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Freiraum St. Marx: Kampfloser Untergang „ist keine Option“

6 Min
In St. Marx haben sich auf einer Freifläche zahlreiche kreative Projekte etabliert.
© Illustration: WZ, Fotocredit: wildimwest.at

Junge Leute nutzen ein umzäuntes Areal in Wien-Landstraße als experimentelle Spielwiese. Diese soll demnächst einer riesigen Multifunktionshalle weichen. Es regt sich Widerstand. Ein Lokalaugenschein.


„Es fühlt sich an wie in einer Anarchie-Republik“, sagt ein hagerer junger Mann mit Kajal um die Augen. „Ein Gegenpol zur Welt da draußen. Es achtet jeder auf den anderen, hier ist es hierarchiefrei, hier kannst du machen, was du willst.“

„Hier“: Das ist ein verwinkeltes Grundstück neben der Rinderhalle St. Marx, wo 2030 eine riesige Eventarena stehen soll. Noch ist es ein umzäuntes Biotop und von außen kaum wahrnehmbar. Über die Jahre sind ein Urban-Gardening-Projekt, ein Skatepark, selbstgebaute Holzhütten, ein betonierter Basketballplatz und ein Flohmarkt entstanden. Hier befindet sich der Kulturverein „R:Journey“, Kreative brennen in der Mitte des Areals Gegenstände aus Keramik. Das Gelände wird – wenn es nach Plan läuft – spätestens in drei Jahren von Baumaschinen plattgewalzt. Dann steht auf der Fläche eine Halle, in der Konzerte, Ausstellungen und Veranstaltungen aller Art stattfinden sollen.

„Wir können die Sache noch drehen“

Nicht, wenn es nach dem hageren Mann mit dem Lidstrich – er stellt sich als Student auf der Angewandten vor – geht. Die Eventhalle hält er für komplett unnötig, „da profitieren nur große Bands und die Tickets sind zu teuer, als dass ich sie mir leisten könnte“. Er will Widerstand leisten und glaubt, dass es eine Chance auf Erfolg gibt. „Wenn genug Unterstützung aus der Gesellschaft kommt, können wir die Sache noch drehen.“

Er ist mit seinem Kampfgeist nicht allein. Längst hat sich die Bewegung „St. Marx für alle“ zusammengefunden, eine Initiative von Aktivist:innen und Nachbar:innen, die die Freifläche laut selbstverfasster Proklamation als „Ort der Begegnung“, als „kostenfreies städteplanerisches Experimentierfeld“ erhalten will. Die Uhr tickt, der Baubeginn könnte schon 2027 sein. Noch duldet die für die Verwaltung des Grundstücks zuständige Wien Holding die Projekte auf dem Gelände mehr oder weniger wohlwollend. Aber es gibt ein Ablaufdatum.

„Ein kleiner Central Park“

Direkt neben dem mit einer Holztüre verschlossenen Eingang zum Gelände sitzt ein bulliger Mann mit Bart. Er stellt sich als „Shorty“ vor, „Obmann von R:Journey“, einem Verein, der hier die verschiedensten Events veranstaltet. Konzerte, Lesungen, Quiz-Veranstaltungen. „Ein kleiner Central-Park ist das hier“, sagt Shorty, eine „Perle“. Und: „kampflos untergehen“ ist für ihn „keine Option“. Er will erreichen, dass möglichst viele Privatpersonen mobilgemacht werden und gegen das Großprojekt der Stadt Wien protestieren. Die Anrainer:innen sieht er auf seiner Seite, die hätten keine Lust auf den nach Fertigstellung der Eventhalle drohenden Rummel, Verkehrschaos und Parkplatznot.

Bei den Partys seines Vereins würden auch die Veteran:innen der legendären Arena-Besetzung 1976 vorbeischauen, erzählt Shorty. „Das ist unsere Elterngeneration.“ Die Aktion damals sei für ihn „das große Vorbild“. Wobei er sich „nicht so leicht vertreiben“ lassen will wie die Besetzer:innen seinerzeit.

Vergleichsweise bürgerliche, schon ältere Menschen gibt es auf dem Areal auch. Die, die hier ein kleines gärtnerisches Paradies geschaffen haben, seien „Generation 50 plus“, sagt Shorty, und aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Jan, 29 Jahre alt und in der Nähe wohnhaft, berichtet wiederum von Aktivist:innen einer Initiative namens „Robin Foods“, die hier tätig sei. Leute, die Lebensmittel vor dem Wegwerfen bewahren und verteilen.

Getrennte Submilieus

Ein unbehelligtes Paradies ist es trotzdem nicht, wie Shorty erzählt. Es habe in der Vergangenheit immer wieder Einbrüche gegeben. „Es wäre löblich gewesen, wenn die nur etwas gestohlen hätten“, sagt er. „Was sie getan haben, war stumpfes Randalieren.“

Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass es sich bei der Freifläche St. Marx um ein Biotop mit mindestens fünf verschiedenen Submilieus handelt. Die koexistieren abgegrenzt voneinander, manchmal gibt es Streit, dann wieder hilft man sich, nimmt aber sonst von den anderen nur bedingt Notiz. Die Nutzer:innen der Skaterfläche leben in bestem Einvernehmen mit den kreativen Keramikkünstler:innen nebenan; auch mit dem Basketballverein, der sich hier seinen Platz geschaffen hat, gibt es keine Probleme. Die urbanen Gärtner:innen hatten allerdings anfänglich ihre liebe Not mit den wüsten Feiern der partyfreudigen Nachbar:innen von R:Journey. Diese liegen im Streit mit dem Flohmarkt „Wild im West“. Das schon aus ideellen Gründen, weil letztere gewinnorientiert arbeiten – hier ein Tabu. Angeblich aber auch, weil sie sich im „Wild im West“ rücksichtslos, überheblich und unsolidarisch verhalten würde. Am Samstag kann dort jedenfalls Billigschmuck erstanden werden.

„Schlafen bis Mittag, Skaten, dann Party“

Im Skaterpark am anderen Ende des Geländes stehen zwei Männer, Mitte 30, mit ihren Sportgeräten in der Hand und unterhalten sich. „Zuerst schläfst du bis 13.00 Uhr, dann kommst du her und fährst, dann gibt es eine Grillparty“, beschreibt einer der beiden das Skater-Lebensgefühl. Skaterinnen seien ebenfalls zahlreich mit von der Partie. Und klar: Es wird gekifft, manche trinken aber eher Bier. Wobei man selbst sportlich gesehen die beste Zeit hinter sich habe, sagen die beiden und lachen. Die „Kernszene“ derer, die hierherkommen, bestehe aus rund 150 Jugendlichen. Die Bahn sei selbst gebaut, nach und nach entstanden, teils privat bezahlt, teils aus Sponsorengeldern. Die mittlerweile international im Skateparkbau tätige Firma „Spoff Parks“ habe genau hier in St. Marx ihren Ursprung.

Das Skater:innen-Sein habe immer einen „negativen Beigeschmack“, sagen die beiden Alt-Sportler. Das würde man auch hier in St. Marx mitbekommen, wo oft Leute am Zaun vorbeigehen, „die uns als Asoziale abstempeln, die öffentlichen Grund und Boden besetzen. Wir sind für die dann Arschlöcher.“

Hoffnung auf „Kompensation“

Eine Widerstandsstrategie gegen die drohende Verbauung haben die beiden, die ursprünglich aus Deutschland stammen, auch: „Alles möglichst offiziell machen, öffentlich auftreten. Einen Verein gründen, mit der Stadt Wien in Kontakt treten. Und dann mit der Stadt über Kompensationsflächen reden.“ Es müsse darum gehen, hier noch möglichst viel zu errichten, um dann von der Gemeinde einen anderen Raum der freien Entfaltung als Entschädigung zu bekommen. Das habe früher schon funktioniert.

Für Shorty ist das keine Option. Eine vergleichbar geeignete Fläche, die als Ersatz dienen könnte, gibt es in Wien derzeit nicht, sagt er.


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Infos und Quellen

Genese

Die Freifläche St. Marx ist direkt vor den Räumlichkeiten der WZ-Redaktion. Was also lag im wahrsten Sinne des Wortes näher, als sich dort einmal näher umzusehen – fand WZ-Redakteur Michael Schmölzer und begann mit der Recherche.

Geprächspartner:innen

  • Jan, Nachbar und Fan von „St. Marx muss bleiben“
  • „Shorty“, Obmann des Vereins R:Journey
  • Ein Student der Angewandten, der gern hier ist
  • Zwei Skater, Mitte 30, die ihrer Leidenschaft am südlichen Ende der Freifläche nachgehen

Daten und Fakten

  • 2030 soll die Multifunktionshalle in St. Marx stehen, die Bauarbeiten werden zwischen 24 und 36 Monate in Anspruch nehmen. Die Arena soll eine Kapazität von bis zu 20.000 Besucher:innen haben, es werden dort Konzerte, Shows, Sport-Events, Messen stattfinden, der Ort soll Bühne für internationale Stars sein.
  • Errichtet und betrieben wird die geplante Halle vom deutschen Konzern CTS Eventim.
  • 1976 besetzten junge Leute das Arena-Gelände im Bereich des ehemaligen Auslands-Schlachthofes. Die Aktion dauerte mehr als drei Monate an, es gab Konzerte, Lesungen und Theateraufführungen, die von tausenden Menschen besucht wurden. Das im Artikel beschriebene Grundstück befindet sich nicht an der Stelle des historischen Arenageländes, sondern weiter nördlich neben der unter Denkmalschutz stehenden Rinderhalle.

Quellen

Das Thema in der WZ

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