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Wohnraum gibt es genug – er ist nur falsch verteilt

7 Min
Sinnvoller als noch mehr Neubauten wäre eine bessere Verteilung des bestehenden Wohnraums.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Viele alte Menschen sitzen allein in zu großen Wohnungen oder Einfamilienhäusern. Junge Familien finden keinen leistbaren Wohnraum. Es gäbe für beides Lösungen.


Für die Familie wird es seit der Geburt des dritten Kindes eng auf 70 Quadratmetern. Nein, sie sind nicht missgünstig, aber ein bisschen neidisch blicken sie schon auf die 120 Quadratmeter große Nachbarwohnung, in der ein Witwer allein wohnt. Die riesige Altbauwohnung ist ihm eigentlich zu groß: zu viele Zimmer, die er nicht nutzt; zu viel Fläche, die er sauber halten muss. Umziehen will er trotzdem nicht. Einen so niedrigen Mietzins wie hier bekäme er nicht mehr. Außerdem ist er in der Wohnung aufgewachsen.

Diese Situation ist prototypisch. In Österreich beanspruchen neun Prozent der Bevölkerung 24 Prozent des Wohnraums. Sie haben mehr als 80 Quadratmeter pro Kopf zur Verfügung. Das hat der Wirtschaftsökonom Richard Bärenthaler von der School of Earth and Environment ausgerechnet. Mehr als vier Fünftel davon leben allein, 77 Prozent sind älter als 50 Jahre und 46 Prozent älter als 65 Jahre. „Sie werden im hohen Alter nicht nur einsam sein, sondern sich auch noch um einen überdimensionierten Wohnraum kümmern müssen, der ihren Anforderungen eigentlich nicht entspricht“, sagt Bärenthaler. Sie sitzen in großen Stadtwohnungen und riesigen Einfamilienhäusern. „Das ist auch für die Betroffenen eine Belastung“, sagt dazu der WU-Professor Andreas Novy. Wir haben also in Österreich nicht zu wenig Wohnraum – er ist nur falsch verteilt.

Soziale und ökologische Probleme

Neben der individuellen Vereinsamung – insbesondere in abgelegenen Einfamilienhäusern auf dem Land, wo die Alten übrigbleiben, wenn die Kinder, für die sie einst gebaut wurden, wegziehen – sieht Bärnthaler auch kollektive soziale Probleme: Lebendige Ortskerne, ein gemeinschaftliches Leben im Dorf, eine funktionierende Nahversorgung – all das werde „durch unsere gegenwärtige Lebensweise verunmöglicht“. Und nicht nur er warnt zudem vor negativen ökologischen Konsequenzen. „Wohnpolitik als Wohnbaupolitik zu sehen, ist problematisch, wenn man sich den Ressourcenverbrauch bei Abriss und Neubau ansieht“, stellt Novy fest.

„Wir müssen uns nicht nur fragen, wie wir bauen, sondern auch wofür. Ob das, was wir bauen, überhaupt sinnvoll ist“, fordert Bärnthaler. Das Passiveinfamilienhaus im Grünen ist zwar in sich klimaschonend, aber trägt trotzdem zur Zersiedelung bei und läuft damit dem Klimaschutz zuwider. „Wenn man sich die Argumentation der vergangenen Wochen zum Wohnbaupaket der Regierung ansieht, dann bauen wir, um zu bauen, um Jobs zu schaffen und um die Wirtschaft anzukurbeln – aber nicht in erster Linie, um Wohnraum zu schaffen“, kritisiert Bärnthaler.

Österreich ist bereits gebaut, wir müssen hier nichts mehr nachholen.
Willi Haas, Boku Wien

Willi Haas von der Boku Wien fordert überhaupt einen Neubaustopp, wenigstens auf unbebauten Flächen. Denn: „Österreich ist bereits gebaut, wir müssen hier nichts mehr nachholen.“ Schon jetzt beträgt die beheizte Fläche in Österreich (Wohn- und gewerbliche Immobilien) 72 Quadratmeter pro Kopf. Besser als immer noch mehr Gebäudefläche alternativ zu beheizen und mit Strom zu versorgen, wäre es, weniger Fläche zu haben. „So zu agieren, dass sich möglichst für niemanden etwas ändert, bedeutet auf lange Sicht, dass sich für sehr viele sehr viel ändern wird“, warnt der Boku-Professor. Es sei auch ein Irrglaube, dass Neubau automatisch die Mieten senke, so Bärnthaler. In den vergangenen fünf Jahren wurden in Österreich 317.000 neue Wohnungen gebaut – wobei der Bedarf bei 235.000 lag –, rechnet er vor. „Die Wohnungspreise und Mieten bei Neuverträgen sind aber trotzdem gestiegen.“ Viele neu entstandene Wohnungen sind nämlich sogenannte Vorsorgewohnungen, die als reine Finanzanlage dienen. Sie treiben die Immobilienpreise in die Höhe, was den gemeinnützigen Wohnbau verteuert und erschwert. Dies lässt auch die Mieten in regulierten Segmenten ansteigen, da der Lagezuschlag an den Bodenpreis gekoppelt ist.

Leerstand würde für 46.000 Personen reichen

Laut den jüngsten verfügbaren Zahlen der Statistik Austria standen im Herbst 2021 ungefähr 56.000 Wohnungen (etwa 13 Prozent des Gesamtbestandes) in Österreich ohne Haupt- oder Nebenwohnsitz leer. Sie dienten wohl entweder als Anlageobjekte oder auch als Ferienwohnungen für die Eigentümer:innen oder Airbnb. „All das nicht selten in Regionen, in denen ohnehin schon Wohnungsnot herrscht“, sagt Bärnthaler. Laut Greenpeace könnte der Leerstand, der nicht als Urlaubsdomizil dient, Wohnraum für 46.000 Personen bieten. „Dieser Leerstand ist weder ökologisch noch sozial zu rechtfertigen.“

Statt immer neu zu bauen, solle man sich lieber fragen, wie der Bestand besser genutzt werden könnte, fordert Bärnthaler mit Blick auf eine deutsche Studie, die gezeigt habe, dass der Bedarf an neuem Wohnraum durch eine Nachverdichtung oder Aufstockung im Bestand um bis zu 83 Prozent gesenkt werden könne. „Wir brauchen ganz dringend eine neue Hierarchie in der Wohnraumbereitstellung: erst das Nutzen und (Auf)Teilen des Bestehenden, dann das Weiterbauen des Bestands im Sinn von Nachverdichtung und erst ganz am Ende Neubau.“

Das Potenzial von Einfamilienhäusern ist noch gnadenlos unerforscht.
Raumplanerin Gaby Krasemann

Das Thema Nachverdichtung bei Bestandsobjekten sei in der Politik aber noch gar nicht angekommen, moniert die Raumplanerin Gaby Krasemann, „weder im Einfamilienhausbereich noch bei den Mehrparteienhäusern, aber auch nicht bei Gewerbeimmobilien.“ Insbesondere das Potenzial von Einfamilienhäusern, in denen rund ein Drittel der österreichischen Bevölkerung wohnt, sei „noch gnadenlos unerforscht“. Dabei gäbe es hier durchaus kreative Modelle. „Aber die muss man halt den Leuten auch aktiv anbieten. Und das ist komplizierter und aufwendiger und somit anstrengender, als einfach Bauland für ein weiteres Einfamilienhaus zu widmen.“ Auch bei der oft dringend notwendigen Sanierung von in die Jahre gekommenen Gebäuden dürfe man Hausbesitzer:innen nicht allein lassen. Denn nicht nur Senior:innen sind damit oft überfordert.

„Den bestehenden Wohnraum besser nutzen“

Auch der Klimaforscher Novy ist überzeugt, dass aktuell schon genug Wohnraum vorhanden ist, sodass man eigentlich keinen neuen bräuchte. „Es wird viel zu wenig geschaut, wie man den bestehenden Wohnraum besser nutzen und anders verteilen kann. Und es wäre eine gemeinsame Aufgabe, zu schauen, wie man mit weniger Wohnraum auskommt.“ Das würde zum Beispiel gerade in Hinblick auf die ärmeren Bevölkerungsgruppen bedeuten, dass genügend hochwertiger Gemeinschaftsraum zur Verfügung stehen müsste.

Die Wiener Gemeindebauten waren hier schon vor hundert Jahren richtungweisend. Doch statt Gemeindebauten wurden in den vergangenen Jahrzehnten Genossenschaftswohnungen von gemeinnützigen Bauträgern errichtet. Und diese Verschiebung hat neue Hürden mit sich gebracht, kritisiert Novy. Denn um dort eine Wohnung zu bekommen, muss man sich erst einmal den Genossenschaftsbeitrag leisten können. „Das ist schon eine Barriere.“ Wenn schon Neubauten, dann sollten es wieder echte Gemeindebauten sein, die auch den untersten Einkommensschichten offenstehen, findet Novy.

Rechtsanspruch auf Wohnungstausch

Dabei könnte es so einfach sein. Das Mietrechtsgesetz sieht nämlich einen Rechtsanspruch auf einen Wohnungstausch vor – und zwar zwischen allen Mieter:innen, unabhängig davon, ob sie in einer Gemeindewohnung, einer geförderten Wohnung oder einer privat vermieteten Wohnung leben, sofern das Mietverhältnis seit mindestens fünf Jahren aufrecht ist und triftige soziale, gesundheitliche oder berufliche Gründe vorliegen. Bei Zustimmung durch die jeweilige Hausverwaltung erfolgt ein wechselseitiger Eintritt in den bestehenden Mietvertrag. Soweit die Theorie. In der Praxis verzeichnet beispielswiese Wiener Wohnen (220.000 Gemeindewohnungen in rund 1.800 Wohnanlagen) pro Jahr etwa 50 Fälle. Tauschwillige können im „Wohnungsanzeiger“ von Wiener Wohnen (gedruckt und online) eine kostenlose Anzeige schalten lassen. Daneben gibt es die „Aktion 65 Plus“, die Senior:innen beim Umzug in eine kleinere Wohnung hilft.

Auch am anderen Ende von Österreich gibt es Versuche, Leerstand zu reduzieren und Wohnungsuchenden zu helfen. In Vorarlberg wurde ein Modell ausgearbeitet, mit dem die Besitzer:innen leerstehender Wohnungen dabei unterstützt werden, diese ohne Risiken und Aufwand zu vermieten. Und beim „Wohnen für Hilfe“-Konzept in Graz bieten ältere Menschen Studierenden Wohnraum, die sie im Gegenzug im Alltag unterstützen (etwa Einkäufe und Behördenwege erledigen, im Haushalt mithelfen).

Flexible Schalträume

Das Grundübel, meint Novy, bestehe darin, dass Bauträger oft nicht darüber nachdenken würden, „für welche Nutzung genau gebaut wird“. Nur in Einzelfällen werden zum Beispiel flexibel gestaltbare Wohneinheiten mit sogenannten Schalträumen errichtet. Diese können je nach Bedarf mit sehr geringem Umbauaufwand einmal der einen Wohnung und später der anderen zugeschlagen werden. Aus dem Arbeitszimmer hier wird dann zum Beispiel ein Kinderzimmer dort. Raumplanerin Krasemann fasst es schön zusammen: „Wir müssen beim Wohnraum wegkommen von Fast-Fashion: Jede Kommune braucht einen Maßschneider zur Bewältigung der Bauwende.“


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Infos und Quellen

Gesprächspartner:innen

  • Andrea Janousek, Sprecherin von Wiener Wohnen

  • Gaby Krasemann, Diplomingenieurin für Raumplanung und Raumordnung (Entwicklung, Planung, Beratung)

  • Andreas Novy , Sozioökonom, Leiter des Institute for Multi-Level Governance and Development (MLGD) und außerordentlicher Universitätsprofessor am Department Sozioökonomie der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien, Präsident der Internationalen Karl Polanyi Society (IKPS) und Mitglied des Foundational Economy Collective.

Daten und Fakten

Willi Haas von der Boku Wien lieferte im „Diskurs“-Gespräch zum Ressourcenverbrauch konkrete Zahlen zum ökologischen Aspekt des Wohnbaus: Demnach beträgt der jährliche Materialverbrauch für die Errichtung, Sanierung und Instandhaltung von Gebäuden in Österreich derzeit fast 40 Millionen Tonnen. „Wenn wir weitermachen wie bisher, werden es im Jahr 2040 rund 45 Millionen Tonnen sein“, rechnet Haas vor. „Mit einem Neubaustopp auf unverbautem Land hingegen könnten wir das auf fünf Millionen Tonnen reduzieren.“

Unter „weiter wie bisher“ subsummierte er auch die Dekarbonisierung, die zwar an sich gut fürs Klima wäre, aber andererseits mit einem weiteren enormen Ressourcenverbrauch einhergeht, zum Beispiel bei Seltenen Erden für Photovoltaikmodule oder Windräder. Haas sprach von einer Verzehnfachung des Bedarfs und auch von geopolitischen Abhängigkeiten in diesem Bereich.

Insgesamt liegt der Materialverbrauch in Österreich bei 18 Tonnen pro Kopf und Jahr, im EU-Durchschnitt sind es lediglich 14 Tonnen. Während bei den nicht-metallischen Mineralien (das ist vor allem Baumaterial) Frankreich, Deutschland oder die Schweiz etwa sechs bis sieben Tonnen pro Kopf verbrauchen, sind es in Österreich zehn Tonnen. „Das Argument, wenn wir nicht mehr bauen, geht es uns schlecht, lässt sich also leicht entkräften“, argumentiert Haas. „Andere Länder können mit weniger Baumetarial sehr gute Lebensqualität bereitstellen.“ In Österreich ist der „Earth Overshoot Day“, an dem die Ressourcen eines Jahres bereits verbraucht sind, inzwischen auf den 7. April vorgerückt.

In Wien machen Gemeindebauten und Genossenschaftsbauten jeweils etwa 25 Prozent der Wohnimmobilien aus, erklärt WU-Professor Andreas Novy. Dazu kommen gut 20 Prozent Eigentum, „der Rest ist Miete“, seien es Zinshäuser oder Vorsorgewohnungen. Im Neubau ist das Verhältnis zwischen Gemeinnützigen und Privaten in etwa 50:50. In ganz Österreich haben die gemeinnützigen Bauvereinigungen im Jahr 2023 insgesamt 14.900 neue Wohnungen errichtet – um ein Zehntel weniger als im Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre (16.500 Wohnungen). Für das Jahr 2014 wird ein weiterer Rückgang auf 14.100 fertiggestellte Wohnungen erwartet, 2025 sollen es dann überhaupt nur noch 10.000 bis 11.000 sein.

Quellen

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