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Zwischen Gefängnis, Synagoge und Textilfabrik erzählt die Siebenbrunnengasse im 5. Bezirk vom Nationalsozialismus mitten in Wien. Ein historischer Spaziergang entlang einer scheinbar gewöhnlichen Straße.
Ich streife gern durch mein Grätzel im 5. Bezirk – meist mit meiner Kamera. Denn sie ist es, die meinen Blick schärft. Selbst vertraute Straßen, die ich täglich passiere, offenbaren durch ihre Linse bisher Verborgenes.
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Auf meinen Wegen kreuze ich fast zwangsläufig die Siebenbrunnengasse. Mit ihren Ecken und Kurven zieht sie sich quer durch den Bezirk, vom Mittersteig bis zum Margaretengürtel. Dort verbergen sich unzählige Geschichten – wenn man genau hinsieht.
Siebenbrunnengasse 1
Beginnt man am Anfang der Gasse, an der Ecke zum Mittersteig, fallen einem zuerst die Gitterstäbe an den Fenstern ins Auge. Heute befindet sich dort ein Gefängnis für geistig abnorme, aber zurechnungsfähige Rechtsbrecher (siehe Infos & Quellen). Schon seit seiner Errichtung ist dieses Gebäude Teil der Justiz – allerdings unter wechselnden politischen Vorzeichen. Während der NS-Zeit war hier das Erbgesundheitsgericht untergebracht.
Die Definition von „Erbkrankheit“ war im Nationalsozialismus nicht wissenschaftlich, sondern ideologisch bestimmt. Vor allem der „angeborene Schwachsinn“ wurde von Gesundheitsbehörden und Ärzt:innen genutzt, um arme, unangepasste oder weniger gebildete Menschen zwangssterilisieren zu lassen. Als „erbkrank“ galten zudem Personen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen, psychiatrischen Erkrankungen oder Alkoholabhängigkeit.
Auch Männer mit „entartetem Geschlechtstrieb“ – ein Begriff, der vor allem Homosexuelle und Sexualstraftäter betraf – wurden zwangssterilisiert. Bei Frauen kamen Zwangsabtreibungen hinzu: Wenn eine Frau „erbkrank“ war und ihr „die Bedeutung der Maßnahme nicht verständlich gemacht werden“ konnte (sie also nicht freiwillig zustimmte), entschied ein „gesetzlicher Vertreter oder Pfleger“ für sie.
Zwischen 1939 und 1945 wurden allein in Wien über 1.500 solcher Erbgesundheits-Verfahren angeordnet und 1.200 Beschlüsse zur Zwangssterilisation gefasst. Im gesamten NS-Reich starben im Zusammenhang mit diesen Eingriffen rund 5.000 Menschen – zu 90 Prozent Frauen. Weitere etwa 1.000 Menschen, die in das Verfahren gerieten, nahmen sich das Leben, schreibt der Friedens- und Konfliktforscher Gernot Jochheim in einem Online-Artikel für die Bundeszentrale für politische Bildung.
Siebenbrunnengasse 1a
Nur ein paar Schritte weiter steht man vor einem typischen Wiener Wohnhaus. Auf den ersten Blick unscheinbar. Doch davor steht etwas Ungewöhnliches: eine Art Laterne, geformt wie ein ineinander verflochtener, leuchtender Davidstern. Sie erinnert daran, dass sich hier einst eine Synagoge befand. In ganz Wien stehen solche Laternen.
Vor dem Zweiten Weltkrieg war Margareten Heimat einer lebendigen jüdischen Gemeinde. In der Siebenbrunnengasse 1-3 stand die Vereinssynagoge des Israelitischen Tempelvereins – ein zentraler Treffpunkt für die jüdische Bevölkerung der Bezirke vier und fünf. Doch in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde dieser Ort im Zug der Novemberpogrome brutal verwüstet. In einem Bericht der 89. Standarte – einer regionalen Einheit der Schutzstaffel (SS) – heißt es, der „Judentempel“ in der Siebenbrunnengasse wäre durch „Angehörige des Sturmes 2/89 gegen Mittag des 10.11.38“ vollständig zertrümmert worden und so durchgeführt, dass „Nachbarhäuser und Volksgenossen nicht gefährdet wurden“.
Die nationalsozialistische Führung – allen voran Reichspropagandaminister Joseph Goebbels – hatte zur „Aktion größten Stils“ gegen die jüdische Bevölkerung aufgerufen. Ziel war es, jüdischen Besitz zu zerstören und Menschen einzuschüchtern. In Wien wurden insgesamt 42 Synagogen und Bethäuser zerstört und zahlreiche jüdische Geschäfte geplündert sowie Wohnungen verwüstet. Über 6.500 Jüdinnen und Juden wurden verhaftet, rund 4.000 ins Konzentrationslager nach Dachau deportiert.
Die Gewalt kannte kein Ende – und wütete insbesondere in Wien so stark, dass selbst die NS-Führung zur Mäßigung aufrief. Ein Bericht des Sicherheitsdienstes (SD) des nationalsozialistischen Regimes spricht von „sehr harter Behandlung“, die „meistens in brutale Züchtigungen ausartete“. Gauleiter und NS-Reichskommissar Josef Bürckel – verantwortlich für die Durchführung antisemitischer Maßnahmen und die Koordination der Pogrome – schrieb am 10. November 1938 einen Eilbrief an SS-Gruppenführer Ernst Kaltenbrunner. Er forderte, das gesamte Stadtgebiet mit allen verfügbaren Kräften zu sichern, sodass „weitere Ausschreitungen unmöglich sind“. Doch es ging weiter. Noch am 16. November verstärkte die Schutzpolizei auf ausdrückliche Anweisung Kaltenbrunners ihre Streifen.
1940 erfolgte der endgültige Abriss der Synagoge – minutiös geplant anhand sogenannter Demolierungspläne (siehe Infos & Quellen). Die Baumaterialien wurden teils zum Bau neuer Gebäude wiederverwendet. Was von der Tempelanlage übrig blieb, nutzten Behörden als Übungsobjekt für Luftschutzmaßnahmen.
Am Platz der Synagoge steht heute ein unauffälliges Wohnhaus, dessen Eigentümer keine Gedenktafel anbringen wollte. Sie hängt jetzt am Nachbarhaus, dem Gefängnis.
Siebenbrunnengasse 21
Die Siebenbrunnengasse macht eine Kurve. Geht man am Motorradclub und einem Bestattungsunternehmen vorbei, steht man bald vor einem großen Neubau. Nur die Statuen, die von der alten Hausfassade übriggeblieben sind, erinnern daran, was hier einst stand: eine Textilfabrik. Aber nicht irgendeine. Denn in der Siebenbrunnengasse 21 betrieb der jüdische Unternehmer Bernhard Altmann eine der bedeutendsten Strickwarenfabriken Europas – mit rund 1.000 Beschäftigten. Was 1915 als kleiner Garnhandel begann, wuchs innerhalb weniger Jahre zu einem internationalen Unternehmen mit Standorten in Moskau und Paris.
Doch der unternehmerische Erfolg eines Juden war dem NS-Regime zuwider. Wie so viele Betriebe wurde die Fabrik nach dem „Anschluss“ 1938 arisiert – also enteignet und „neuen“, meist linientreuen Besitzer:innen übergeben. Altmann selbst befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Paris. Sein Bruder Fritz wurde ins KZ Dachau verschleppt. Um seine Freilassung zu erzwingen, presste man Bernhard Altmann die Kontrolle über das gesamte Familienvermögen ab – unter anderem mit dem Verkauf einer bedeutenden Kunstsammlung, die zum Teil im Fabriksgebäude in der Siebenbrunnengasse deponiert war.
Über London gelang Bernhard schließlich die Flucht in die USA. Dort startete er neu – und schrieb Wirtschaftsgeschichte: Mit der ersten Kaschmirproduktion auf amerikanischem Boden begründete er ein neues Textilimperium. 1951 stammte ein Drittel der gesamten US-Kaschmirproduktion aus seinem Haus. Vertrieben wurden die edlen Strickwaren unter anderem von seiner Schwägerin Maria Altmann, der Ehefrau seines Bruders Fritz. Auch sie hatten es trotz der Auferlegung eines Hausarrests geschafft, der NS zu entkommen und in die USA zu fliehen. Maria war es auch, die Jahrzehnte später gegen die Republik Österreich auf Rückgabe von fünf Gemälden Gustav Klimts (darunter Adele Bloch-Bauer I, Marias Tante, die als „Frau in Gold“ weltberühmt wurde) klagte – und 2006 Recht bekam.
Nach Kriegsende kehrte Bernhard Altmann nach Wien zurück. Bereits 1945 nahm er die Produktion in der Siebenbrunnengasse wieder auf. Drei Jahre später beschäftigte die Fabrik erneut rund 500 Menschen – und Altmann formulierte seine Vision, der Wiener Modeindustrie wieder zu internationalem Ansehen zu verhelfen. Bis zu seinem Tod 1969 blieb er diesem Ziel treu.
Siebenbrunnengasse 35–37
Geht man in der Siebenbrunnengasse weiter, kommt man zum Gelände einer Schule an der Ecke zur Spengergasse. Was hier einst war, ist nicht mal mehr ansatzweise sichtbar. Denn in der Zeit des Nationalsozialismus befand sich hier ein Zwangsarbeiterlager. Menschen aus besetzten Gebieten – viele aus Griechenland und der Türkei – waren unter katastrophalen Bedingungen untergebracht und wurden zur Arbeit in Fabriken und Bauprojekten gezwungen.
Viel mehr dazu weiß man bis heute nicht, denn die Quellenlage ist dürftig. Dass das Zwangsarbeitslager hier existierte, ist auf eine Liste des Wilhelminenspitals zurückzuführen, das die Arbeiter:innen behandelte und teilweise auch sterilisierte – oder ihren Tod festhielt. Fast alles, was an das Lager erinnerte, wurde vernichtet.
NS-Geschichte ist überall
Während ich diesen Text schreibe, weiß ich: Ich ziehe bald weg – in ein neues Grätzel, in eine neue Straße. Die Kamera nehme ich mit.
Denn gezeichnet vom Zweiten Weltkrieg sind sie alle. Man muss nur genau hinsehen. Die Spuren sind da – seit 80 Jahren. Aber sie verschwinden. Stück für Stück.
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Infos und Quellen
Genese
WZ-Trainee Daniela Pirchmoser stieß bei Spaziergängen durch ihr Wohnviertel auf Spuren der NS-Zeit und begann zu recherchieren. Entstanden ist ein historischer Spaziergang entlang der Siebenbrunnengasse, einer scheinbar gewöhnlichen Straße, wie es sie so viele in Wien gibt.
Gesprächspartner:innen
Thierry Elsen und Gabriele Rökl von read!!ing room (Ein Verein zur Förderung von Alltagskultur. Erbietet regelmäßig Spaziergänge im 5. Bezirk zu den verschiedensten Themen an – von Gemeindebau-Fokus über die Margaretner Frauen bis hin zur lokalen Musikgeschichte.)
Bob Martens, Lehrgangsleiter und Vizedekan an der TU Wien, und Herbert Peter, Ziviltechniker und Senior Scientist an der Akademie der Bildenden Künste Wien
Daten und Fakten
Zurechnungsfähige, aber geistig abnorme Rechtsbrecher:innen sind Menschen, die eine Straftat begangen und eine psychische Erkrankung oder Beeinträchtigung haben, aber trotzdem wissen, was sie tun. Sie gelten also als schuldfähig, brauchen jedoch besondere Betreuung im Gefängnis.
Das Erbgesundheitsgericht Wien wurde Anfang 1940 vom NS-Regime zum Vollzug des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) in den Amtsgerichten Wien-Innere Stadt (Riemergasse 7) und Wien-Margareten (Mittersteig 25) eingerichtet. Das Gesetz war ein zentrales Instrument der NS-Rassenhygiene, das den Mensch zum bloßen Objekt staatlicher Verfügungsgewalt degradierte. Gegenstand der „Erbgesundheitsverfahren“ waren unter anderem „Schwachsinn“, „Schizophrenie“, „erbliche Fallsucht“, „manisch-depressives Irresein“, „schwerer Alkoholismus“, seltener auch „erbliche Taubheit“, „schwere Mißbildungen“ oder „Chorea Huntington“ (eine unheilbare erbliche Erkrankung des Gehirns, die durch nicht kontrollierbare, unkoordinierte Bewegungen gekennzeichnet ist und zum Tod führt).
Rund 400.000 Menschen – Frauen und Männer in etwa gleicher Zahl – wurden zwischen 1934 und 1945 im nationalsozialistischen Deutschland und den besetzten Gebieten zwangssterilisiert. Für Österreich, das ab 1938 als „Ostmark“ Teil des Deutschen Reichs war, lassen sich aufgrund lückenhafter Quellen nur Schätzungen anstellen: Für Wien konnten bislang 1.203 solcher Zwangsmaßnahmen dokumentiert werden. Die Maßnahmen zielten darauf ab, „erbkranken“ Nachwuchs zu verhindern, und wurden oft ohne informierte Zustimmung durchgeführt.
Die sogenannte „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 war ein koordinierter Gewaltausbruch gegen Jüdinnen und Juden. In Wien dauerte das Pogrom mehrere Tage. Insgesamt wurden 42 Synagogen und Bethäuser zerstört, über 6.500 Menschen verhaftet und ca. 3.700 nach Dachau deportiert. Die Gewalt wurde von SA, SS, Polizei und Zivilbevölkerung gemeinsam getragen.
Der Abriss jüdischer Einrichtungen nach der Pogromnacht folgte systematisch erstellten Demolierungsplänen. Die Nationalsozialisten planten detailliert, welche Teile eines Gebäudes entfernt oder anderweitig verwertet werden sollten. Übriggebliebene Teile wurden als „Übungsobjekte“ für den Luftschutz verwendet.
Die „Arisierung“ bezeichnete die erzwungene Übertragung jüdischen Eigentums auf „arische“ Personen – oft weit unter Wert oder durch direkte Enteignung. In Wien wurden tausende Betriebe arisiert. Die wirtschaftliche Ausschaltung der jüdischen Bevölkerung war dabei kein Nebeneffekt, sondern zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie. Neben Unternehmen betraf die Enteignung auch Wohnungen, Häuser, Wertgegenstände, Bankkonten und Kunstsammlungen.
Nach dem Krieg dauerte es Jahrzehnte, bis geraubte Kunstwerke restituiert, also an ihre rechtmäßigen Besitzer:innen oder deren Erb:innen zurückgegeben wurden, nachdem sie im Nationalsozialismus enteignet oder geraubt worden waren. Ein prominenter Fall ist Maria Altmann, die Nichte von Adele Bloch-Bauer und Schwägerin von Bernhard Altmann. Sie kämpfte juristisch gegen die Republik Österreich um die Rückgabe von fünf Gemälden Gustav Klimts, darunter das berühmte Porträt „Adele Bloch-Bauer I“ – mit Erfolg. Der Fall wurde 2006 sogar verfilmt (Titel: Die Frau in Gold). Er steht exemplarisch für den langen, mühsamen Weg der Wiedergutmachung.
Während der NS-Zeit wurden in ganz Österreich Zwangsarbeiterlager errichtet. Rund eine Million Menschen, viele aus Griechenland, Polen, der Ukraine und der Türkei, wurden zur Arbeit in Industrie, Landwirtschaft oder am Bau gezwungen – oft unter lebensgefährlichen Bedingungen. In Wien und Niederösterreich waren allein mit Stand 15. August 1944 rund 270.965 ausländische zivile Zwangsarbeiter:innen beschäftigt; Häftlinge aus Konzentrationslagern sind darin nicht enthalten. Die Behandlung richtete sich nach Herkunft: Arbeiter:innen aus dem Osten (etwa Ukraine, Russland und Belarus) erhielten schlechtere Versorgung und wurden stärker isoliert. Die medizinische Betreuung war meist unzureichend, viele überlebten die Lager nicht. Erst ab dem Jahr 2000 erhielten 132.000 der Überlebenden durch den österreichischen Versöhnungsfonds finanzielle Entschädigung.
Quellen
GeschichteWiki der Stadt Wien: Zwangsarbeiterlager Siebenbrunnengasse 35–37
Bundesdenkmalamt: Katalog der NS-Opferlager in Österreich
Lexikon der Österreichischen Provenienzforschung: Bernhard Altmann
BPB (Bundeszentrale für politische Bildung): „Gemeinschaftsfremde und Kranke“
Graf et al. (2020): „Propaganda für einen gesunden Volkskörper“
Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V. - Zum Feind gemacht: Zwangssterilisierungen
Claudia Andrea Spring: Zwischen Krieg und Euthanasie: Zwangssterilisationen in Wien 1940 - 1945
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes: