Künstliche Intelligenz kann viel. Aber kann ein Chatbot Psychotherapeut:innen ersetzen? Ein Selbstversuch gibt einen Ausblick, wie man seiner Psyche mit KI helfen kann und wo es doch noch Menschen braucht.
Uns geht es nicht gut. Die psychische Gesundheit der Österreicher:innen hat zuletzt nicht nur wegen sämtlicher Krisen gelitten. Besonders Jugendlichen geht es seit der Corona-Pandemie psychisch deutlich schlechter. Hinzu kommt, dass es viel zu wenig Therapieangebote gibt oder die Angebote zu teuer sind. KI könnte hier Lösungen bieten. Wenn ein Chatbot ein Gespräch immer besser simulieren kann und auf fast jede Frage eine Antwort weiß, warum dann nicht auch bei psychischen Problemen um Rat fragen? Ich probiere es aus.
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„Ich bin hier, um zuzuhören“, schreibt mir ChatGPT, als ich dem Bot schreibe, dass es mir nicht gut geht. „Das tut mir leid zu hören“ reagiert das KI-Tool empathisch.
„Ich bin hier, um zuzuhören“
ChatGPT ist der wohl bekannteste und meistbenutzte Chatbot. Seit fast zwei Jahren gibt es das KI-Tool des US-Unternehmens OpenAI. Alles, was es braucht, ist ein Internetzugang und ein Nutzer:innenkonto. Ob als App am Smartphone oder via Browser am Laptop, ob man tippt oder spricht: ChatGPT hört zu und ist darauf programmiert, Ratschläge zu geben und Probleme zu lösen. Das Ganze verursacht außerdem so gut wie keine Kosten, die Anfahrt zum Arzt oder zur Therapeutin fällt weg und man bleibt anonym. ChatGPT ist rund um die Uhr verfügbar und antwortet sofort. Der Bot fragt auch aktiv nach: „Was scheint das Problem zu sein?“ oder „Hast du jemanden, mit dem du darüber sprechen kannst?“ Nein, habe ich nicht, sonst würde ich mich ja nicht an einen Bot wenden.
Was KI gut kann
Für meine Problembeschreibungen gibt es immer eine passende „To-Do-Liste“: Ressourcen recherchieren, also eine Selbsthilfegruppe in der Nähe suchen, oder mit jemandem sprechen, dem ich vertraue, und professionelle Hilfe kontaktieren. ChatGPT reagiert bei meinem Versuch, Hilfe zu bekommen, stets nach dem gleichen Schema. Ich frage mich, was wäre, wenn ich total fertig zuhause sitze und eine Krise habe. Da will ich keine Ratschläge hören. Ich bräuchte Verständnis, eine Perspektive, ganz individuell für mich.
„Kannst du mir nicht helfen?“, frage ich. „Natürlich, ich bin hier, um dich zu unterstützen, so gut ich kann.“ Aber entweder werde ich bei meinen Problemen erneut auf professionelle Hilfe verwiesen oder ich bekomme eine Anleitung zur „Self-Care“, um meine „Stimmung und Energie“ zu verbessern, wie: regelmäßige Bewegung, gesunde Ernährung und ausreichend Schlaf. Ich bin enttäuscht. Die Ratschläge kenne ich schon und von einem therapeutischen Gespräch habe ich mir neue Erkenntnisse erwartet. Meine Geduld, weiter Lösungen für mich aus dem Bot zu kitzeln, neigt sich dem Ende zu.
Was KI nicht kann
„Alles, was in Richtung Entlastungsgespräche geht, also wenn Personen Dinge belasten, die sie loswerden müssen, dafür eignen sich Chatbots gut“, sagt Paolo Raile. Der Psychotherapiewissenschaftler der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien kann einschätzen, was die Möglichkeiten und Grenzen von KI im therapeutischen Bereich sind. In der Verhaltenstherapie gebe es zudem gut evaluierte Fälle im Bereich spezifischer Phobien. „Klassiker, wie die Spinnenphobie, können mit Vorschlägen und stufenweisen Anleitungen auch gut mit KI bearbeitet werden“, sagt Raile. Und alles, was mit Protokollieren oder Auswertungen zu tun hat, funktioniere ebenso gut mit ChatGPT. „Wenn ich zum Beispiel der KI ein paar Symptome beschreibe, wie ich mich fühle, kommt eine adäquate Diagnose heraus. Oder wenn es um Essstörungen geht, wo niedergeschrieben wird, welche Gedanken und Gefühle ich hatte, als ich dieses oder jenes gegessen habe.“ Auch Traumdeutungen funktionieren mit dem Bot, da dieser eine recht passable Interpretationsfähigkeit besitze, sagt Raile.
Aber was, wenn es mir wirklich schlecht geht? Wenn ich gar nicht aufkomme? Wenn ich Angst habe, unter Menschen zu sein? 25 Prozent der Bevölkerung in Österreich leiden an depressiven Symptomen, 23 Prozent an Angstsymptomen und 18 Prozent an Schlafstörungen. Kann KI hier mehr, als nur zu Bewegung und gesunder Ernährung raten? „KI ist gut darin, Therapiepläne im Hintergrund zu erstellen, die die Menschen daheim gut umsetzen können“, sagt Raile. Bei einer depressiven Verstimmung gehören Bewegung, gesunde Ernährung oder Atemübungen und Meditationen zu den Empfehlungen. Durchaus Dinge, die eine Ärztin oder ein Psychotherapeut auch empfehlen würde. Zusätzlich. Wenn eine Depression schwerwiegend sei, könne man nicht einfach sagen, mach doch mal mehr Sport: „Das funktioniert nicht“, sagt der Psychotherapeut. Immerhin: ChatGPT weist immer darauf hin, dass man sich professionelle Hilfe suchen sollte.
Ziemlich einseitige Hilfe
KI kann Gespräche gut simulieren und Anweisungen geben. Das entspricht am ehesten einer Gesprächstherapie mit Empfehlungen. Paolo Raile bemängelt bei KI-basierten Therapieangeboten, dass diese beschränkt sind, was die Methodik angeht. Es gebe 10, 20, 30 Therapieformen, wie zum Beispiel provokative Therapie oder die Existenzanalyse von Viktor Frankl. „Methoden wie die paradoxe Intervention oder Körperpsychotherapie wirken auf eine Art, die in der KI nicht vermittelt werden kann“, sagt der Therapeut. Ohne die Fähigkeit zu Humor, Körper, Mimik und Gestik zu lesen oder Anspannungen zu erkennen, sei eine therapeutische Interaktion sehr beschränkt. Eine Gruppentherapie könne ChatGPT vielleicht noch simulieren, aber es sei nicht dasselbe, wie wenn unterschiedliche Menschen mit ihren Biografien zusammensitzen, sagt der Wissenschaftler.
USA, Großbritannien und China gehen voran
Das klingt alles nicht so, als könnte KI bald Psychotherapeut:innen ersetzen. Aber was es in den USA, Großbritannien oder China schon gibt, kann auch bei uns bald Realität werden. Zahlungspflichtige Programme in China zum Beispiel werten Symptombilder aus. Psychologische Tests laufen mittels KI, die dann ausgewertet werden. Anhand dieser Ergebnisse werden Therapieempfehlungen gegeben. In den USA füttert ein erfolgreiches Therapeutenpaar seine Anwendung mit seinen Gesprächen und Empfehlungen und bietet sich quasi als geklonter Chatbot seinen Klient:innen an. Das seien aber auch eher Begleitprogramme, die eine Therapie unterstützen. Alles kostenpflichtig natürlich. Verhaltenstherapeutische Interventionen oder Tools mit Empfehlungen für den Klient:innen-Alltag, die leicht umsetzbar seien, erklärt Raile. „Bis die Technologie so weit ist, dass man wie bei Star Trek in sein Holodeck hineingeht und dann sitzt da Sigmund Freud und man kann sich zu ihm legen und ein richtiges Gespräch führen, davon sind wir noch weit entfernt“, sagt der Psychotherapiewissenschaftler.
KI als Erstversorgerin
ChatGPT und andere KI-Tools oder Mental-Health-Apps sind jedenfalls zu jeder Zeit verfügbar. Das kann man von herkömmlichen Therapie-Angeboten in Österreich nicht behaupten. Kassenfinanzierte Therapieplätze können den Bedarf nicht decken. Auch bei teuren Privattherapeut:innen sind die Wartelisten oft lang. Apps können bei depressiven Verstimmungen Hilfestellung bieten – zumindest bis man einen Therapieplatz bekommt. Therapeutische KI-Tools können also die Rolle eines Erstversorgers übernehmen. Die erste Anlaufstelle, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ein Sparring-Partner, um Tipps für den Alltag zu erhalten. Und nicht zuletzt ein offenes, nicht wertendes „Ohr“, das einem jederzeit zuhört. Sogenannte schwere und mittelgradige Störungen gehören aber nach wie vor in eine professionelle Therapie. Von Mensch zu Mensch.
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Infos und Quellen
Gesprächspartner:innen
ChatGPT: Die sprachbasierte Anwendung von OpenAI bietet die Möglichkeit zu dialogischem Austausch. Die Grundlage des KI-Tools ist ein Large Language Model. Dabei handelt es sich um ein sehr leistungsfähiges Sprachmodell, das mit einer Vielzahl von Textdokumenten trainiert wurde.
Paolo Raile: Der Psychotherapeut und Sozialarbeiter ist Lektor an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien. Schwerpunkte seiner Arbeit sind neben KI und Psychotherapie, Klimawandel und Psyche (Schwerpunkt Eco-Emotions) sowie methodenpluralistische Psychotherapiewissenschaft.
Daten und Fakten
25 Prozent der Bevölkerung in Österreich leiden an depressiven Symptomen, 23 Prozent an Angstsymptomen und 18 Prozent an Schlafstörungen. Vor allem junge Erwachsene sind davon betroffen, seit der Pandemie ist die Nachfrage nach Therapiemöglichkeiten stetig gestiegen. (Studie DUK 2021)
Seit Dezember 2019 gibt es das Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz - DVG) in Deutschland, das es etwa ermöglicht, Apps auf Rezept zu verordnen oder Videosprechstunden zu nutzen.
Die Krankenkassen zahlen seit rund vier Jahren für „Apps auf Rezept“. Das Digitale-Versorgung-Gesetz, kurz DVG, ist seit Dezember 2019 in Deutschland in Kraft. Auch die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) will noch heuer digitale Gesundheitsanwendungen in das System der Kostenerstattung einbinden. Dazu laufen hierzulande bereits Pilotprojekte.
Quellen
Studie DUK: Psychische Belastung bei Jugendlichen weiterhin hoch
KI erleichtert LGBTQ und Nichtbinären den Zugang zur Psychotherapie: In England hat ein KI-Chatbot dazu beigetragen, die Zahl der Patient:innen zu erhöhen, die vom Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) an psychosoziale Dienste, etwa Gesprächstherapien zu Angststörungen und Depressionen, verwiesen wurden. Das betraf insbesondere unterrepräsentierte Gruppen wie LGBTQI+ und nichtbinäre Personen sowie Menschen, die ethnischen Minderheiten angehören.
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tagesschau.de: KI oder Couch?
orf.at: ChatGPT als Psychotherapeutin
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