Anatol Butnaru ist einer, der zupackt. Und er liebt Opern. Weil er das kleine Dorf Butuceni in Moldawien, in dem er lebt, und seine Leidenschaft zusammenführen wollte, hat er sich einfach selbst ein Opernhaus gebaut.
Die Statisten sind alle schon da. Die Ziegen, die Schweine, die Hühner, die Esel, die Kühe. Große Namen tragen sie: Beethoven, Siegfried, Aida, Rigoletta. Anatol Butnaru streift zwischen den Koppeln dahin, einen Bund Lavendel in der Hand. Er deutet auf Baumreihen unten am Fluss, hinauf zum Hügel, auf dem das Kloster steht, hinüber zu den Ställen. „Hier eine Leinwand“ sagt er, „dort Strohballen zum Sitzen, weiter oben die Toiletten und hier“ − er breitet die Arme aus − „die Bühne.“ Er sagt: „Das ist doch Cavalleria Rusticana? Sie wissen schon, Pietro Mascagni!“ Eine Ziege schnappt nach dem Bund Lavendel.
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Anatol Butnaru hat eine Mission, die sich in Erdwällen, Strohballen, Betonplatten, Kellern und Eichenpfeilern im Fluss manifestiert, zwischen Ställen, Häuschen und auf der staubigen Dorfstraße. Nach und nach. Er will ein Opernhaus bauen. Mitten in Butuceni, einem kleinen malerischen Dorf eine Autostunde nördlich von Moldaus Hauptstadt Chisinau. Die Hauptbühne steht schon. Dach hat sie halt noch keines. „Aber wieso soll ich für einen Bühnenaufbau zahlen, wenn ich mir selbst eine Bühne bauen kann“, sagt er. „Und dann all die Technik, all der Stahl – hässlich!“ In die Natur solle sie sich einfügen. Er deutet auf den steilen Felshang auf der anderen Seite des Ufers mit der Baumreihe davor und sagt laut: „Das hier ist die Kulisse.“
150 Einwohner, kein Asphalt
Es ist ein heißer Tag, am Horizont türmen sich Wolken. Es dampft. Der Fluss Raut fließt träge durch diese malerische Schlinge. Frösche singen am moorigen Ufer. Butuceni ist ein Ausflugsziel. An Wochenenden ist es hier voll. Das Kloster auf dem Hügel in der Flussschleife, die jahrhundertealten Mönchszellen, die in den Stein gehauen sind, die versteinerten Muscheln. Doch wenn die Sonne untergeht, ist Butuceni ein Dorf wie alle anderen in Moldau: Da breitet sich ein Sternenhimmel aus, den nur die eine oder andere matte Straßenlaterne stört, da quaken die Frösche, da brummen Hirschkäfer, da bellt ein Hund. Ein Dorf eben. Eines wie alle anderen: 150 Einwohner, eine unasphaltierte Straße, eine überalternde Bevölkerung, chronische Abwanderungstendenzen, strukturschwach. Und dann ist Butuceni doch nur auf den ersten Blick wie alle anderen. Denn da ist eine Pfeiffer-Philharmonie, da ist eine Strauss-Bühne, da ist das Dorf als Bühne. Und da ist dieser Chor aus Fröschen, wie ihn Anatol Butnaru nennt. Ein „wunderschöner Chor“, wie er sagt.
Als sich Anatol Butnaru 2004 in Butuceni niederließ, hatte er keine Ahnung von klassischer Musik. Er hatte keine Ahnung, dass er hierbleiben würde. Und vor allem hatte er keine Ahnung, dass er hier einmal ein Opernhaus bauen würde, zusammen mit der Natur. In Chisinau hatte er einen Betrieb. Was Technisches, wie er sagt, um schnell das Thema zu wechseln. Dann kaufte er ein Haus in Butuceni um 1.500 Euro, baute Plastikfenster ein, machte ein Feriendomizil daraus. Wohnungen für Gäste. Und als der erste Gast aus Frankreich kam und ihn fragte, warum zur Hölle er denn diese furchtbaren Fenster hier eingebaut habe, da habe er sich gedacht: „Eigentlich hat er recht.“
Aus einem Haus wurden 17 plus Restaurant. Und heute hat der Betrieb 30 Mitarbeiter:innen – alle aus dem Dorf und der Umgebung. Er hat eine eigene kleine Landwirtschaft, die das Restaurant versorgt. Was sich nicht ausgeht, bezieht er aus dem Dorf. „Einfaches Leben“ nennt er das und sagt: „Man muss die Sachen selbst in die Hand nehmen.“
Kein Auto-Rasen, kein Staub
Und Anatol ist einer, der Sachen in die Hand nimmt. Etwa, wenn Autos über die Staubstraße durchs Dorf rasen. Anatol mag keine Autos. Also nicht im Dorf und wenn, dann bitte langsam. Er hat 10-km/h-Schilder aufgestellt. Schlaglöcher füllt er mit Wasser: „Damit sie nicht rasen und damit es nicht so staubt“, sagt er. Und wenn einer durch das Dorf fährt, lauten Techno im Auto, kann er gewiss sein, einen bösen Blick von Anatol Butnaru zu ernten.
Das mit der Oper nahm seinen Anfang an einem Abend im Jahr 2013 in Chisinau. Da traf Anatol Butnaru einen Mann aus Wien. Und weil Anatol Butnaru ein Mann ist, der ganz einfach mal auf jeden zugeht, hat er ihn gefragt, was er denn hier tue. Und der Herr, der habe geantwortet: „Ich bin hier wegen der Aida.“ Anatols Antwort darauf: „Ah, wegen Ihrer Frau?“ Betroffenes Schweigen erst einmal bei dem Herrn aus Wien. Anatol lacht, wenn er das erzählt. Der Herr aus Wien, das war der Dirigent Friedrich Pfeiffer. Und dieses Gespräch war der Anfang einer Freundschaft, die seither anhält.
Seither hat Anatol Butnaru eine Mission: ein Opernfestival. Eines mitten in der moldawischen Pampa. Es ist eine Vision, die sich mit Baumstämmen, Brettern, Lehm und Beton täglich weiter erfüllt. Und wenn er „Holz, Beton oder Stämme“ sagt, dann sagt er das, weil er Plastik nicht mag. „Diese Plastiktoiletten – hässlich. Nein, so etwas kommt mir hier nicht her.“ Er sagt: „Das hier“ − und deutet auf die Toiletten, die er gebaut hat − „das ist Zivilisation.“
Kulissen, Bühnen, Publikumszonen
Wenn Anatol über seine Zeit als Unternehmer spricht, wirkt das, als wäre das ein anderes Leben gewesen. Eines weit, weit weg. In knappen Sätzen schildert er es, einsilbig. Aber wenn er anfängt, von der Musik zu sprechen, von der Oper und seinen Plänen, dann schweift er aus. An Plänen mangelt es ihm nicht. Da steht er also in der Pfeiffer-Symphonie, einer Wiese mit einer unterkellerten Betonplatte als Bühne, und spricht von Planungsfehlern, die man in Theatern und Opernhäusern überall auf der Welt gemacht habe – und freut sich wie ein kleiner Junge über seine Schlauheit, diese Fehler eben nicht gemacht zu haben. Etwa den Fehler, dass immer dieselbe Zahl an Toiletten für Damen und Herren eingebaut würden – und man sich dann wundere, dass immer vor den Damentoiletten die Schlangen stünden. Er kichert. Weil er mehr Damentoiletten gebaut hat.
Dann zeigt er auf Fotos auf seinem Telefon: Baumreihen am Fluss, in die er mit einem Bearbeitungsprogramm Pfeile, Pfosten, Häuser oder Notizen gekritzelt hat: „Bühne“ steht da über einem Bild von einem Dickicht am Ufer. „So arbeite ich“, sagt er und deutet in die Landschaft. Dort ein Steg über den Fluss, da ein Podium, dort eine Lehmhütte, hier Kulissen und Bühnen, Publikumszonen.
„Als er gemeint hat, ob Aida meine Schwester ist, dachte ich: Oh mein Gott, wo bin ich hier gelandet“, sagt Friedrich Pfeiffer heute und lacht. Er ist überzeugt, Anatol habe damals gemeint, Aida sei seine Schwester. Anatol aber sagt: „Wer reist denn schon mit seiner Schwester?“ Er lacht.
Mit der Opernwelt per Du
Inzwischen ist Anatol sattelfest, was Libretti und Partituren angeht. Er hat die Opernwelt in Wien, Mailand und Bayreuth besucht. Und er hat die Opernwelt nach Butuceni gebracht, arbeitet mit der Moldau-Philharmonie zusammen, bekannten und auch internationalen Solisten. Das Opernfestival im Dorf zieht mittlerweile an die 1.000 Besucher:innen pro Vorstellung an. Und die Besucher:innen kommen aus allen Teilen des Landes, aus Rumänien und auch aus der Ukraine. „Die Leute lieben es“, sagt Anatol.
„Diese Kultur unter die Leute zu bringen, das ist das Richtungsweisende“, sagt Pfeiffer. „Weil die Leute wollen nicht g'schnäuzt und g'kampelt ins Konzert.“ In Butuceni sitzt man auf Strohballen. Die Frösche singen dazwischen. Die Hühner gackern. Eine „Verbeugung vor der Natur“ nennt Pfeiffer das Festival, bei dem er heuer nur Gast war. Weil er wegen des Krieges in der Ukraine und der Gefahr, die davon für Moldau ausgeht, zunächst nicht zusagen wollte. Als Anatol seinem Freund Pfeiffer dann aber sagte „Weißt du, it's all okay“, da habe er gebucht, ist nach Butuceni gefahren und hat ihn überrascht. „Weil wir nicht nur in guten Zeiten Freunde sind.“
Anatol geht die Dorfstraße entlang, tritt ein in die Pfeiffer-Philharmonie, wo gerade die Blumen vor der Bühne gegossen werden. Das Blattwerk der Bäume ist der Stuck, die Sonne ist der Kristallluster. Das ist sein Opernhaus. Vor der Bühne soll jetzt der Orchestergraben ausgehoben werden. Und dann ist da noch etwas: Er blickt über die Baumreihe vor dem Fluss auf den Felshang am gegenüberliegenden Ufer, zückt sein Telefon, zeigt ein Foto und deutet mit dem ausgestreckten Arm in die Felswand. Das nächste Projekt: ein Schriftzug im Hang. In riesigen weißen Lettern soll da bald stehen: „Opera“.
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Infos und Quellen
Genese
Zusammen mit dem Fotografen Matthias Schumann hat der Autor in den vergangenen Jahren mehrmals Moldau bereist. Angefangen hat das mit einer Geschichte über die Auswirkungen der Covid-Pandemie auf das Land, bei der sich weitere Themen aufgedrängt haben. Etwa die ausgeprägte Weinkultur des Landes, oder eben das vielfältige Kulturleben. Auf diesen Reisen sind die beiden auch in Butuceni gelandet, einem kleinen Dorf inmitten traumhafter Landschaft. Und dort haben sie Anataol Butnaru kennengelernt − ein Mann, der inmitten seines Projekts lebt und dessen Leidenschaft für Oper man sich einfach nicht entziehen kann.
Gesprächspartner
Anatol Butnaru hat Stefan Schocher bei einem Lokalaugenschein ausführlich von seinem Traumprojekt erzählt.
Daten und Fakten
Die Republik Moldau grenzt im Westen an Rumänien und wird sonst komplett von der Ukraine umschlossen. Es gehörte zur Sowjetunion und ist seit 1991 ein eigenständiger Staat mit insgesamt 2,5 Millionen Einwohnern.
Seit kurzem sind die EU-Verhandlungen über einen Beitritt Moldaus und der Ukraine offiziell eröffnet. Ein konkretes Datum liegt freilich noch in weiter Ferne. Trotzdem gilt der Startschuss als historischer Moment. Ungarns Premier Viktor Orban hat sich zum Beitrittsprozess kritisch geäußert.
Mit einem durchschnittlichen jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von umgerechnet rund 4.500 US-Dollar gehört Moldawien zu den ärmsten Ländern Europas.
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