auf Ärzt:innen, Sozialarbeiter:innen, geschmuggelte Waffen und Messerattacken innerhalb der Camps kommen immer wieder vor. Für im Lager arbeitende Menschen gibt es Tage, an denen sie nicht zur Arbeit erscheinen – die Gefahr ist für sie zu groß.

IS-Schläferzellen und digitale Netzwerke

In einem vom Krieg zerstörten Gebäude in Qamishli treffe ich auch einen kurdischen Kommandanten, der für die Abwicklung von Rückführungen ehemaliger europäischer IS-Anhängerinnen zuständig ist. Er tritt nicht unvermummt an die Öffentlichkeit, filmen oder aufnehmen darf ich ihn nicht – nur mitschreiben. Off-the-Record erzählt er mir aber: „Ganz ehrlich, natürlich wollen wir sie loswerden, und sie wieder nach Europa schicken, am liebsten würden wir ja sagen, dass ihr eure Terroristen wieder zurücknehmen sollt - wir haben hier genug Sorgen. Aber ich muss dir sagen: Wenn eine Frau so viele Jahre in so einem Umfeld verbracht hat, wird sie kein normales Leben führen können. Eure Regierungen müssen da wirklich vorsichtig sein."

Wenn eine Frau sich deradikalisiert zeigt, wird sie von anderen angegriffen.
Kurdischer Kommandant

Ich will wissen, was genau er damit meint. „Viele der Frauen stehen in direktem Kontakt mit IS-Schläferzellen in Europa. Früher per WhatsApp, heute über Telegram. Wenn in Europa ein Attentat passiert, wird hier gefeiert. Wenn eine Frau sich offen deradikalisiert zeigt, wird sie von anderen Frauen im Lager angegriffen.“, erzählt er. „Wir wissen auch nicht immer alles über diese Frauen: Viele verweigern uns jegliche Informationen darüber, wer sie eigentlich sind, woher sie stammen. Manche wollen auch gar nicht raus oder zurück – sie hoffen weiter auf ein Wiedererstarken des Kalifats.“ Bei einigen funktioniert die Deradikalisierung aber dennoch, meint er.

Rückführungen nach Europa

Während ich in vor Ort in der Region bin, werden zwei ehemalige IS-Anhängerinnen aus Österreich auf ihre Rückführung vorbereitet: Maria G. und Evelyn T. Beide reisten vor knapp zehn Jahren nach Syrien, bekamen dort Kinder mit IS-Kämpfern. Der IS verlor 2019 sein letztes Territorium im syrischen Baghuz durch die Offensive der von den USA unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), was die militärische Niederlage des IS bedeutete. Danach lebten Maria G. und Evelyn T. jahrelang in den Lagern. Nun kehren sie mit ihren Kindern nach Österreich zurück.

Das österreichische Außenministerium bot Maria G. bereits seit 2019 an, ihre Kinder zurückzuholen, Maria hätte in Syrien bleiben müssen – diese Variante lehnte sie ab. Nun entschied das Bundesverwaltungsgericht die Rückführung Marias gemeinsam mit den Kindern. Maria ist derzeit auf freiem Fuß, muss sich aber einem Strafverfahren stellen.

Evelyn T. hingegen wurde nach ihrer Ankunft in Wien sofort verhaftet. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Ihr drohen bis zu fünf Jahre Haft. Das Gericht begründet die U-Haft mit Flucht- und Tatbegehungsgefahr: Personen, die sich über Jahre im IS-Gebiet aufgehalten haben, seien noch immer radikalisiert und könnten in Österreich oder Europa Anschläge planen, heißt es auf WZ-Anfrage aus dem Landesgericht für Strafsachen. Die Tatbegehungsgefahr liegt aus der Sicht der Anwältin von Evelyn T, Anna Mair, nicht vor: Evelyn sei im Lager von radikalen Frauen getrennt gewesen und habe sich dort unauffällig verhalten, so die Anwältin. Die Rückführungskosten tragen die Frauen selbst. Sicherheitsmaßnahmen wie Gefährderansprachen und Waffenverbote wurden für alle Betroffenen verhängt. Die Entscheidung darüber, wie es jetzt für beide Frauen weitergeht, liegt nun bei der Justiz.

Was bedeutet das für uns?

Die Sicherheitslage in den Lagern, in denen Maria G. und Evelyn T. bis vor kurzem gelebt haben, eskaliert, doch internationale Hilfe bleibt aus. Den kurdischen Milizen fehlt es an Ressourcen, um die Kontrolle zu behalten.

Ein Hoffnungsschimmer könnte das jüngste Abkommen zwischen der kurdischen Selbstverwaltung und der syrischen Übergangsregierung sein: Die SDF sollen in staatliche Strukturen integriert werden, um eine stabilere Sicherheitslage zu schaffen. Doch viele Kurd:innen stehen dem skeptisch gegenüber, da der neue Präsident Ahmad al-Sharaa früher Verbindungen zu Al-Qaida hatte. Der internationale Konsens lautet aber, dass er sich ideologisch stark gemäßigt haben soll. Ob dieses Abkommen Stabilität bringt oder die Radikalisierung weiter fortschreitet, wird direkte Auswirkungen auf Europa haben - darüber sind sich all meine Gesprächsparnter:innen hier in Rojava einig.


Noch mehr spannende Details über die Region der Gefangenenlager für IS-Frauen erzählt Aleksandra Tulej in unserem WZ-Podcast „Weiter gedacht“ -> hier könnt ihr ihn hören:


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Infos und Quellen

Genese:

In den Lagern Nordostsyriens entsteht gerade eine neue radikale Generation des IS, die auch Folgen für Europa hat. Um die Situation vor Ort besser zu verstehen, reiste stv. Chefredakteurin Aleksandra Tulej in die Region. Vor Ort sprach sie mit Expert:innen, darunter Mitglieder des Syrischen Frauenrates, kurdische Sicherheitskräfte sowie NGOs, die in den Lagern tätig sind.

Gesprächspartner:innen:

  • Jihan Hamza, Mitglied des Syrischen Frauenrats

  • Taha Khalil, Projektleiter Österreichische Volkshilfe in den Kurdengebieten

  • SDF-Kommandant (Anonym)

Daten und Fakten:

  • Das Al-Hol-Camp liegt im Nordosten Syriens, etwa 40 Kilometer östlich von Al-Hasaka, in einem von den kurdisch dominierten Syrisch Demokratischen Kräften (SDF) kontrollierten Gebiet. Das Camp beherbergt hauptsächlich Frauen und Kinder, die als Angehörige von ehemaligen mutmaßlichen IS-Kämpfern gelten. Die Männer, die als aktive IS-Kämpfer identifiziert wurden, befinden sich in der Regel in getrennten Gefängnissen oder Haftanstalten, die ebenfalls von den SDF verwaltet werden.

  • Im Jahr 2022 wurden laut Europol 380 Personen in der EU wegen terroristischer Straftaten festgenommen. Die meisten dieser Festnahmen standen im Zusammenhang mit dschihadistischem Terrorismus.

  • Der sogenannte Islamische Staat (IS) ist eine dschihadistische Terrororganisation, die 2014 ein selbsternanntes Kalifat in Teilen Syriens und des Iraks ausrief. Er entstand aus Al-Qaida im Irak und nutzte extreme Gewalt, um Gebiete zu kontrollieren und eine radikale Interpretation des Islam durchzusetzen. Der IS verübte Massenmorde, Anschläge auf der ganzen Welt und versklavte unzählige Menschen – diese Taten wurden als Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Durch internationale Militärinterventionen verlor er bis 2019 sein gesamtes Territorium, bleibt aber als Untergrundbewegung aktiv. Heute agiert der IS vor allem durch Schläferzellen, Online-Propaganda und Ablegergruppen in verschiedenen Regionen der Welt.

Quellen

Das Thema in der WZ

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