Mitte September wurde im EU-Parlament feministische Geschichte geschrieben. Aber wie immer, wenn im EU-Parlament etwas frauenpolitisch Historisches passiert, bekommt man in deutschsprachigen Medien kaum etwas davon mit.
Ich spreche nicht von der „State of the Union“ der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die letzte vor der nächsten EU-Parlamentswahl 2024. Aus feministischer Sicht war diese nämlich nicht allzu gehaltvoll, denn abgesehen von einem abstrakten Bekenntnis zu „gender equality“ und einem Hinweis auf „no means no“ gab die Rede in Sachen Frauenpolitik nichts her; trotz der Tatsache, dass Frauen innerhalb der EU in der Mehrheit sind – in ihr leben fünf Prozent mehr Frauen als Männer. Krisenzeiten sind nie gute Zeiten für Frauenrechte. Dass in solchen Zeiten des Backlashes auch der Kommissionspräsidentin nichts Relevantes zum Thema Frauenrechte einfällt, ist wohl auch kein Zufall. Der letzte Satz der Rede „There can be no true equality without freedom from violence“ verwies allerdings auf eine Debatte, die spätabends am selben Tag stattfand.
- Mehr für dich: J. D. Vance - Trumps bemerkenswerter Deputy
Es ging um einen Bericht des „Ausschusses für die Rechte der Frauen und der Gleichstellung der Geschlechter“ zum Thema Prostitution. Bemerkenswert vor allem vor dem Hintergrund des neoliberalen Diskurses zu dem Thema in deutschsprachigen Ländern, ist die klare feministische Positionierung. Auf 34 Seiten wird dargelegt, dass Prostitution als eine Form der Gewalt gegen Frauen einzuordnen ist. Gefordert wird die vollständige Entkriminalisierung aller Menschen (meist Frauen und Mädchen) in der Prostitution, bei gleichzeitiger Bestrafung jener, die von ihrer Ausbeutung profitieren: Freier und Zuhälter.
Das sogenannte „nordische Modell"
Die EU forderte also unmissverständlich die Einführung des sogenannten „nordischen Modells“ – eine Bezeichnung, die nicht mehr ganz zeitgemäß ist, denn obwohl die „nordischen“ Länder Schweden und Norwegen, die bekannt dafür sind, anderen europäischen Ländern in feministischen Fragen oft meilenweit voraus zu sein, die ersten waren, die das Modell der Freierbestrafung umsetzten (in Schweden droht diesen sogar eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr), sind in der Zwischenzeit eine Reihe anderer Länder dem Beispiel gefolgt: Israel, Nordirland, Kanada, Frankreich, Island. Und wenn es nach dem EU-Parlament geht, sollen nun alle EU-Länder folgen, denn dem Bericht wurde mehrheitlich zugestimmt.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Abgeordneten des EU-Parlaments von den Mitgliedsstaaten die Einführung „nordischen Modells“ fordern. Bereits 2014 wurde eine nicht bindende Resolution dazu verabschiedet. Auch die diesjährige Abstimmung führt zu keinen verbindlichen Regelungen. Doch die Debatte im Europäischen Parlament ist Ausdruck und Treiber eines Kultur- und Diskurswandels. Sie hat deutschsprachigen Ländern vor Augen geführt, dass sie, wie so oft in feministischen Fragen, auch in dieser weit, weit hintennach sind. Denn die Verkapitalisierung von Frauenkörpern, die sexuelle Ausbeutung von und systematische Gewalt gegen meist migrantische, arme, vortraumatisierte Frauen und Mädchen wird hierzulande aus einer zutiefst privilegierten und neoliberalen Perspektive absurderweise nicht selten gar als „Empowerment" verkauft, während die strukturelle Gewalt und Ausbeutung, mit der Prostitution in aller Regel einhergeht, gerne ausgeblendet wird. (Die Frage, warum es dann nicht reiche weiße Männer sind, die sich prostituieren, sondern Frauen und Mädchen, denen Armut und Elend keine andere Wahl lässt, bleibt natürlich immer unbeantwortet.)
„Prostitution ist Gewalt"
Ganz anders klingen die Wortmeldungen vieler Abgeordneter im EU-Parlament. Sie sind in ihrer Deutlichkeit schwer zu überbieten. So las Alice Kuhnke von den schwedischen Grünen in einem „I stand with survivors“-T-Shirt Wortmeldungen von Überlebenden vor: „Prostitution ist Gewalt. Vergewaltigt-Werden ist kein Job“, sind nur zwei Sätze ihrer Rede. Heléne Fritzon von den Sozialdemokraten bezeichnete Prostitution als „gekaufte Vergewaltigung“, Sandra Pereira von den Linken als „eine Form der Sklaverei“, Lina Galvez-Munoz von der sozialdemokratischen Fraktion als „Ausbeutung aufgrund einer Machtsymmetrie“; sie wies den Begriff „Sexarbeiterinnen“ entschieden zurück und forderte: „Es muss Schluss sein mit der Vermarktung des Körpers von Frauen.“
Die Berichterstatterin Maria Noichl (ebenfalls Sozialdemokratin) betonte in ihrer Rede: „Prostitution ist rassistisch, Prostitution ist sexistisch […] und vor allen Dingen gewaltvoll. […] Prostitution ist keine Arbeit und Prostitution ist auch keine Sexualität […] Dem Mythos, Prostitution sei Ausdruck von Freiheit und Selbstbestimmung, folge ich nicht. Die überwiegende Mehrheit an Frauen und Mädchen in der Prostitution sind dort weder selbstbestimmt noch freiwillig, sondern in der Ausbeutung gefangen.“ Sie erinnerte an die Situation geflüchteter Ukrainerinnen, die zu Beginn des Krieges an der deutschen und österreichischen Grenze von Zuhältern aufgegriffen wurden: „Wir müssen den Kreislauf durchbrechen, dass man aus Armut und Not in die Prostitution kommt und dass man, wenn man in der Prostitution ist, nie mehr herauskommt aus der Armut und der Not.“ Alle Reden können im Media Center des Europaparlaments nachgesehen werden.
Und die österreichischen Abgeordneten? Von denen stimmte nur Evelyn Regner (Sozialdemokratin und Vizepräsidentin des EU-Parlaments) für den Bericht. Sie befindet sich damit auf einer Linie mit dem überwiegenden Teil der sozialdemokratischen Abgeordneten aus anderen EU-Ländern. Die meisten sozialdemokratischen Abgeordneten aus Österreich stimmten allerdings gar nicht ab, oder enthielten sich. Letzteres taten auch alle Abgeordneten der ÖVP. Die österreichischen Grünen sind hingegen in Sachen Prostitution frauenpolitisch einer Meinung mit der FPÖ: Sowohl alle Abgeordneten der Blauen (Haider, Mayer, Vilimsky) als auch zwei Drittel der grünen Abgeordneten (Vana und Waitz, Wiener enthielt sich) stimmten gegen den Bericht. Die deutschen Grünen stimmten geschlossen dagegen. Die Einigkeit mit den Ultrarechten scheint sie nicht zu stören. Die rechtspopulistische/ultrarechte I&D-Fraktion war nämlich die einzige, die länderübergreifend einstimmig gegen den Bericht und damit gegen eine Einführung des nordischen Modells stimmte.
Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.
Infos und Quellen
Genese
Beatrice Frasl war schon Feministin, bevor sie wusste, was eine Feministin ist. Das wiederum tut sie, seit sie 14 ist. Seitdem beschäftigt sie sich intensiv mit feministischer Theorie und Praxis – zuerst aktivistisch, dann wissenschaftlich, dann journalistisch. Mit ihrem preisgekrönten Podcast „Große Töchter“ wurde sie in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten feministischen Stimmen des Landes.
Im Herbst 2022 erschien ihr erstes Buch mit dem Titel „Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche“ im Haymon Verlag. Als @fraufrasl ist sie auf Social Media unterwegs. Ihre Schwerpunktthemen sind Feminismus und Frauenpolitik auf der einen und psychische Gesundheit auf der anderen Seite. Seit 1. Juli 2023 schreibt sie als freie Autorin alle zwei Wochen eine Kolumne für die WZ.