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Flucht aus Gaza: Das große Geschäft mit der Verzweiflung

8 Min
Ein Entkommen aus dem zerstörten Gazastreifen ist für die meisten so gut wie unmöglich.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Palästinenser:innen zahlen zehntausende US-Dollar, um dem Krieg im Gazastreifen zu entkommen. Skrupellose Profiteur:innen machen ein Bombengeschäft.


Seit einem halben Jahr führt Israel im Gazastreifen Krieg gegen die Hamas. Durch israelische Luft- und Bodenangriffe in den Süden getrieben, befinden sich derzeit rund 1,2 Millionen Flüchtlinge in der Grenzstadt Rafah. Offiziell ist der Übergang nach Ägypten zwar geschlossen, dennoch ist es möglich, in das Nachbarland auszureisen – vorausgesetzt, man kann die hohen Gebühren bezahlen.

Der Name Hala Company ist den meisten Vertriebenen in Rafah ein Begriff. Die Agentur verspricht, gegen eine Gebühr Menschen aus Gaza die Ausreise nach Ägypten zu ermöglichen. „Mit der Agentur in Kontakt zu kommen, ist einfach“, sagt Mohammed Rajab im Telefoninterview mit der WZ. „Sie hat ihren Sitz in Kairo, über Soziale Medien kannst du mit ihren Maklern in Kontakt treten.“ Die Preise erfährt man auf Nachfrage. „5.000 US-Dollar kostet die Ausreise für einen Erwachsenen, 2.500 Dollar für Kinder unter 16 Jahren“, so Rajab. Die hohen Gebühren zu bezahlen, ist für die meisten Palästinenser:innen schwierig bis unmöglich. Verzweifelt, dem Krieg dennoch zu entfliehen, sammeln viele über Crowdfunding-Plattformen wie GoFundMe Geld und veröffentlichen ihre Spendenaufrufe auf Instagram, Twitter und Facebook.

Die Transitliste

Sucht man auf GoFundMe unter dem Schlagwort „Gaza“, tauchen mehr als 500 Treffer auf. Dem Spendenziel nach handelt es sich dabei immer um größere Familien von zehn oder mehr Personen. Auch Rajab hat auf GoFundMe eine Kampagne gestartet und inzwischen sein Ziel erreicht. Jetzt wartet er darauf, dass die Namen seiner Familienmitglieder auf die Liste gesetzt werden – ein täglich an die Grenzbehörden ausgegebenes Dokument mit den Namen jener, deren Einreise nach Ägypten genehmigt wurde. Bereits vor dem Krieg konnte von Gaza nach Ägypten nur ausreisen, dessen Name auf der Liste stand. Dafür musste man sich zunächst beim Innenministerium der Hamas registrieren. Die Personendaten wurden dann weitergeleitet und von ägyptischen und israelischen Behörden geprüft. Waren die Personen unverdächtig, erhielten die Grenzbeamt:innen grünes Licht, sie nach Ägypten einreisen zu lassen.

Diese Prozedur dauerte oft Monate, zusätzlich verzögert durch regelmäßige Schließungen des Grenzübergangs. Um die langen Wartezeiten zu verkürzen, boten Makler ihre Dienste an. Gegen eine Gebühr sorgten sie dafür, dass die Namen der Zahlungswilligen rasch auf die Transitliste kamen. Einer von mehreren Anbietern war seit 2019 Hala Tourism and Consulting. Deren Service kostete vor dem Krieg ein paar hundert US-Dollar, das VIP-Service inklusive Bustransfer vom Grenzübergang nach Kairo gab es um 1.200 Dollar.

Seit Beginn des Krieges im Oktober 2023 ist Hala Tourism and Consulting der einzig verbliebene Anbieter. Wie die ägyptische Online-Zeitung Mada Masr berichtet, gehört die Firma mit Sitz in Kairo zur Argani-Gruppe. Die Unternehmen dieses Firmengeflechts sind in verschiedenen Wirtschaftszweigen tätig – vom Bergbau über das Baugewerbe bis hin zum Transportwesen.

Vorstandsvorsitzender ist Ibrahim al-Argani, Anführer des mächtigen Tarabin-Stammes im Norden des Sinai. Al-Argani verfügt über großen Einfluss in Wirtschaft und Politik, offenbar mit direkten Verbindungen zu den höchsten Ebenen der ägyptischen Regierung.

Doch die Argani-Gruppe bringt nicht nur Personen, sondern auch Hilfslieferungen über die Grenze. Eine ihrer Firmen, Sons of Sinai, ist auf den Transport von Gütern internationaler Organisationen spezialisiert. Wie Mada Masr recherchierte, werden die Lastwagen der Firma bevorzugt behandelt, wenn sie Hilfsgüter durch die Sinaihalbinsel Richtung Grenze transportieren. Während die Sicherheitsbeamten andere Lkw strengen Kontrollen unterziehen und diese unter Umständen tagelang festsitzen, winken sie die Lastwagen der Sons of Sinai rasch durch.

Ein Foto von Mohammed Rajab.
"Die Menschen in Rafah sind völlig am Ende": Mohammed Rajab.
© Fotocredit: Markus Schauta

Kriegsprofiteure

Genaue Zahlen gibt es keine, man kann aber davon ausgehen, dass Hala Tourism and Consulting auf Kosten der Menschen in Gaza fette Gewinne erzielt. Recherchen von Sky News legen nahe, dass die Firma aus den für Grenzübertritte bezahlten Gebühren täglich bis zu einer Million US-Dollar einnehmen könnte. Für die Argani-Gruppe ist der Krieg ein riesiges Geschäft. Für die Palästinenser:innen eine Katastrophe.

Bis vor dem Krieg lebte Rajab mit seiner Familie in einem Haus in Gaza-Stadt. Als die Bodenoffensive begann, flohen sie nach Rafah. Nachbarn, die noch in Gaza sind, haben Rajab Fotos von seinem Haus geschickt. „Sie sagen, ich sei ein glücklicher Mann, weil es immer noch steht“, sagt er. Es sei nur etwas beschädigt, weil im Nachbarhaus eine Bombe einschlug und Teile der Wände auf die Fassade seines Hauses stürzten: „Die meisten anderen Häuser im Viertel sind völlig zerstört.“

Hohe Preise, kaum Bargeld

In Rafah sei alles extrem teuer und vieles nur am Schwarzmarkt erhältlich. Ein Paket Zucker kostete vor dem Krieg etwa einen Euro, jetzt mehr als 20 Euro. Der Preis für ein Kilogramm Tomaten stieg von 70 Cent auf fünf Euro. Eine einzelne Zigarette kostet umgerechnet neun Euro.

Selbst wenn man bereit ist, diese Preise zu bezahlen, ist es schwierig, überhaupt an Bargeld zu kommen. Es gebe in Rafah nur einen Geldautomaten, der in Betrieb ist. „Die Menschen stehen stundenlang in der Warteschlange, um Geld abzuheben“, so Rajab. Wenn der Bankomat leer ist, muss neues Geld von Ramallah über Ägypten nach Rafah gebracht werden.

Wo Nachfrage herrscht, finden sich Anbieter. Leute im Besitz von Bargeld zahlen dieses aus, wenn dafür mit einer App eine entsprechende Summe auf ihr Bankkonto überwiesen wird. Dann drücken sie dem Interessenten die Scheine in die Hand. „Natürlich kassieren diese Anbieter zwischen zwölf und 15 Prozent Gebühren“, sagt Rajab.

Hilfsgüter kommen nicht an

„Die Menschen in Rafah sind völlig am Ende“ so Rajab. Zwar gebe es UN-Hilfslieferungen, aber die Lkw werden immer wieder geplündert. Die Hilfsgüter kommen daher oft nicht bei den Menschen an, oder sie müssen diese für Unsummen am Schwarzmarkt kaufen. „Das trifft vor allem Frauen, die keine Männer an ihrer Seite haben und sich beim Kampf um die Lebensmittel nicht durchsetzen können“, sagt Rajab.

Am Beginn des Krieges sei das anders gewesen. Sicherheitskräfte der Hamas brachten die Trucks vom Grenzübergang nach Süden, bewachten die Güter in Lagerhäusern und sorgten für eine geordnete Verteilung. Aber nachdem die israelische Armee die Fahrzeuge dieser Sicherheitskräfte beschoss, endeten die Eskorten, so Rajab: „Jetzt kämpfen die Menschen um die Hilfslieferungen und töten einander gegenseitig für einen Kanister Wasser.“

Jeden Tag bangt der Familienvater um das Leben seiner Angehörigen. „Es gibt keinen Ort im Gazastreifen, an dem du sicher bist“, sagt er. Selbst internationale NGOs werden beschossen, wie der Tod von sieben Mitarbeiter:innen von World Central Kitchen zeigt – eine NGO, die Mahlzeiten an Menschen in Krisen- und Kriegsgebieten verteilt. „Sie haben ihre Routen und Fahrtzeiten stets mit der israelischen Armee koordiniert“, sagt Rajab, „trotzdem wurden ihre Fahrzeuge beschossen.“ Die Menschen seien verzweifelt. Alles, was zählt, ist Wasser und Nahrung und die Sorge um die Sicherheit, so Rajab: „Wir leben hier wie die Tiere.“

Wie in einer Wüste

Nachdem Rajab sein Spendenziel auf GoFundMe erreichte, zahlte er das Geld einem Verwandten aus, der es zum Hauptsitz der Agentur in Kairo brachte – in bar, wie es die Agentur vorschreibt. Insgesamt musste Rajab 75.000 US-Dollar bezahlen, um die Ausreise seiner Familie aus Gaza zu finanzieren. Diese Summe inkludiert nicht die Visa-Gebühren und die Kosten für die Pässe, die er für seine Kinder ausstellen lassen musste. Jetzt heißt es für Rajab und seine Familie warten, bis ihre Namen auf der Liste stehen. „Das kann zwei Wochen oder auch zwei Monate dauern“, sagt er.

Die Entscheidung, zu gehen, war nicht einfach. „Aber was bleibt uns noch in Gaza?“, sagt er: „Es gibt keine Schulen, kein Wasser, keinen Strom – nichts. Es ist wie in einer Wüste, nicht einmal mehr Straßen für die Autos gibt es.“

Laut UN-Angaben ist jedes dritte Gebäude in Gaza beschädigt oder zerstört. Mit jedem Kriegstag schreitet die Verwüstung weiter voran. UN-Schätzungen zufolge wird es selbst unter den günstigsten Bedingungen mehr als ein Jahrzehnt dauern, bis Gaza wieder da ist, wo es vor der Militäroperation war.

Auch die Zukunft außerhalb Gazas ist unsicher. Ob Rajab mit seiner Familie in Ägypten bleiben wird, oder ob sie nach Kanada oder Europa auswandern können, ist ungewiss. Irgendwo schlägt eine Rakete ein und legt ein weiteres Gebäude in Schutt und Asche: „So sieht unser Leben in Gaza aus.“


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Infos und Quellen

Genese

Der Autor lernte Mohammed Rajab 2019 bei seinen Recherchen in Gaza kennen, wo er ihn als Fahrer und Übersetzer bezahlte. Die beiden waren u.a. beim Rafah-Grenzübergang, wo sie mit Palästinenser:innen sprachen, die seit Wochen auf ihre Einreise nach Ägypten warteten. Das Interview mit Rajab für den vorliegenden Artikel führte der Journalist von Wien aus über WhatsApp.

Daten und Fakten

  • Der Gazastreifen ist mit 365 Quadratkilometern kleiner als die Stadt Wien. Nach einem halben Jahr Krieg ist das Gebiet weitgehend verwüstet. UN-Angaben zufolge befindet sich ein Großteil der 2,2 Millionen Einwohner Gazas auf der Flucht.

  • Das von der Hamas geleitete Gesundheitsministerium gibt an, dass seit Ausbruch des Kriegs 33.000 Menschen starben. Zieht man davon die von Israel genannte Zahl toter Hamas-Kämpfer ab, sind mindestens zwei Drittel der Toten Zivilist:innen. Darunter Sanitäter:innen, Journalist:innen und Mitarbeiter:innen von Hilfsorganisationen.

  • Derzeit befinden sich rund 1,2 Millionen Flüchtlinge in der Stadt Rafah an der Grenze zu Ägypten. Aus Angst, dass die vom israelischen Premier Benjamin Netanjahu angekündigte Bodenoffensive in Rafah die Menschen über die Grenze nach Ägypten treiben könnte, ließ Kairo die Grenzbefestigungen verstärken.

Quellen

Das Thema in der WZ