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Wie konnte es zu den Freisprüchen im „Fall Anna“ kommen? Warum der Fall die Gemüter erregt und eine Debatte über das Konsensprinzip angestoßen hat.
In diesem Text geht es um sexuelle Gewalt. Falls du auf dieses Thema sensibel reagierst, lies diesen Beitrag gemeinsam mit einer vertrauten Person, um dich mit ihr über das Gelesene zu unterhalten.
Ein zwölfjähriges Mädchen gegen zehn männliche Jugendliche mit Migrationsgeschichte. Im Raum stehen Sexualdelikte. Für die breite Öffentlichkeit ist klar: die Jugendlichen müssen schuldig sein. Umso größer ist die Empörung, als ein Schöffensenat am Wiener Landesgericht Ende September alle zehn Angeklagten freispricht.
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Rechtskräftig ist das Urteil noch nicht. Auf Weisung des Justizministeriums hat die Staatsanwaltschaft Nichtigkeitsbeschwerden eingebracht. Jetzt liegt der Fall beim Obersten Gerichtshof.
Nun fragen sich viele: Wie kann es sein, dass die Angeklagten nach der Verkündung des Urteils den Gerichtssaal als freie Menschen verlassen konnten?
Die Anklage
Der Fall Anna wird in der Öffentlichkeit emotional diskutiert. Aus Opferschutzgründen bleibt der Name des Mädchens geheim. Aus demselben Grund fand der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Denn zum Zeitpunkt der angeklagten Straftaten im Frühjahr 2023 war das Mädchen gerade einmal zwölf, die Angeklagten zwischen 14 und 18 Jahre alt. Laut Gesetz gelten Kinder unter 14 Jahren als unmündige Minderjährige – sexuelle Handlungen mit ihnen sind grundsätzlich strafbar und gelten als sexueller Missbrauch.
Da die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren allerdings nicht nachweisen konnte, dass die Angeklagten vom wahren Alter des Mädchens wussten, stand keiner der zehn Jugendlichen wegen sexuellen Missbrauchs vor Gericht. Anders als Boulevardberichte über eine angebliche „Gruppenvergewaltigung“ nahelegten, waren die zehn Jugendlichen auch nicht mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert – sondern wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung, zwei von ihnen zusätzlich wegen geschlechtlicher Nötigung.
Der Teufel liegt in juristischen Details
Den Unterschied erklärt Rechtsanwältin Patricia Hofmann, die auf Sexualstrafrecht spezialisiert ist, im Interview mit der WZ: „Bei der Vergewaltigung geht es darum, dass der Täter Gewalt anwendet oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr ausspricht, um das Opfer zum Sex zu nötigen.“ Darunter fallen etwa Schläge, das Opfer festzuhalten oder zu betäuben. Ähnliches gilt für geschlechtliche Nötigung mit dem Unterschied, dass es um andere geschlechtliche Handlungen geht. Zum Beispiel um das durch Gewalt erzwungene Berühren der weiblichen Brüste oder das intensive Anfassen der Geschlechtsteile, ohne dass es zu einer Penetration kommt.
Bei der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung muss der Täter hingegen keine Gewalt angewendet haben. Es reicht, dass das Opfer mit dem Sex oder einer ähnlichen Handlung nicht einverstanden war.
Nach der Tat zählt jede Minute
Eine Verurteilung ist nur möglich, wenn die Staatsanwaltschaft den Angeklagten ihre Schuld nachweisen kann. Ansonsten gilt die Unschuldsvermutung, das Gericht muss die Angeklagten im Zweifel freisprechen. Finden Tathandlungen ohne Zeug:innen statt, ist die Sicherung von Beweisen daher umso wichtiger.
Opferanwältin Hofmann rät Opfern von sexueller Gewalt daher, so schnell wie möglich ein Krankenhaus aufzusuchen: „Wenn Spuren vorhanden sind, können diese in der Regel sehr gut gesichert werden. Kleidung und Bettwäsche sollten auf keinen Fall gewaschen werden.” Sie rät auch davon ab, sich zu duschen. Doch auch danach können immer noch DNA-Spuren vorhanden sein. „Der Gang ins Krankenhaus ist also in jedem Fall sinnvoll – allein schon aus medizinischen Gründen.“
Die Alterstoleranzklausel
Unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt das Gesetz einvernehmliche sexuelle Kontakte zwischen Jugendlichen mit geringem Altersunterschied. Grundvoraussetzung ist immer, dass alle Beteiligten mit den sexuellen Kontakten einverstanden sind. Für Sex gilt ein Mindestalter von 13 und ein Altersabstand von höchstens drei Jahren. Für die manuelle Befriedigung muss die jüngere Person mindestens 12 Jahre alt sein, der Abstand darf höchstens vier Jahre betragen.
Der Altersunterschied wird auf den Tag genau berechnet. Genau dieser Umstand wurde dem Ex-Freund von Anna zum Verhängnis. Weil Anna und ihn drei Jahre und neun Monate trennen, wurde er im Frühling in einem eigenen Prozess wegen Missbrauchs zu 15 Monaten bedingter Haft verurteilt. Und das, obwohl er sich zuvor im Internet und bei seinen Betreuerinnen der Wiener Kinder- und Familienhilfe informiert hatte, ob die Beziehung legal sei – was diese bestätigten. Er war es auch, der die ganze Sache ins Rollen brachte und seine damalige Freundin bestärkt hatte, zur Polizei zu gehen.
Rechtsanwalt Helmut Graupner kritisiert das Urteil im WZ-Interview scharf: „Wenn jemand erkennbar alles getan hat, um sich rechtmäßig zu verhalten, dann darf er nicht verurteilt werden. Das ist für mich ein Skandal.“ Außerdem habe der Gesetzgeber festgelegt, dass selbst bei Überschreitung der Alterstoleranz nur mit großer Zurückhaltung eingegriffen werden darf – wenn der sexuelle Kontakt einvernehmlich war. „Genau das wird in der Praxis aber nicht immer berücksichtigt“, erklärt Graupner.
Gesellschaftspolitisch ist es wichtig, von Zustimmung auszugehenPatricia Hofmann, Opferanwältin
Debatte um „Nur Ja heißt Ja“
Der Freispruch der zehn Jugendlichen hat eine Diskussion rund um das Konsensprinzip entfacht. Justizministerin Anna Sporrer (SPÖ) will dieses einführen, es ist auch bekannt unter „Nur Ja heißt Ja“. Anders als bisher müsste dann das Gericht in einem Strafverfahren überprüfen, ob das mutmaßliche Opfer der sexuellen Handlung ausdrücklich mit „Ja“ zugestimmt hat.
Katharina Beclin, Professorin für Strafrecht an der Universität Wien, weist gegenüber der WZ darauf hin, dass Österreich das Konsensprinzip eigentlich längst hätte einführen müssen. Nach der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die Österreich 2011 unterzeichnet hat, ist die Umsetzung des Prinzips verpflichtend.
Opferanwältin Hofmann würde dieses Gesetz befürworten: „Gesellschaftspolitisch ist es wahnsinnig wichtig, dass ich von einer Zustimmung ausgehe und nicht immer über die Gegenwehr sprechen muss.“ In einigen ihrer betreuten Fälle hätte das Konsensprinzip einen Unterschied gemacht.
Anders sieht es Rechtsanwalt Graupner: „Wenn vor jeder einzelnen sexuellen Handlung ein verbales Einverständnis eingeholt werden müsste, dann wäre eine Zustimmung durch Blicke, Gesten oder Verhalten nicht mehr möglich. Das zerstört jede Erotik“, kritisiert er. Ein solches Gesetz wäre aus seiner Sicht „ein absurder Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung“, die einerseits aus dem Recht auf Sexualität und der sexuellen Freiheit und andererseits aus dem Recht, unerwünschte Sexualität abzulehnen, bestehe. Graupner meint daher: „Der Gesetzgeber muss hier sensibel abwägen, um nicht einseitig oder lebensfremd in die Lebenswelt der Menschen einzugreifen.“
Am Zug sind jetzt die Regierungsparteien ÖVP, SPÖ und Neos, diesen Balanceakt zu vollziehen und sich unter Sporrers Federführung auf die rechtlichen Details zu einigen.
Du bist von sexueller oder häuslicher Gewalt betroffen? Ganz wichtig: Scham oder Schweigen schützen nur die Täter:innen. Du darfst dir Hilfe holen – und zwar sofort. In Notfällen wähle den Polizeinotruf 133. Der Frauennotruf Wien (01 71719) und der Männernotruf (0800 246 247) sind rund um die Uhr kostenlos und anonym erreichbar. Der Weiße Ring (0800 112 112) bietet österreichweit Opferschutz und Beratung. Bei Belästigung am Arbeitsplatz oder in der Ausbildung hilft die Gleichbehandlungsanwaltschaft. Und in Gefahrensituationen kannst du mit dem internationalen Handzeichen für Hilfe – Daumen in die Handfläche legen und Faust schließen – unauffällig auf dich aufmerksam machen.
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Infos und Quellen
Genese
Die Freisprüche für die zehn Angeklagten im “Fall Anna” Ende September erregten großes Aufsehen. Unverständnis beherrschte die emotionale Debatte in Politik und Medien, juristische Details blieben außen vor. Wir wollten das Ganze nüchtern betrachten.
Gesprächspartner:innen
- Patricia Hofmann ist Rechtsanwältin in Wien und auf Gewaltschutz- und Opferschutzrecht spezialisiert.
- Helmut Graupner ist Wiener Menschenrechtsanwalt und Vorsitzender des Rechtskomitees LAMBDA, das sich seit 1991 für die Gleichberechtigung von homosexuellen und transidenten Menschen in Österreich einsetzt.
- Katharina Beclin ist Professorin für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Wien und forscht zu Sexual- und Gewaltschutzdelikten.
Daten und Fakten
- Laut Statistik Austria (2022) hat jede dritte Frau in Österreich schon körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt. Fast jede sechste bekam Drohungen mit Gewalt, und rund neun Prozent berichten sogar von einer Vergewaltigung. Auch im Job ist das Thema groß: Mehr als jede vierte Frau hat sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt.
- Die Istanbul-Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Österreich hat sie 2011 unterzeichnet und 2014 ratifiziert. Die Konvention verpflichtet die Mitgliedsstaaten, Gewalt gegen Frauen strafrechtlich zu verfolgen, Opferschutz zu gewährleisten und präventive Maßnahmen zu setzen.
Quellen
- “Istanbul Konvention”: Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt und erläuternder Bericht
- Statistik Austria: Jede dritte Frau von Gewalt betroffen
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
- Der Standard: Bedingte Haft für Sex mit 13-Jähriger
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