„Töten kann Spaß machen“, sagt Thomas Elbert und ortet Traumatisierungen als Ursache von Grausamkeiten. Jude Yovel Recenati ist in Israel nahe am Geschehen und sieht die schwerste Traumatisierung der jüdischen Bevölkerung seit der Staatsgründung.
Aus Israel gehen Bilder um die Welt, die unfassbare Gräueltaten der Hamas-Terroristen zeigen. Inhaltlich unterscheiden sich die Bilder nicht wesentlich von denen, die der IS verbreitet hat. Neu ist indessen der Umgang mit ihnen: Kamen im Fall des IS die meisten westlichen Medien darin überein, die Bilder nicht zu zeigen, da sie Terror-Propaganda seien, so fordern jetzt immer mehr Israelis, Juden und jüdische Organisationen in den sozialen Medien, man solle die Bilder und Videoclips teilen, um deutlich zu machen, was die Hamas anrichtet.
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Damit hat sich eine Spirale der Gewalt zu drehen begonnen, wie sie sogar für den ohnedies gewaltgebeutelten Nahen Osten etwas Neues darstellt. Die WZ wollte von Expert:innen für Traumaforschung und Gewalt wissen, wie es dazu kommen kann, und kontaktierte zu diesem Zweck den deutschen Neuropsychologen Thomas Elbert und die israelische Expertin Jude Rovel Recenati.
Das Gefühl „ich schlage zurück"
„Gewalttätig sind meist Männer, die Gewalt und Flucht erfahren haben“, sagt Elbert. Das kann ein Trauma sein, das man am eigenen Leib erfahren hat oder in der mehr oder minder weit gefassten Familie. In der Folge baut sich das Gefühl auf: „Ich schlage zurück.“ Frauen würden auf eigene Gewalt- und Fluchterfahrungen wesentlich seltener mit Gewalt reagieren.
Im Nahost-Konflikt spiele auf israelischer Seite die Shoah eine Rolle, sagt Elbert, auf der palästinensischen Seite die Nakba. Als Nakba (auf Deutsch: Katastrophe) bezeichnen arabischsprachige Menschen die Flucht und Vertreibung von etwa 700.000 arabischen Palästinenser:innen aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina.
Das palästinensische Trauma
Welches Trauma die Nakba für Palästinenser:innen bedeutet, führt Sarah El Bulbeisi, derzeit Mitarbeiterin am Orient-Institut Beirut, in einem Essay für das Schweizer politische Onlinemagazin „Geschichte der Gegenwart“ aus. Sie schreibt unter anderem: „Für Palästinenser:innen im Exil hielt die Gewalt ungeachtet ihrer sozio-ökonomischen Situation selbst nach ihrer Vertreibung an, weil die koloniale Erfahrung im historischen Palästina – die Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft und Identität – auf einer symbolischen Ebene fortgesetzt und wiederholt wurde, und zwar durch die Tabuisierung und Rechtfertigung ihrer Gewalterfahrung. […] Ein entscheidender Teil der Gewalterfahrung von Palästinenser:innen in Zentraleuropa geht nicht nur von der Tabuisierung, sondern auch von symbolischer Gewalt aus. Symbolische Gewalt rechtfertigte den israelischen Siedlerkolonialismus auf verschiedene Weisen. So wurde beispielsweise der Akt der Vertreibung als selbstverschuldet dargestellt, die Verbundenheit von Palästinenser:innen zum Land verneint oder aber Gewalt gegen sie moralisch gerechtfertigt. Letzteres wurde im Wesentlichen über eine Opfer-Täter-Dichotomie erreicht, in der Palästinenser:innen auf die Position des Täters und moralisch Devianten fixiert werden. Sie wurden und werden als bedrohliche ,Wilde‘, Terroristen, Islamisten und Anti-Semiten dem Staat Israel als Teil der sogenannten christlich-jüdischen, abendländischen Kultur und Wertegemeinschaft gegenübergestellt.“
Palästinenser:innen begehen den Gedenktag der Nakba am 15. Mai, dem Tag nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung. 2008 verbot Israel die Verwendung des Wortes Nakba in arabischsprachigen Schulbüchern. Das hängt mit der Wortbedeutung zusammen: Die israelische Position ist, dass es keinen Grund gebe, die Staatsgründung in offiziellen Unterrichtsprogrammen als Katastrophe darzustellen.
Reaktive Wut treibt die Gewaltspirale
Elbert ist überzeugt, dass dieses Unterdrücken eines von einem ganzen Volk als Trauma empfundenen Geschehens ein weiterer Motor ist, der die Gewaltspirale durch reaktive Wut weiter antreibt.
Doch wie kann es zu Gräueltaten dieses Ausmaßes kommen? – Elbert: „Kampf kann positiv wahrgenommen werden. Der Jagdtrieb ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Das sieht man schon an Computerspielen, bei denen man umso höhere Punktzahlen bekommt, je mehr Blut spritzt.“
Der Gegner als Monster
Im konkreten Fall wird der Feind entmenschlicht und zum Monster aufgebaut: Man jagt keine Menschen, sondern „das Böse“. Ist nach der ersten Tötung die Hemmschwelle überwunden, kommt irgendwann der Moment, „in dem die Mordlust bis zum Blutrausch geweckt ist. Da heißt es nur noch: Ich bringe meine Beute um. Dann macht das Töten Spaß, und zwar, je näher ich dran bin.“ Deshalb haben, so Elbert, Religionen und Moralbegriffe die Gewalt geregelt und Staaten sie dem Einzelnen so weit wie möglich aus der Hand genommen.
Wo solche Kanalisierungen versagen, ist der Gewalt freilich Tür und Tor geöffnet. „Das sieht man nicht nur jetzt in Israel“, sagt Elbert, „sondern auch im Kongo. Der ist nur weiter weg und wird deshalb nicht als Parallele wahrgenommen.“
Was hat es mit dem Teilen der Fotos auf sich, das beide Seiten betreiben? „Israel zeigt damit: Wir müssen zurückschlagen. Die Terroristen zeigen: Ihr müsst uns fürchten. Folter ist nie dazu geeignet, konkrete Geständnisse zu erpressen, sondern es soll Angst erzeugt werden.“
Gewalt ohne Ende?
Gibt es ein Ausstiegsszenarium aus dieser Gewaltspirale? – Den über Generationen aufgestauten Hass auf beiden Seiten hält Elbert für das größte Hindernis. „Jerusalem ist für drei Religionen die heiligste Stätte und zugleich religiös intolerant. Juden, Muslime und Christen regeln, wer was wo darf oder nicht darf. Aus dieser Abgrenzung entsteht Hass auf allen Seiten. Die religiösen Führer müssten ihren Hass aufgeben und vorangehen“, sagt Elbert und fügt nach einer Pause hinzu: „Aber das sehe ich nicht, das wird nicht sein.“
Extreme Bilder
Jude Rovel Recenati, Präsidentin und Mitbegründerin des israelischen Trauma-Zentrums NATAL, sieht eine schwere Traumatisierung des jüdischen Volks durch den Angriff der Hamas, aber ebenso durch die Bilder von den Gräueltaten: „Das israelische Volk und das jüdische Volk als Ganzes hat ein schweres Trauma erfahren, eines der schwersten seit dem Holocaust und eines der schwersten auch, seit der Staat Israel besteht”, sagt Recenati. „Seit vielen Jahren hat man im Westen keine so extremen Bilder von Massakern an Kindern, alten Menschen und ganzen Familien und Qualen für Zivilpersonen gesehen – und das in dieser Häufigkeit. Es kann keinen Zweifel geben, dass dieses Trauma vergangene Traumata vom Holocaust bis zum Yom-Kippur-Krieg erneuert. Wir sind überzeugt, dass die gegenwärtigen traumatischen Erlebnisse sogar schwerer wiegen als die des Yom-Kippur-Kriegs, denn im Yom-Kippur-Krieg betraf die Mehrzahl der Todesfälle Soldaten, während die Mehrzahl der Todesfälle jetzt die Zivilbevölkerung betrifft."
Rache und Friedenssuche
Ändern auf solche Weise traumatisierte Personen ihre politische Position? Recenati verweist auf vorherige Erfahrungen, die keine eindeutige Antwort erlauben. Extreme Traumata würden manchmal ein Verlangen nach Rache hervorrufen, manchmal wären sie jedoch ein Grund, dass sich Menschen zu Friedenssuchenden und Pazifist:innen wandeln. Vorerst aber stellt sich in Israel die politische Frage nicht, sagt Recenati, denn: „Derzeit, so nahe an den Massakern, die gerade stattgefunden haben, gibt es in Israel überhaupt keine politische Diskussion. In Israel, wie auch in den westlichen Staaten, ist der Fokus auf dem Sicherheitsbedürfnis Israels, völlig unabhängig von der politischen Diskussion.”
Die große Frage bleibt, wie die Bilder wirken, zumal beide Seiten, sowohl die Hamas als auch Israel, die Bilder und Videos verbreitet wissen wollen. „Die grauenhaften Bilder und Videos, denen wir in den letzten Tagen ausgesetzt waren, hat man so in den letzten Jahren nicht gesehen”, sagt Recenati. Auf der einen Seite zeigen sie die extreme Brutalität gegen israelische Zivilisten, auf der anderen Seite können Betrachter traumatisiert werden.”
Die Welt muss die Bilder sehen
Aber wie soll man damit umgehen? Recenati sagt, dass sie als Leiterin einer Organisation, die sich in Israel um psychische Gesundheit kümmert, israelischen Bürger:innen empfiehlt, das Ansehen dieser Bilder und Videos eng zu begrenzen. „Vor allem Kinder, Teenager und Menschen mit psychischen Problemen sollten sie meiden”, sagt Recenati, „dennoch kann es keinen Zweifel daran geben, dass die Welt diese Bilder sehen muss.”
Wie wirken sich der Angriff und die Bilder auf Juden aus, die nicht in Israel leben? Recenati ist überzeugt, dass die Bilder jedes vernunftbegabte menschliche Wesen, unabhängig ob Jude oder Nicht-Jude, zutiefst verstören. Doch sie sollten, wie es beim IS geschehen ist, auch die Notwendigkeit vor Augen führen, „Organisationen der Grausamkeit, deren Motive böse Absichten und Unmenschlichkeit sind und die gegen jede internationale Konvention handeln, auszulöschen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass diese traumatischen Vorgänge die Angst aller Juden auf der ganzen Welt verstärken, sowohl für ihre eigene Sicherheit als auch für die ihrer Angehörigen in Israel, und schließlich auch die Angst vor antisemitischen Attacken auf der ganzen Welt.”
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Infos und Quellen
Genese
In der Diskussion des Überfalls der Hamas auf Israel und in Zusammenhang mit den dabei begangenen Gräueltaten tauchte in der Diskussion die Frage auf, wie es sein kann, dass alle Schranken der Menschlichkeit fallen. WZ-Redakteur Edwin Baumgartner stellte diese Frage dem deutschen Gewaltforscher Thomas Elbert und Jude Rovel Recenati. Sarah El Bulbeisi, ebenfalls Expertin für Traumatisierungen und Gewalt, will im Moment nicht mit Medienvertreter:innen sprechen.
Gesprächspartner:innen
Jude Yovel Recenati ist Mitbegründerin und Präsidentin des Trauma-Zentrums NATAL in Tel Aviv. Ihr erklärtes Ziel ist, die israelische Gesellschaft zu stärken. Sie war eine Leiterin in der Israel-Scouts-Bewegung und diente als Oberschwestern-Offizierin bei den israelischen Streitkräften. Nach ihrem Militärdienst studierte sie Psychologie an der Hebrew University in Jerusalem. Während des Yom-Kippur-Kriegs kehrte sie in die Armee zurück und wurde als Betreuerin verwundeter Soldat:innen eingesetzt. Nachher studierte sie Kunsttherapie und befasste sich mit Kopf- und Rückenmarksverletzungen sowie dem Posttraumatischen Stress-Syndrom (PTSD) am Beit Loewenstein Rehabilitation Center. Zur Vervollständigung studierte sie an der Bar Ilan University, wo der Psychiater Yossi Hadar ihr Betreuer der Abschlussarbeit war. Mit ihm zusammen gründete sie das Traumazentrum NATAL, das 1998 seine Arbeit aufgenommen hat.
Thomas Elbert ist Neuropsychologe. Er wurde 1978 in Tübingen promoviert, wo er bis 1989 lehrte; anschließend hatte er an der Universität von Konstanz und an der Universitätsklink Münster Professuren inne; Gastprofessuren führten ihn an die Pennsylvania State University und die Universität Stanford. Elbert ist Spezialist für Trauma und Entstehung von Gewalt. Er betrieb Feldstudien in Konfliktgebieten wie Afghanistan, dem Kongo, in Ruanda, Somalia, auf Sri Lanka und in Uganda. Er ist Mitentwickler der Narrativen Expositionstherapie, die seelische Erkrankungen infolge traumatischen Stresserlebens behandelt. Weiters ist er Sprecher der DFG-Forschergruppe „751 The Science of Social Stress“ und Vorstandsmitglied von „vivo international“ (victims voice), die mit Überlebenden organisierter Gewalterfahrungen arbeitet. 2009 wurde er zum Mitglied der Gelehrtenakademie Leopoldina gewählt, unter seinen Auszeichnungen sind der Hector Wissenschaftspreis und der Deutsche Psychologie-Preis. 2013 wurde er in die Hector Fellow Academy aufgenommen.
Daten und Fakten
Als Nakba bezeichnen arabischsprachige Menschen die Flucht und Vertreibung von rund 700.000 arabischen Palästinenser:innen aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina. Die Nakba vollzog sich zwischen dem UN-Teilungsplan für Palästina von 1947 und dem Waffenstillstand von 1949 nach dem Palästinakrieg, den Ägypten, Syrien, Transjordanien, der Libanon, Saudi-Arabien und der Irak gegen Israel begannen und schließlich unterlagen. 2002 wurde in Israel der Verein „Zochrot“ (deutsch: Erinnern) gegründet, der der jüdischen Bevölkerung Israels die Problematik der Nakba näherbringen will. Die Jewish Virtual Library stellt auf der Seite Myths & Facts: Deutsch den Exodus der palästinensischen Bevölkerung als großteils freiwillig dar und setzt sie in Relation zur Vertreibung von Juden aus arabischen Gebieten: „Die Palästinenser, die ihre Heimat in den Jahren 1947-48 verließen, taten dies aus den verschiedensten Gründen. Viele Wohlhabende verließen das Land aus Angst vor einem bevorstehenden Krieg, weitere Tausende von Arabern kamen dem Aufruf ihrer Herrscher oder Regierungen nach, den vorrückenden Armeen Platz zu machen, eine Hand voll wurde vertrieben, doch die meisten sind ganz einfach geflohen, um nicht zwischen die Fronten des Krieges zu geraten. […] Man hört zwar viel vom Elend der palästinensischen Flüchtlinge, aber kaum etwas über die Juden, die aus arabischen Staaten flohen. Ihre Lage war lange Zeit höchst unsicher. Während der UN-Debatten von 1947 gab es von Seiten der arabischen Länder massive Drohungen gegen sie. So sagte zum Beispiel der ägyptische Delegierte vor der Vollversammlung: ,Durch die Teilung würde das Leben einer Million Juden in muslimischen Ländern auf Spiel gesetzt.‘“
Der Tempelberg in Jerusalem ist für Juden, Christen und Muslime eine heilige Stätte. Für Juden ist er der heiligste Ort, je nach Auslegung der wichtigste oder sogar der einzige Kultort; auf ihm standen der Erste und der Zweite Tempel. Für Christen steht der Tempelberg in engem Zusammenhang mit Jesu Auftreten in Jerusalem. In der muslimischen Tradition haben Engel und dann Adam auf dem Tempelberg eine Moschee gebaut. Gebete an diesem Ort seien besonders stark: Ein Gebet in Jerusalem wiege tausend Gebete andernorts auf und wer in Jerusalem bete, dem würden alle Sünden vergeben. Der derzeitige Stand ist, dass Israel den Zugang zum Tempelberg kontrolliert und die islamische Rechtsbehörde Waqf das Areal und die heiligen Stätten verwaltet mit Ausnahme der Klagemauer, die seit 1984 Eigentum des Staates Israel ist. Juden und Christen dürfen den Tempelberg betreten, aber dort nicht beten.
Sarah El Bulbeisi studierte an der Universität Zürich und hat an der Universität München magna cum laude mit der Arbeit „Tabu, Trauma und Identität: Subjektkonstruktionen von PalästinenserInnen in Deutschland und der Schweiz, 1960–2015“ promoviert. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Nah- und Mitteloststudien der Ludwig-Maximilians-Universität in München und leitete das DAAD-Projekt „Gewalt, Zwangsmigration und Exil: Trauma in der arabischen Welt und in Deutschland“, einen Hochschuldialog zwischen palästinensischen und libanesischen Universitäten sowie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2019 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Orient-Institut Beirut mit Schwerpunkten auf Postcolonial Studies, Gender Studies und Psychoanalyse tätig.
Quellen
Ärzteblatt.de: Weltbank: Viele Palästinenser leiden unter Depressionen
Chrismon: Verwundete Seelen - Traumabewältigung im Nahostkonflikt
Geschichte der Gegenwart: Sarah El Bulbeisi: Über den Schmerz des Verschweigens. Palästinenser:innen in Deutschland und in der Schweiz
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
Berliner Morgenpost: Israel: Flut der Gewaltvideos hat eine neue Dimension
Süddeutsche Zeitung: Friedensinitiative vor dem Ramadan
Frankfurter Allgemeine: Israels Armee bereitet sich auf mögliche Bodenoffensive vor