Zum Hauptinhalt springen

„Die Leute spucken dich an, beleidigen dich, treten dich“

7 Min
„Die Möglichkeit, das Leben zu verlieren, ist Alltag.“
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Über 20.000 Menschen sind in Österreich obdachlos. In ihren Leben ist Gewalt Alltag – und nimmt laut Expert:innen zu.


    • Gewalt gegen obdachlose Menschen nimmt laut Expert:innen zu, auch die Hate-Crime-Berichte des Innenministeriums deuten darauf hin.
    • Viele Straftaten gegen Obdachlose werden nicht angezeigt, die Dunkelziffer ist hoch, Misstrauen gegenüber Behörden ist weit verbreitet.
    • Strukturelle und gesellschaftliche Vorurteile, politische Instrumentalisierung und Stigmatisierung verschärfen die Situation obdachloser Menschen.
    • 2024 dokumentierte die Polizei 30 Hassverbrechen gegen Obdachlose in Österreich, 2020 waren es noch 18.
    • Im Sommer kam es zu einer Mordserie an obdachlosen Menschen in Wien.
    • Laut Statistik Austria waren 2023 über 20.000 Menschen offiziell als obdach- oder wohnungslos registriert.
    Mehr dazu in den Infos & Quellen

Jürgen M. sitzt auf einem Drehstuhl, ruhiger Blick, gefaltete Hände. Durch die geöffnete Türe hinter ihm dringen dumpfe Gesprächsfetzen, Personen huschen ins Büro, holen Schlafsäcke oder Isomatten aus den Regalen, immer wieder klingelt das Telefon. Im Sozialverein B37 in Linz herrscht reger Betrieb. Jürgen M. bringt das nicht aus der Ruhe. Viele, die heute hier sind, kennt er bereits. Ein paar hat er in der Zeit kennengelernt, als er selbst noch obdachlos war, ein paar danach.

Einmal, erzählt Jürgen M., hat er am Hafen in Linz übernachtet, allein. Als er am Morgen die Augen aufschlug, lag er unter einer zentimeterdicken Schneedecke. „Das hätte nicht jeder überlebt. Ich war komplett eingeschneit.“ Ein anderes Mal zog ihm jemand von hinten eine Dopplerflasche über den Kopf. „Ich lag ein halbes Jahr lang im Koma, wusste danach nicht mehr, wie ich heiße, konnte nicht mehr gehen, nicht mehr reden.“ Gewalt, so Jürgen M., sei man als Obdachloser gewohnt. „Die Leute spucken dich an. Sie beleidigen dich. Sie treten dich.“

In den letzten Jahren habe das zugenommen, so Jürgen M. Sozialarbeiter:innen geben ihm Recht. Und auch der Hate-Crime-Lagebericht des Innenministeriums deutet darauf hin.

Tritte, Schläge, Morde

Es ist der Morgen vom 12. Juli 2023. Hitzewarnung. Am Donauufer in der Nähe der Floridsdorfer Brücke findet eine Spaziergängerin die Leiche eines 56-jährigen obdachlosen Ungarn. Er hat Stichwunden im Bauchbereich und an den Oberarmen. Zehn Tage später wird eine 51-jährigen Slowakin in der Venediger Au attackiert. Das Muster ist ähnlich: Der Angriff erfolgt in der Nacht, wieder mit Messer. Sie schafft es zu fliehen und überlebt. Am 09. August 2023 wird ein niedergestochener, obdachloser Mann schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert, dort erliegt er seinen Verletzungen. Er ist das letzte Opfer in der Mordserie eines österreichischen Jugendlichen. Im Dezember 2023 stellt sich jener der Polizei. Er wird zu zwölf Jahren Haft verurteilt.

Susanne Peter, leitende Sozialarbeiterin bei der Caritas in Wien, war damals im Einsatz: „Wir haben Taschenalarme verteilt, unser Streetwork intensiviert und die Klient:innen dafür sensibilisiert, Einrichtungen aufzusuchen und möglichst nicht allein im öffentlichen Raum zu schlafen. Zudem hat die Stadt Wien Schutzräume aufgestockt. Wir haben versucht, so gut es geht zu helfen – aber wir haben uns auch machtlos gefühlt.“

In den letzten Jahren gehen immer wieder Straftaten an Obdachlosen durch die Medien. Erst Mitte September zündet ein Mann den Schal eines Obdachlosen an, jener schläft dahinter. Im Juli schlägt ein Mann mit einem Besenstiel auf einen Obdachlosen ein. Anfang April weist ein Linzer Spital eine vergewaltigte, obdachlose Frau ab.

„Ich habe durchaus das Gefühl, mein Team übrigens auch, dass die Gewaltbereitschaft gegenüber obdachlosen Menschen zunimmt“, sagt Peter, „Menschen, die ein fixes Zuhause haben, können sich schützen, indem sie die Türe zu ihren Wohnungen zusperren. Obdachlose Menschen haben nicht mehr als ihren Schal oder Schlafsack.“

Hohe Dunkelziffer

In Deutschland erfasste die Polizei 2023 über 2100 versuchte und vollendete Straftaten gegen Obdachlose. Tendenz steigend. Im Jahr 2021 waren es noch 647. In Österreich wertet das Bundeskriminalamt keine vergleichbaren Daten aus. Im Hate-Crime-Lagebericht des Innenministeriums findet man allerdings Hinweise, dass auch hierzulande die Hasskriminalität gegen Obdachlose zumindest präsenter wird. Wurden 2020 noch 18 Fälle dokumentiert, waren es 2024 schon 30, im Jahr 2023 sogar 41. Die Dunkelziffer dürfte allerdings weitaus höher liegen. Alle Expert:innen, mit denen die WZ im Laufe der Recherchen zu diesem Artikel gesprochen hat, gehen davon aus, dass es bei einem Großteil gar nie zur Anzeige kommt. Das Misstrauen gegenüber Behörden sei groß, viele würden befürchten, nicht ernst genommen zu werden. Der generelle Tenor: „Bei obdachlosen Menschen muss immer erst etwas Schlimmes passieren, dass man über sie spricht.“

Um sich zu ein wenig sicherer zu fühlen, würden viele obdachlose Menschen mit Schuhen und offenen Schlafsäcken schlafen, um bei drohender Gefahr schnell weglaufen zu können. Das beobachtet auch Isolde Waltenberger, Sozialarbeiterin des Linzer Sozialvereins B37: „Andere Schutzmechanismen sind beispielsweise das Übernachten in Gruppen und an Orten, an denen es Licht gibt, die frequentierter sind, eventuell sogar eine Kameraüberwachung haben.“ Besonders obdachlose Frauen müssten sich auf diese Dinge verlassen. Waltenberger sagt: „Das ist ein Konfliktpunkt im öffentlichen Raum: Unerwünschtes Aufhalten von obdachlosen Personen versus deren Sicherheit. Das muss man sich bewusst machen, wenn man sie vertreibt. Man nimmt ihnen das letzte bisschen Schutz.“

Obdachlose Menschen setzen mehr oder weniger jeden Tag ihr Leben aufs Spiel.
Alena Mach, Sozialarbeiterin

Die Strukturen dahinter

„Obdachlose Menschen setzen mehr oder weniger jeden Tag ihre Gesundheit, ihr Leben aufs Spiel. Die Möglichkeit, das Leben zu verlieren, ist Alltag“, sagt Alena Mach, Leiterin der Obdachloseneinrichtungen der Volkshilfe Wien. Im Tageszentrum und Notquartier „Nordlicht“ in Wien-Donaustadt wird zum Zeitpunkt des Interviews gerade gekocht. Es gibt Paprikahendl.

Machs Klient:innen berichten ihr und ihrem Team immer wieder von Gewalterfahrungen. Man hört von Menschen, die Obdachlosen schamlos die Kamera ins Gesicht halten, um sie zu filmen, von einem 70-jährigen Herren, der erzählt, verprügelt und ausgeraubt worden zu sein. Ihr ist wichtig, die Struktur dahinter zu erkennen: „Wenn wir über verbale und physische Gewalt an obdachlosen Menschen reden, dann müssen wir auch über strukturelle Gewalt reden. Es gibt eine ausgeprägte negative Grundeinstellung der wohnenden Bevölkerung gegenüber Menschen in der Obdachlosigkeit. Auch von Personen, die Verantwortung tragen, seien es Blaulichtorganisationen, Krankenhäuser oder Politiker:innen.“

Obdachlose Menschen seien oft mehrfach stigmatisiert. „Sucht-, psychische und physische Erkrankungen können das Zusammenleben mit der Mehrheitsgesellschaft schwierig machen“, sagt Mach. „Ob die Obdachlosigkeit der Auslöser für die Gewalt ist oder andere Faktoren, kann man nicht immer genau sagen. Wir können davon ausgehen, dass es Hand in Hand geht.“

Feindbild Obdachlose

Was auf individueller Ebene als Vorurteil sichtbar wird, zeigt sich auf politischer Ebene deutlich drastischerer. Ein Blick nach Ungarn reicht, um zu erkennen: Mit Obdachlosenfeindlichkeit wird mittlerweile recht gut Politik gemacht. Ministerpräsident Viktor Orbán hat dort in den letzten Jahren einen repressiven Kurs in sozialpolitischen Fragen eingeschlagen. Seit 2018 ist Obdachlosigkeit gesetzlich verboten. Mach sagt: „Man darf nicht auf die sozialpolitischen Entwicklungen in den Nachbarländern vergessen. Orbán und sein Hass gegen Obdachlose, der sich bereits institutionalisiert hat, findet auch bei uns Anklang.“

Bianca Kämpf, Rechtsextremismusforscherin am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) sagt: „Hinter dem Feindbild Wohnungslose steht der Sozialdarwinismus als zentrales Motiv. Das ist ein Verständnis von Gesellschaft, in dem das „Recht des Stärkeren“ gilt: Erfolg sei ausschließlich das Ergebnis von Leistung, und dementsprechend sei jede:r Einzelne für sich und sein Glück verantwortlich. Der Begriff bezieht sich auch auf Darwins Evolutionstheorie und die Logik des ‚survival of the fittest‘“.

Das wird auch in Österreich immer wieder Thema. „Historisch betrachtet war Wohnungslosenfeindlichkeit ein kontinuierlicher Bestandteil im Denken und Handeln von Rechtsextremen“, sagt Kämpf, „das hat sich in Österreich, aber auch international, seit den Migrationsbewegungen ab 2015 etwas verändert. Seitdem wird das Thema Wohnungslosigkeit häufig rassistisch instrumentalisiert, vor allem durch die Behauptung, dass ‚ausländische Asylwerber:innen‘ weitaus mehr staatliche Unterstützung als ‚heimische Obdachlose‘ erhalten würden.“

Jürgen M. aus Linz geht nach dem Gespräch mit der WZ erstmal „eine rauchen“. Ob es etwas gibt, dass beim Thema Obdachlosigkeit oft unter den Tisch fallen würde? Etwas, das zu selten vorkommt? „Ein Mensch ist ein Mensch“, sagt Jürgen M.


Unterstützung für obdach- und wohnungslose Menschen

Wenn Wohnungslosigkeit droht, kannst du dich an die jeweilige passende Anlaufstelle in deinem Bundesland wenden, um dich zu informieren und schnell Unterstützung zu erhalten:

Hier eine Liste von Organisationen, die bei Obdachlosigkeit helfen können:

  • Caritas
  • Frauenhelpline: Tel. 0800 222 555; Erreichbarkeit: rund um die Uhr und kostenlos; telefonische Beratung für Mädchen ab 14 Jahren und Frauen, die von sexueller, körperlicher oder psychischer Gewalt betroffen sind
  • Rat auf Draht: Tel. 01 147; Erreichbarkeit: rund um die Uhr und kostenlos; Telefonische, Chat und Online-Beratung für Kinder, Jugendliche und deren Bezugspersonen
  • Volkshilfe

Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen, dir ist ein Fehler aufgefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.


Infos und Quellen

Genese

Immer wieder liest man von Gewaltverbrechen an Obdachlosen. WZ-Journalistin Eva Sager hat sich gefragt, was dahintersteht.

Gesprächspartner:innen

  • Alena Mach, Leiterin der Obdachloseneinrichtungen der Volkshilfe Wien
  • Bianca Kämpf, Rechtsextremismusforscherin am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW)
  • Isolde Waltenberger, Sozialarbeiterin des Linzer Sozialvereins B37
  • Jürgen M., ehemaliger Obdachloser aus Linz
  • Susanne Peter, Teamleitung Streetwork und Kältetelefon der Caritas Wien

Stellungsnahmen

  • Bundeskriminalamt

Daten und Fakten

  • Im Jahr 2023 waren laut Statistik Austria 20.573 Menschen offiziell als obdach- oder wohnungslos registriert. 55 Prozent davon leben in Wien, 32 Prozent sind Frauen und 11 Prozent zwischen 18 und 24 Jahre alt.
  • Österreich hat sich im Jahr 2021, wie alle anderen EU-Länder, im Rahmen der Lissabon-Erklärung dazu verpflichtet, bis 2030 an der Beendigung der Wohnungslosigkeit zu arbeiten.
  • Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit entstehen meist durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Laut einer Befragung des Fonds Soziales Wien (2020) nennen Betroffene am häufigsten Arbeitslosigkeit (40%), finanzielle Schwierigkeiten durch falschen oder leichtsinnigen Umgang mit Geld (30%) sowie Trennung oder Scheidung (29%). Weitere Ursachen sind psychische Probleme (25%), gesundheitliche Einschränkungen (23%) und Konflikte im familiären oder partnerschaftlichen Umfeld (20%).
  • Obdachlose leben ohne Unterkunft im öffentlichen Raum, während Wohnungslose zwar keine eigene Wohnung haben, aber ein Obdach, indem sie beispielsweise vorübergehend bei Freund:innen oder Bekannten unterkommen.

Quellen

  • Deutscher Bundestag: Straftaten gegen Obdachlose (Erfasst werden versuchte und vollendete Straftaten bei denen mindestens ein Opfer mit dem Opferspezifikum „wegen der persönlichen Beeinträchtigung Obdachlosigkeit“ erfasst wurde)
  • Bundesministerium für Inneres: Jahresberichte „Hate Crime in Österreich“ von 2020 bis 2024, polizeilich registrierte Vorurteilsmotive – Motivkategorie: Sozialer Status/Ausprägung: Wohnungslose
  • Hate Crime-Bericht 2020 (Pilotbericht): Ausprägung „Sozialer Status“: 90, davon Wohnungslose: 18 (Tabelle 5, Seite 95)
  • Hate Crime-Bericht 2021: Ausprägung „Sozialer Status“: 287, davon Wohnungslose: 26 (Tabelle 4, Seite 24)
  • Hate Crime-Bericht 2022: Ausprägung „Sozialer Status“: 166, davon Wohnungslose: 39 (Tabelle 4, S. 29)
  • Hate Crime-Bericht 2023: Ausprägung „Sozialer Status“: 136, davon Wohnungslose: 41 (Tabelle 4, S. 38)
  • Hate Crime-Bericht 2024: Ausprägung „Sozialer Status“: 136, davon Wohnungslose: 30 (Tabelle 4, S. 41)

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien

Ähnliche Inhalte