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Die vielleicht sehr kurze Stunde des Benny Gantz

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Benny Gantz (Bild) wäre für die US-Regierung die Lösung des Problems Netanjahu.
© Illustration: WZ, Bildquelle: REUTERS

Der israelische Politiker Benny Gantz ist der erbittertste Gegner von Benjamin Netanjahu. Die US-Regierung glaubt, mit Gantz ein leichteres Leben zu haben. Ist also Gantz der kommende Mann für Israel?


Benny Gantz hat Benjamin Netanjahus Kriegskabinett der nationalen Einheit verlassen. Damit protestiert Gantz dagegen, dass der israelische Ministerpräsident bis jetzt noch keinen Nachkriegsplan für den Gazastreifen vorgelegt hat. Bringt Benny Gantz damit Netanjahu ins Wanken?

Aus heutiger Sicht: Nein. Aber die israelische Innenpolitik ist für Überraschungen binnen weniger Stunden und Tage gut. Im Moment kann sich Netanjahu nach wie vor auf eine solide Mehrheit in der Knesset stützen. Dass sich die Nationale Einheitspartei von Gantz mit ihrem Antrag auf Neuwahlen durchsetzt, gilt als unwahrscheinlich. Niemand will während des Kriegs gegen die Hamas zusätzlich ohne unmittelbare Not eine innenpolitische Instabilität herbeizuführen.

Wer ist Benny Gantz und wofür steht er?

Benny (Benjamin) Gantz, am 9. Juni 1959 in Kfar Chaim geboren, hat eine Karriere in der israelischen Armee gemacht und ist zum Generalleutnant aufgestiegen. 2005 bis 2007 war Gantz Oberbefehlshaber des Israelischen Heeres und von 2011 bis 2015 Generalstabschef der israelischen Verteidigungsstreitkräfte. Von Mai 2020 bis Dezember 2022 war er israelischer Verteidigungsminister, zunächst im Kabinett Netanjahu-Gantz und ab Juni 2021 im Kabinett Bennett-Lapid. Im ersten Kabinett war er zeitgleich alternierender Ministerpräsident, im zweiten war er stellvertretender Ministerpräsident. Gantz trat mit einem Mitte-Links-Parteienbündnis bei der Parlamentswahl 2019 an und unterlag dem Likud von Netanjahu. Bei den Neuwahlen im September des Jahres wurde seine Partei stärkste Kraft in der Knesset, brachte jedoch – ebenso wie sein Rivale Netanjahu – keine Koalition zustande. Aus den daraufhin notwendig gewordenen Wahlen des Jahres 2020 ging das derzeit Israel regierende Bündnis rechter und ultrarechter Parteien unter Führung Netanjahus hervor. Seither gilt Gantz als erbitterter Gegner Netanjahus. Ab Oktober 2023 gehörte er als Minister ohne Geschäftsbereich dem überparteilichen Kriegskabinett an, das Netanjahu in Folge des Terrorüberfalls der Hamas gebildet hat. Vielleicht war es als Zeichen gedacht, dass Gantz an seinem Geburtstag, also am 9. Juni, diese Funktion zurücklegte und Neuwahlen fordert.

Wofür Gantz steht, lässt sich ist lässt sich auf die Formel bringen: Gegen alles, was Netanjahu will. Im Hintergrundgespräch über die derzeitige Situation in Israel beantwortet der in Österreich geborene israelische Autor Naftali Hirschl die Frage nach Gantz‘ Taktik kurz und bündig so: „Was Gantz im Schild führt, weiß er wahrscheinlich selbst nicht.“

Ist Benny Gantz der kommende Mann, der Netanjahu ablösen wird?

Gantz gilt aus derzeitiger Sicht als einziger israelischer Politiker, der bei Wahlen Chancen hätte, Netanjahu zu besiegen. Allerdings müssten diese Wahlen so bald als möglich kommen. Denn die Gunst der Wähler:innen wendet sich mittlerweile wieder Netanjahu zu. Laut der Zeitung Maariv hätte noch Ende März eine Mehrheit von 45 Prozent der Israelis Gantz als Ministerpräsidenten bevorzugt; Netanjahu wäre auf 38 Prozent gekommen. Damit ist es vorbei. Derzeit liefern sich beide Politiker ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit beinahe täglich wechselndem Vorsprung. Offenbar fürchtet Gantz, dass ihn Netanjahu spätestens dann uneinholbar abhängt, wenn es der Armee gelingt, weitere Geiseln zu befreien und eine Zerschlagung der Hamas glaubhaft zu machen.

Vor dem Hintergrund des Machtkampfes zwischen Netanjahu und Gantz ist auch dessen Drohung im März 2024 zu verstehen: Bereits zu diesem Zeitpunkt, als die Zustimmung zu Gantz in der Bevölkerung auf einem Höhepunkt war, stellte er das Ultimatum, er werde das Kriegskabinett verlassen, sollte die Wehrdienstbefreiung für Ultraorthodoxe verlängert werden. Hätte sich Gantz damals durchgesetzt, hätte er möglicherweise den Austritt der ultraorthodoxen Koalitionspartner Netanjahus bewirkt und Neuwahlen in einer für Gantz vorteilhaften Stimmungslage herbeigeführt. Die Eskalation blieb allerdings aus, weil das Finanzministerium die entsprechende Gesetzesvorlage als undurchführbar zerriss.

Wer und was spricht für Benny Gantz?

Der Unterschied zwischen globaler Außen- und israelischer Innenansicht ist groß. Während Joe Bidens US-Regierung eindeutig Gantz favorisiert und Netanjahu für das größte Problem einer Lösung für den Nahen Osten erachtet, hält Hirschl Gantz für den Vertreter einer Appeasement-Politik mit zu weitreichenden Zugeständnissen an die Palästinenser:innen. In der Vergangenheit war Gantz allerdings eher Falke als Taube. Gantz scheint in beide Richtungen zu taktieren. Beispielsweise vermeidet er in der Frage der Zweistaatenlösung das Wort „Staaten“: Er spricht nicht von einer „Two-State Solution“, sondern von einer „Two-Entity Solution“. Die Differenzierung lässt anklingen, dass Gantz den Palästinenser:innen zwar ein Territorium zugesteht, aber offenbar nur eine eingeschränkte Souveränität. Dennoch hält die derzeitige US-Regierung Gantz offenbar für den geeigneteren Partner, um die eigene Vorstellung einer Zweisaatenlösung auf den Weg zu bringen. Vor allem viele jüngere Israelis und die ohnedies pazifistisch gesinnten linken Kräfte würden einer Lösung à la Gantz oder Biden zustimmen, während Konservative und Orthodoxe, auf die sich die Regierung Netanjahu stützt, gerade nach dem Terror vom 7. Oktober 2023 in jeder Form einer festgeschriebenen Zwei-Gebiete-Lösung die Belohnung für Terrorismus sieht. So ist Hirschl überzeugt, dass Zugeständnisse Israels lediglich als Beweis eines erfolgreichen Zusammenspiels von Terror und Opferrolle wahrgenommen würden; das würde zwangsläufig weiteren Terror nach sich ziehen.

Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag muss sich Israel gegen den Vorwurf des Völkermords an den Palästinenser:innen verteidigen. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs hat einen Haftbefehl gegen Netanjahu beantragt. Wieso verliert er in Israel nicht an Reputation – eher im Gegenteil?

Wiederum muss man zwischen Außen- und Innenansicht differenzieren. Außerhalb Israels ist man versucht, das vom Vorgehen des israelischen Militärs verursachte Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung als Maß für den Umgang mit der israelischen Regierung anzulegen. In Israel selbst sieht das anders aus. Israel ist ein flächenmäßig kleines Land: Den Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober 2023 empfinden viele Israelis als physisch unmittelbar nahe. Die große Zahl der Terroropfer führt dazu, dass beinahe jeder in Israel jemanden kennt, der durch den Terror am 7. Oktober Schaden genommen hat. Das Gefühl, dass jede:r vom Terror unmittelbar betroffen sein kann, verursacht, dass vielen eine harte Haltung gegenüber den Palästinenser:innen geboten scheint. Jeder neue Terrorangriff, der von Palästinenser:innen oder in deren Namen durchgeführt wird, festigt Netanjahus Position der Unnachgiebigkeit.

Netanjahu vermag dabei ein Sendungsbewusstsein zu vermitteln, dass er allein Israel ein für alle Mal in die Rolle des Löwen zu versetzen vermag, den man nur unter größter Gefahr für das eigene Wohlergehen und das der Familie reizen kann. Das wirkt für viele Israelis anziehend. Hirschl fühlt sich in der Mehrheit der Israelis, wenn er sagt: „Netanjahu gehört meine Loyalität besonders in Krisenzeiten. Wenn Bibi spricht, fühlt man sich in seinen Vorstellungen abgeholt.“

Könnte ein Wechsel der israelischen Führung von Netanjahu zu Gantz zumindest den Anfang der Lösung des Nahostkonflikts bedeuten?

Das ist höchst zweifelhaft. Für einen ersten Schritt in Richtung einer dauerhaften Lösung bedarf es seitens der Palästinenser:innen und aller ihrer politischen Vertreter:innen des glaubwürdigen Grundkonsenses, dass Israel ein souveräner Staat ist, dessen Existenzrecht außer Zweifel steht. Solange die Zeichen nicht zumindest ansatzweise in diese Richtung zeigen, mag Netanjahu international isoliert scheinen, in Israel aber als Garant für die Souveränität der Nation wahrgenommen werden. In diesem Fall wäre die Stunde des Benny Gantz vorüber, ehe sie geschlagen hat.


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Infos und Quellen

Genese

Wer ist dieser Benny Gantz, der dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu die Stirn bietet? – Schaut man von außen auf Israel, wirkt Gantz als Hoffnungsträger. Doch in Israel selbst wächst mittlerweile wieder die Zustimmung zu Netanjahu. WZ-Redakteur Edwin Baumgartner versucht, die Fäden zu entwirren.

Gesprächspartner

Naftali Hirschl ist ein in Österreich geborener israelischer Autor und Blogger, der sich zu einer zionistischen Sicht auf Israel und den Nahostkonflikt bekennt.

Daten und Fakten

  • Das israelische Kriegskabinett wurde am 11. Oktober 2023 gebildet. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat als Zeichen der nationalen Einheit auch Oppositionspolitiker und politische Rivalen in dieses Kabinett geholt. Während Netanjahus Gegner Benny Gantz und Gadi Eizenkot in das Kabinett eingetreten sind, hat der Oppositionsführer Jair Lapid die Teilnahme abgelehnt. Am 9. Juni 2024 traten Gantz und Eizenkot, aus dem Kriegskabinett zurück. Damit sind nur noch Angehörige der Regierung Benjamin Netanjahus im Kriegskabinett vertreten, das daher nicht mehr für die nationale Einheit steht.

  • In Israel sieht das Gesetz eine Wehrpflicht für Männer und Frauen vor. Männer werden für 32 Monate, Frauen für 24 Monate einberufen. Die Ausnahme sind Angehörige der ultraorthodoxen Gemeinschaft. Männer dieser Gruppierung sind vom Wehrdienst befreit, damit sie sich religiösen Studien widmen können. Diese Regelung führt wiederholt zu Differenzen mit Vertretern einer säkularen Gesellschaftsordnung. Zuletzt wollte Benny Gantz die Regelung übergangslos kippen, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Anders als seine ultra-orthodoxen Koalitionspartner, ist Ministerpräsident Benjamin Netanjahu für eine stufenweise Anpassung der Wehrpflicht, eine Regelung, die die Knesset, das israelische Parlament, in einer ersten Lesung mit 63 zu 57 Stimmen bestätigt hat.

  • Der von den USA im Juni vorgelegte Plan für eine Deeskalation im Gazastreifen sah drei Stufen vor: 1) Eine sechs Wochen lange Waffenruhe mit Verhandlungen über eine dauerhafte Lösung, einem Rückzug der israelischen Armee und einer Freilassung von allen Frauen, alten Menschen und Verwundeten bzw. Erkrankten, die sich als Geiseln in der Gewalt der Hamas befinden. 2) Eine Freilassung aller überlebenden Geiseln und ein vollständiger Rückzug Israels aus dem Gazastreifen. 3) Ein Wiederaufbauplan für Gaza. Während Israel dem Plan zustimmte, lehnte ihn die palästinensische Führung mit dem Argument ab

  • Vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag muss sich Israel gegen den Vorwurf des Völkermords an den Palästinenser:innen verteidigen. Die Klage hat Südafrika angestrengt. Im Rahmen des Verfahrens werden immer wieder, zumeist von Südafrika, Eilanträge gestellt. Israel pocht dabei auf sein Recht zur Selbstverteidigung. Zudem ist der Begriff Völkermord sehr spezifisch und es gilt, unabhängig von der tatsächlich hohen Zahl der Verwundeten und Todesopfer in der Zivilbevölkerung des Gazastreifens, juristisch zu klären, ob der Begriff auf den Gazakrieg angewendet werden kann.

  • Die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) hat Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, gegen den Verteidigungsminister Joaw Gallant sowie gegen drei Hamas-Führer wegen angeblicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beantragt. Im Unterschied zum EU-Gerichtshof, der nur Verfahren gegen Länder durchführt, ist der Internationale Strafgerichtshof für Verfahren gegen Personen zuständig.

  • Beim Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 sind rund 1.200 Menschen, darunter sowohl israelische als ausländische Staatsbürger:innen ermordet und 5.431 Menschen verletzt worden. 250 Menschen wurden von der Hamas als Geiseln nach Gaza verschleppt. Etwa die Hälfte wurde während eines kurzen Waffenstillstands im November freigelassen. Von den rund 130 weiterhin im Gazastreifen befindlichen Geiseln sollen nur noch etwa 85 am Leben sein.

Quellen

Das Thema in der WZ

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