Mehr als vierzig Jahre lebte Reno im Todestrakt von San Quentin, Kalifornien, seine Hinrichtung immer vor Augen. Ein Bericht über eine seltsame Freundschaft zwischen einem Verurteilten und einem Reporter.
Ich glaube, es war ein Donnerstag. Mitte November 1994. Damals arbeitete ich bei einem Lokalsender in Nürnberg in der Morgenschicht, gegen 14 Uhr war ich daheim. „Daheim” war am Jakobsplatz 21 in der Innenstadt. Im Briefkasten lag dieser Brief, den ich gar nicht mehr erwartet hatte. Absender „California State Prison San Quentin, San Quentin, CA 94974“.
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Über die knarzende Holztreppe ging ich nach oben in den vierten Stock. In meiner Küche setzte ich mich an den Tisch und öffnete das Schreiben aus Übersee. „Hello Arndt, thank you for writing...“, so fing dieser erste Brief von ihm an, der in eine lange Freundschaft münden sollte.
Wie diese lange Freundschaft begann
Damals wusste ich kaum etwas darüber, warum Reno im Todestrakt von San Quentin war. Seinen Namen, seine CDC-Nummer (California Department of Corrections) und seine Adresse hatte ich von „Death Penalty Focus“ erhalten, einer Gruppe, die ich im August des Jahres in Oakland besucht hatte. Ich fragte deren Direktor Lance Lindsey, ob er mir einen Kontakt zu jemandem auf der Death Row vermitteln könne. An eine Brieffreundschaft hatte ich zunächst gar nicht gedacht. Lance schrieb Renos Namen auf einen Zettel und meinte nur, er sei ein netter, aber auch ein schwieriger Typ. Und fügte dann hinzu, dass es ein hoffnungsloser Fall sei. Was das bedeutete, erfuhr ich im Laufe der Jahre.
44 Jahre im Todestrakt
Reno ist im Mai dieses Jahres 79 Jahre alt geworden. Davon lebte er 46 Jahre hinter Gittern, 44 Jahre im Todestrakt von San Quentin. Ich weiß, was er getan haben soll. Er sagt, er sei unschuldig, er habe die Morde an drei Minderjährigen nicht begangen. Vor einigen Jahren habe ich seine Prozessakte gelesen. Es gab keine harten Beweise, keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren. Doch Reno soll ein Geständnis abgelegt haben. Er sagt, er sei zur Unterschrift gezwungen worden. Wer die Polizeiarbeit in Los Angeles in den 1970er Jahren kennt, weiß, dass das durchaus der Fall sein kann.
Aber von Anfang an: Zwischen November 1994 und August 1996 schrieben Reno und ich einander Briefe zwischen Nürnberg und San Quentin. Es war ein vorsichtiges Herantasten, ein Beschreiben des gegenseitigen Alltages, viele Fragen, viele Nachfragen. Er war neugierig, genauso wie ich, auf das, was wir jeden Tag erlebten. Nach meinem Volontariat im Funkhaus Nürnberg sprang ich ins kalte Wasser, ging als freier Korrespondent nach San Francisco und zog quasi in die Nachbarschaft von Reno. San Quentin liegt nordöstlich auf der anderen Seite der Bucht.
An einem Sonntagmorgen im Frühherbst ‘96 fuhr ich ihn dann zum ersten Mal besuchen. Er hatte mir vorab einen Besuchsantrag geschickt, der genehmigt wurde, und dann noch eine Reihe an Verordnungen der Gefängnisleitung, an die ich mich zu halten hatte. Was ich tragen und was ich nicht tragen durfte, was ich mitbringen und was ich auf alle Fälle daheim lassen sollte. Blaue und grüne Hosen und Hemden waren verboten, das sind die Farben der Gefangenen und der „Correctional Officers“, der Justizvollzugsbeamten. Erlaubt waren ein Autoschlüssel, Ein-Dollar-Noten und Kleingeld; keine provokanten Aufdrucke auf den T-Shirts, Frauen dürfen weder Draht im BH noch zu kurze Röcke tragen und schon gar nicht zu viel Ausschnitt zeigen.
Das Gefängnis von innen
In einem länglichen Seitenbau am Eingang reihte ich mich in die Schlange ein. Ich erinnere mich, dass ich sichtlich nervös war. Am Eingang wurde ich durchsucht, mit einem Metalldetektor durchleuchtet, bekam einen Leuchtstempel auf den Unterarm gedrückt, „your get out of jail card“, wie es ein Officer einmal humorvoll beschrieb. Danach lief ich vom Haupttor des ältesten Staatsgefängnisses von Kalifornien entlang der Bucht auf das Hauptgebäude zu. Ein altes Gemäuer, das auch „Bastille by the Bay“ genannt wird und lange Jahrzehnte als gefährlichstes Gefängnis westlich des Mississippi galt.
Hier war die kalifornische Death Row mit damals weit über 600 zum Tode Verurteilten untergebracht, hier wurden die Hinrichtungen im Bundesstaat durchgeführt. Die Exekutionskammer liegt gleich neben dem Besucherraum des Todestraktes, zu erkennen an der roten Lampe auf dem Dach, die dann eingeschaltet wird, wenn alle Einspruchsmöglichkeiten eines Delinquenten ausgeschöpft sind und die Stunden eines Lebens gezählt werden.
Die erste Begegnung im Todestrakt
An diesem Sonntagmorgen 1996 trat ich nach zwei Metallschleusen in einen mit Neonlicht beleuchteten Raum, der mich an einen Warteraum einer Greyhound Busstation erinnerte. Reihen von Plastikstühlen, an einer der Wände ein paar Automaten mit Soft Drinks, Süßigkeiten und Mikrowellenessen. Viele der blauen Stühle waren belegt. Etliche Personen liefen durch den Raum, darunter einige Paare, so, als ob sie durch einen Park spazierten.
Ich suchte mir zwei leere Stühle, setzte mich und schaute mich um. Mein erster Gedanke war - das werde ich nie vergessen – alle, die hier mit blauer Hose und blauem Hemd umherlaufen, sind verurteilte Mörder, teils Massenmörder und aus Fernsehberichten bekannte notorische Killer.
Eine kurze Umarmung, ein „Hallo“, Automaten-Cola
Nach einigen Minuten wurde Reno durch eine Tür im hinteren Teil des Raumes hereingeführt. Ich erkannte ihn gleich, sein Alter, seine Eigenbeschreibung aus den Briefen und sein suchender Blick. Eine kurze Umarmung, ein „Hallo“. Wir gingen zu den Automaten, zogen Cola und Popcorn für ihn, setzten uns hin und begannen zu reden, ich damals noch mit meinem holprigen Schulenglisch.
So ging das mehrere Jahre, bis es zu einem Streit zwischen zwei Gefangenen im Besucherraum kam, der eigentlich als Friedenszone gegolten hatte. Das bedeutete, dass sich dort auch verfeindete Gangs innerhalb der Gefängnismauern friedlich nebeneinander aufhalten konnten. Der Besucherraum war für viele das einzige Fenster nach draußen, der einzige Freiraum, wo es zumindest für zwei Stunden einmal zu etwas Normalität kam. Die Konsequenz des Streits war, dass alle Besuche bis auf weiteres gestrichen wurden.
Mein Freund in Ketten
Fast ein Jahr lang sprachen Reno und ich nur noch wöchentlich am Telefon. Als die Kontaktbesuche wieder möglich wurden, hatte die Gefängnisleitung zwei Quadratmeter große Stahlkäfige in den Besucherraum einbauen lassen. In diese wurde man fortan mit dem Gefangenen eingesperrt. Ein Prozedere, das mehr als gewöhnungsbedürftig war und auf Erstbesucher:innen schockierend wirkte.
Reno wartete schon meist im Käfig auf mich, als ich kam. Aus den Automaten zog ich Burger, Popcorn und Cola, wärmte alles in einer Mikrowelle auf, um dann vor der Gittertür auf den wachhabenden Officer und den Aufschluss zu warten. Reno musste sich aufrichten, durch eine Öffnung im Gitter auf seiner Seite die Hände hinter dem Rücken durchstrecken, die dann mit Handschellen verschlossen wurden. Im Laufe der Jahre kam dann noch eine Bauchkette dazu, er konnte die Arme nicht mehr nach hinten drehen. Bevor auf meiner Seite die Tür geöffnet wurde, musste er den Käfig verlassen, die Tür wurde geschlossen, dann durfte ich eintreten, dann wieder er, die Handschellen und die Kette abgenommen. Eine kurze Umarmung, ein „Hallo“, wir setzten uns.
Einladung zur Hinrichtung
Über all die Jahre wurde ich immer wieder gefragt, worüber man sich mit einem zum Tode Verurteilten unterhält. Meine Antwort ist immer die gleiche geblieben: Über alles, aber eigentlich nie über den Tod. Man kann sich vorstellen, wie überrascht ich war, als mich Reno irgendwann einmal fragte, ob ich bei seiner Hinrichtung dabei sein wolle. Ich überlegte kurz und fragte ihn, ob er denn möchte, dass ich dabei bin, und er meinte: Ja. Er dürfe auch ein paar Verwandte oder nahe Freunde dazu „einladen“, ich sei aber der Einzige, den er sich dabei vorstellen könne. Mit seiner Familie hat er schon lange keinen Kontakt mehr, andere Bekannte besuchen ihn nicht.
Es gibt diese Gespräche, die man nie vergessen wird. Das war so eines.
Fatales Tauziehen
Kurze Zeit danach wurde ich als Medienzeuge für die Hinrichtung von Michael Morales ausgewählt. Ich produzierte damals für einen Collegesender in San Francisco eine Sendung und galt deshalb als Journalist eines US Mediums, internationale Korrespondenten werden für Hinrichtungen nicht zugelassen. Die Hinrichtung war für den 21. Februar 2006 angesetzt. Mit einer goldenen Zutrittskarte in der Hand war ich durch einen Hintereingang ins Gefängnis gebracht und vom Gefängnisdirektor aufgeklärt worden, was meine Rolle sein würde. Doch dann kam alles anders, die Exekution wurde im letzten Augenblick abgesagt. Kein Arzt ließ sich finden, der bei der Exekution dabei sein wollte. Seither wurde in Kalifornien niemand mehr hingerichtet, doch die Death Row wuchs weiter.
2018 wurde der Demokrat Gavin Newsom zum Gouverneur des „Golden State“ gewählt. Nur wenige Monate danach, am 13. März, unterschrieb er ein Moratorium und erklärte, er werde in seiner Amtszeit keinen Hinrichtungsbefehl unterschreiben und darauf hinarbeiten, dass die Todesstrafe in Kalifornien aus den Gesetzesbüchern gestrichen wird.
Ich dachte, das sei eine gute Nachricht für alle im Todestrakt von San Quentin. Doch Reno reagierte verhalten am Telefon, er habe so etwas schon öfters gehört und es gelte ja zunächst nur für die Amtszeit von Newsom. Auch befürchte er, dass die Todeskandidaten nun in andere Gefängnisse verlegt werden sollen, was bedeute, dass sie nicht mehr alleine in ihren Zellen untergebracht werden. Das ginge gar nicht, so Reno, der seit 40 Jahren in San Quentin allein auf sechs Quadratmetern lebt.
Im Todestrakt von San Quentin gab es keinen Jubel, keine Freudentänze - im Gegenteil. Einige der Todeskandidaten kündigten sogar an, den Staat Kalifornien verklagen zu wollen - auf ihr Recht, hingerichtet zu werden.
Die Verlegung
Und es kam so, wie Reno befürchtet hatte. Gouverneur Newson legte einen Plan vor, die Death Row im East Block von San Quentin aufzulösen und die Gefangenen auf andere Strafvollzugsanstalten zu verlegen. Der Prozess begann schleppend, doch nun sollen alle zum Tode Verurteilten bis Ende Juni verlegt worden sein. Reno wurde vor ein paar Wochen in der Nacht zum 29. Mai um zwei morgens aus seiner Zelle geholt und nach Vacaville in die dortige Anstalt des „California Department for Corrections and Rehabilitation“ gebracht. Er ist nun in einer Zelle, die dreimal größer ist als sein „Haus“ in San Quentin. Er sagt, er ist schon mehrmals hingefallen, er kann sich dort nicht so bewegen, wie er das über die Jahrzehnte in San Quentin in seiner 1,40 x 2,30 Meter Zelle tun konnte.
Schuld oder Unschuld, darüber haben wir nie gesprochen. Oder nie bewusst. 30 Jahre kenne ich ihn nun schon, mehr als die Hälfte meines Lebens. Er ist ein alter Mann, hat Schmerzen, ist auch des Lebens müde. Er ruft an und sagt immer öfter, er will eigentlich nicht mehr. Im Gefängnis malte er viel. Seine Bilder habe ich zu Hause. Mit ihnen konnte ich einige Ausstellungen in Deutschland organisieren. Wenn er nicht mehr ist, solle ich sie alle verbrennen, hat er mir aufgetragen. Er stellte eine Patientenverfügung für mich aus und meinte, man weiß ja nie, ob man die nicht am Ende braucht. Der Staat werde jedenfalls nicht darüber entscheiden, wann und wie er geht, das ist ihm wichtig.
Reno und ich haben eine seltsame Freundschaft. Er forderte manchmal viel, ich wehrte ab, doch irgendwann schafften wir es, auf eine normale Ebene zu kommen, einander gegenseitig so zu akzeptieren, wie wir sind. Vor ein paar Monaten schrieb er mir einen Brief, in dem er von seiner Angst sprach, aus San Quentin weg zu müssen. Reno glaubt, dass es langsam Zeit für ihn wird. Am Ende schreibt er noch „thanks for being my friend over all these years“.
Und ich sitze da und schlucke…
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Infos und Quellen
Genese
Als Korrespondent im Ausland sucht man sich seine Themen, die man oft und immer mal wieder aufgreift. Und es gibt Themen, die bleiben einem einfach. Über das kalifornische Staatsgefängnis in San Quentin habe ich über die Jahre viel berichet. Lange Zeit mehr über die Geschichte und die Geschichten von dort, eigentlich nie über diese seltsame Verbindung und Freundschaft, die es da seit nunmehr 30 Jahren gibt. Irgendwie war es zu persönlich. Das änderte sich, als Reno einmal zu mir meinte, ich könne ruhig darüber öffentlich reden. Er vertraue mir, dass ich einiges, was er in Briefen und bei Besuchen von ihm erfahren habe, nicht teilen würde. Dennoch, diese – unsere – Geschichte ist auch so lang geworden.
Gesprächspartner
Reno, in den USA zum Tod verurteilt.
Daten und Fakten
Michael Morales ist in den USA wegen Mordes zur Todesstrafe verurteilt worden. Er sollte am 21. Februar 2006 in Anwesenheit von WZ-Reporter Arndt Peltner hingerichtet werden. Zwei Stunden vor der der geplanten Exekution wurde diese von einem US-Gericht gestoppt.
Die Todesstrafe ist eines der umstrittendesten Elemente des US-Rechtssystems. In 23 von 50 Bundesstaaten ist sie mittlerweile formell abgeschafft. Die Anwendung der Todesstrafe ist kaum geregelt und daher stark abhängig von speziellen Einflüssen. Die Person des Staatsanwalts ist der entscheidende Faktor: Nur fünf von rund 2400 Staatsanwaltschaften haben zusammen 440 Mal eine Verurteilung zum Tode erwirkt.