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Seit mehr als zehn Jahren kommen geflüchtete Menschen aus der ganzen Welt über die Balkanroute in die EU. An der bosnisch-kroatischen Grenze verharren sie oft monatelang und versuchen mehrmals, sie zu überqueren. Ein Lokalaugenschein.
Es ist der letzte Abschnitt ihrer Reise. Um kurz vor zwei Uhr früh geht eine Gruppe von sieben Männern mit Rucksäcken auf den Schultern oder Taschen in den Händen an Mirsads Haus vorbei. Sie sind wahrscheinlich seit mehreren Monaten unterwegs, könnten ihr Ziel aber schon zu Mittag erreichen, denn es scheint greifbar nah.
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Doch Mirsad sieht die Männer oft zweimal. Einmal in der Früh, und Stunden später - blutig geschlagen, ohne Rucksäcke und gedemütigt. Mirsad wohnt in Vikić, einem bosnischem Grenzdorf an der Grenze zu Kroatien. Woche für Woche begegnet er Dutzenden Geflüchteten, die direkt vor seiner Haustür vorbeigehen. Und das obwohl die Balkanroute eigentlich seit März 2016 als geschlossen gilt. Ihr Ziel: Die Europäische Union. Doch sie werden von der kroatischen Polizei gewaltsam zurückgeschickt.
Zu wissen, wie es ist
Tatsächlich passieren weiterhin Tausende Geflüchtete Mirsads Haus auf ihrem Weg durch in die Wälder Bosniens. „Ich sitze manchmal zu Hause und sehe, wie jemand vor dem Haus mit einer Taschenlampe reinleuchtet. Sie stehen vor meinem Zaun und fragen nach Essen oder Kleidung“, sagt er. Seine Nachbar:innen und er helfen gerne. Sie wissen, wie es ist, in ihren Schuhen zu laufen und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, betont er.
„Niemand kann mir sagen, dass es nicht passiert. Ich sehe es mit meinen eigenen Augen“, sagt der Bosnier im Interview. „Das Schlimmste ist, dass sie ihnen die Kleidung ausziehen. Die Beine sind blutig und Telefone zerbrochen. Manche zerschneiden dann große Plastikflaschen und binden sie sich um die Füße, um sich nicht an den Steinen am Weg zu verletzen.“
Pushbacks mit System
Was Mirsad beschreibt, sind Pushbacks, die von der kroatischen Grenzpolizei betrieben werden. Seit 2016 wird diese Praxis international kritisiert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied im November 2021, dass es systematisch passiert. Geflüchtete sollen dadurch vom Versuch, um Asyl in der EU anzusuchen, abgeschreckt werden und im Idealfall ins Heimatland zurückkehren. Nach dem Schengen-Beitritt Kroatiens 2023 kam es zu weniger Vorfällen. Die kroatische Volksanwaltschaft berichtet aber von einem Anstieg der Fälle im letzten Jahr, wobei hier schwer festzumachen ist, ob nach dem altbekannten Muster vorgegangen wird oder es sich um Einzelfälle handelt.
Die meisten Geflüchteten versuchen es dann immer wieder. Und kommen bei Mirsad vorbei. Um zu sehen, wie dieser Weg nach Kroatien wirklich aussieht, nahm er die WZ mit.
Sein Jeep schafft es gerade noch durch. Auf beiden Seiten dicht bewaldet, müssen wir uns immer wieder vor Ästen ducken, die durch das offene Fenster ins Innere streifen. Hier kommt nicht jeder Wagen einfach so vorbei – und auch nicht alle Reisenden.
An der Grenze
Keine fünf Kilometer südwestlich von uns liegt die kroatische Grenze. Es ist ein Teil der Balkanroute, die in den letzten Jahren synonym für den Aufbruch vieler Flüchtenden zu einem besseren Leben wurde. Und wohl kaum einer kennt die Umgebung so gut wie Mirsad. Er ist ehemaliger Soldat. In den 1990er-Jahren verlief die Frontlinie während des Bosnienkrieges hier entlang, heute spaziert Mirsad den Weg fast täglich – aus Langeweile und um fit zu bleiben. Einzelne Häuser kennt er noch aus seiner Zeit aus dem Krieg.
Er erinnert sich noch gut an die ersten kurdischen Geflüchteten, die nach Ausbruch des Syrien-Krieges herkamen. 2013 sah er sogar chinesische Geflüchtete, die wohl vor Armut fliehen mussten. „Die sind auch hier entlanggegangen. Es waren kalte Winternächte und die sind fast erfroren“, sagt er im Auto. Mirsad versuchte zu helfen. Er versorgte mit schwarzem Tee und bat seine Nachbarn, auch zu helfen. Die Solidarität für Geflüchtete in der Nachbarschaft sei groß.
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Das Schlepperbusiness boomt
Ob man es in die EU schafft, sei aber auch eine Geldfrage. Wer genug bezahlt, kommt durch. Manche sogar bis zu 2500 Euro. Im ganzen Land gebe es Leute, die gut daran verdient hätten. Die kriminellen Schleppernetzwerke wurden durch die harte Grenzpolitik eben auch gestärkt, sagt Petar Rosandić von SOS Balkanroute. „Das Kriminelle ist noch gewaltiger geworden und die Schlepper sind besser organisiert. Die Leute wissen oft schon in Istanbul, wie es auf der Balkanroute aussieht. Das war 2019 noch anders“, erzählt er der WZ im Interview. Auch innerhalb der Flüchtlingscamps haben die Schlepper ihre Leute, kleine Räder im größeren System der Schleppernetzwerke.
Mit dem großen Fluchtjahr 2015 wurde es auch auf der Balkanroute eng. Etwa 1,5 Millionen Menschen kamen über die südöstliche EU-Außengrenze in die EU. Im Herbst waren es sogar bis zu 200.000 pro Monat. Ungarn sperrte die Grenzen zu jener Zeit mit Zäunen, die Umleitung führte über Kroatien und Slowenien.
Die ersten Schwierigkeiten beginnen aber schon im Wasser. Mit überfüllten Schlauchbooten müssen Geflüchtete das Mittelmeer überqueren. Die Bilder von ertrinkenden Familien gingen um die Welt und sorgten für Aufregung, Lösungen mussten her. Die EU schloss einen Deal mit der Türkei, darin wurde die Türkei als sicheres Drittland erklärt und Rückführungen aus Griechenland legalisiert.
Am Balkan lauern andere Gefahren. Von Wölfen und Bären bis zu Schakalen und Schlangen soll es hier alles geben. Warum dann dieser Weg? „Die Flüchtenden kommen hier her, weil es dicht bewaldet ist und die kroatische Polizei sie nicht sofort sieht“, so Mirsad. Auf einem anderen Weg weiter südlich beim Gebirgszug Plješevica sind die Geflüchteten schnell erkannt. Die Polizei benutzt mittlerweile Wärmekameras und Drohnen. Wenn sie jemanden erkennen, dauert es nur sieben Minuten, bis jemand bei ihnen ist.
Über die Korana
Die letzte Station für die Geflüchteten ist ein abgelegenes, eingestürztes Haus. Die Ziegelsteinfassade steht noch, aus dem Inneren ragen aber schon hohe Pflanzen hinaus. Im Haus liegen Matratzen, Decken und Essensrationen, die von lokalen Helfer:innen ausgegeben wurden. Auf dem Boden liegen zerrissene Papiere.
Hier ruhen sich die Geflüchteten noch ein letztes Mal aus, bevor es nach Kroatien geht. Dafür müssen sie den Fluss Korana überqueren. Die natürliche Grenze zwischen den zwei Ländern ist im Sommer seicht. Im Herbst und Winter, wenn das Wasser hochsteht, bauen die Geflüchteten improvisierte Flöße aus alten Reifen. Die Dokumente lassen sie in Bosnien zurück. Wenn es keinen Nachweis gibt, dass sie in einem anderen Land waren, erhöht das ihre Chance, als Schutzsuchende anerkannt zu werden. Gleichzeitig verringert es die Chance, ins Heimatland abgeschoben zu werden. Diese Anweisung kommt häufig von Schleppern. Rechtlich stimmt das. Nur läuft es nicht immer so.
Wenn sie es nicht schaffen, werden es die meisten wohl erneut versuchen. Sie brechen dann eben hier in Vikić auf und kommen erneut an Mirsads Haus vorbei.
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Infos und Quellen
Genese
Über Asyl und Flucht wird in Österreich immer heftig diskutiert. Vor allem dieses Jahr wird es als Rückblick zum Fluchtsommer 2015 wieder thematisiert. Die Balkanroute ist eine der bekanntesten Wege, über die Geflüchtete in die EU gelangen. Dennis Miskić wollte sich den Weg genauer ansehen.
Daten und Fakten
- In den drei Flüchtlingslagern innerhalb Bosnien-Herzegowinas befinden sich laut UN IOM Migration derzeit insgesamt 865 Menschen. Kapazitäten gäbe es für 4012. Die häufigsten Nationalitäten sind derzeit Ägypten, Afghanistan, Marokko, Palästina und Syrien. Die Situation ändert sich aber wöchentlich und die Dunkelziffer ist hoch, weil sich nicht immer alle in den Camps registrieren lassen.
- Seit 2015 wurden in Österreich knapp über 430.000 Asylanträge gestellt, die meisten waren es 2022 mit 112.000. Expert:innen meinen aber, die Zahl sei irreführend, weil die meisten Menschen ohnehin weiterreisen. Nur etwa die Hälfte ist in Österreich geblieben.
- Der EU-Türkei-Deal wurde im März 2016 abgeschlossen. Die Türkei verpflichtete sich, alle irregulär in Griechenland ankommenden Geflüchteten aufzunehmen. Die EU versicherte finanzielle Unterstützung und Visa-Erleichterungen für die Türkei.
Gesprächspartner:innen
- Mirsad, pensionierter Kriegsveteran in Vikić
- Petar Rosandić, Gründer und Obmann, SOS Balkanroute
- Kroatische Volksanwaltschaft (Hintergrundgespräch zu Pushbacks)
Quellen
- ECHMR: CASE OF M.H. AND OTHERS v. CROATIA, JUDGEMENT, 18 November 2021
- Border Violence Monitoring Network: Monthly Report, June 2025
- Friedrich-Ebert-Stiftung Dialogue Southeast Europe: The EU-Turkey Refugee Deal and the Not Quite Closed Balkan Route
- IOM UN Migration und bosnische Fremdenpolizei zu Angaben über Geflüchtete in Bosnien-Herzegowina
- Mixed Migration Centre & Protecting Rights at Borders: Mixed migration in the Western Balkans: Shifting policies, smuggling dynamics and risks
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