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Jugend für Pflege geopfert: Kann eine Anstellung helfen?

8 Min
Mehr als 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in Österreich werden zu Hause betreut – meist von ihren Angehörigen.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Seit er 16 Jahre alt ist, pflegt Oliver Ortauf (31) seine Mutter. Seit eineinhalb Jahren ist er als pflegender Angehöriger angestellt.


    • Oliver Ortauf pflegt seit seiner Jugend seine schwerkranke Mutter
    • Die Anstellung als pflegender Angehöriger durch die Stadt Graz bringt ihm finanzielle Sicherheit, Versicherung und mehr Lebensqualität.
    • Pflegewissenschaftler Martin Nagl-Cupal sieht das Modell als hilfreichen Einzelfall, aber nicht als Lösung für die Pflegekrise.
    • Oliver Ortauf pflegt seit seinem 16. Lebensjahr seine Mutter mit Pflegestufe 5.
    • Seit 1,5 Jahren ist er bei der Stadt Graz angestellt: ca. 2160 Euro netto Gehalt.
    • In Österreich werden über 80 % der Pflegebedürftigen zu Hause betreut.
    • Rund 950.000 pflegende Angehörige sind an der Betreuung beteiligt.
    Mehr dazu in den Infos & Quellen

„1, 2, 3.“ Oliver Ortauf zählt laut mit. Seine Mutter liegt vor ihm im Pflegebett, sie wimmert leise. „Ich kann nicht“, sagt sie. „Doch. Du kannst“, entgegnet ihr Sohn, mit ruhiger Stimme. Nochmal: „1, 2, 3.“ Dann dreht der 31-Jährige seine Mutter vorsichtig vom Rücken auf die linke Seite. Mehrmals am Tag macht er das, damit sich die 62-Jährige nicht wundliegt. Das Pflegebett nimmt viel Platz im Wohnzimmer der Grazer Wohnung ein, die Mutter kann von dort aus fernsehen. An diesem Freitagvormittag läuft „The Mentalist“. Am Kasten gegenüber stapeln sich Packungen mit Windeln.

Seit er 16 Jahre alt ist, pflegt Oliver Ortauf seine Mutter. Sie hat Multiple Sklerose und leichte Demenz, Pflegestufe 5. Kurz nach der Geburt von Olivers kleiner Schwester fing alles an, die Mutter wurde krank. „Der Papa ist abgehauen, als ich in der Hauptschule war“, erinnert sich Oliver. Zunächst kümmert sich die Oma viel, doch sie stirbt, als Oliver 17 ist. Der Jugendliche fasst einen Entschluss: „Ich habe mir geschworen, dass ich das, was die Oma gemacht hat, weiterführe.“ Seiner Mutter geht es immer schlechter. „Sie ist vom Stock zum Rollator, vom Rollator zum Rollstuhl und vom Rollstuhl jetzt mittlerweile ins Bett gewechselt.“

Das Foto zeigt den jungen Pfleger Oliver am Bett seiner Mutter
Pflegestufe 5: Olivers Mutter hat Multiple Sklerose und leichte Demenz.
© Foto Fuchs

Keine Jugend

Fortgehen, Grenzen austesten, Freunde treffen – all das ist nicht für Oliver. „Ich hatte keine Jugend.“ Oliver vernachlässigt sich selbst. Er hat einen Bandscheibenvorfall, später dann einen Schlaganfall. Seine Zähne gehen kaputt, er hat Schmerzen. Sein Selbstbewusstsein leidet. Er isoliert sich immer mehr. In dieser Zeit, in der er „permanent daheim ist“, entdeckt er Anime-Serien für sich, er flüchtet sich in die Fantasiewelten. Immer wieder hat er den Gedanken: „Hey, ich bin jung, warum kann ich nicht das machen, was die anderen machen?“ Olivers Schwestern – eine jüngere und eine ältere – helfen mit, aber den Großteil übernimmt Oliver. Er bringt sich teils selbst bei, wie er auf seine Mama aufpassen kann, das Rote Kreuz unterstützt die Familie. Eine Ausbildung neben der Pflege machen? Arbeiten gehen? An die Zukunft denken? Keine Chance. Oliver lebt von Sozialhilfe, häuft Schulden an.

Endlich Gehalt und Versicherung

Heute ist Oliver Ortauf 31 Jahre alt. An diesem Freitag am Pflegebett sitzt jede seiner Bewegungen. Oliver wirkt sicher. Sein Leben hat sich vor eineinhalb Jahren „drastisch verändert“, sagt er. Da hat ihn die Stadt Graz als pflegenden Angehörigen angestellt. Der junge Mann strahlt, wenn er davon erzählt. Er traut sich jetzt, seine Zähne zu zeigen, die ersten Behandlungen hat er sich vor Kurzem leisten können. Und mehr Physiotherapie für die Mama geht sich finanziell nun auch aus. Denn zu Olivers Anstellung gehören: ein Gehalt von rund 2160 Euro netto und eine Versicherung. „Vorher hatte ich gar nichts. Ich war allein. Heute habe ich alles“, sagt er.

Neben Oliver sind aktuell 13 pflegende Angehörige im Alter von 30 bis 55 Jahren von der Stadt Graz angestellt. Vorbild für das Pilotprojekt ist das Land Burgenland, dort werden pflegende Angehörige schon seit 2019 bezahlt. Das Ziel des Modells: Pflegende Angehörige entlasten. Denn sie kommen oft an ihre Grenzen und werden meist übersehen, weiß Projektleiterin Christine Bindar von der Stadt Graz. Dabei tragen sie einen großen Teil des Pflegesystems in Österreich: Mehr als 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in Österreich werden zu Hause betreut – meist von ihren Angehörigen. Bedeutet: Rund 950.000 pflegende Angehörige sind an der Pflege und Betreuung einer nahestehenden Person beteiligt. Gerade in Zeiten, in denen Spitäler, Pflegeheime und mobile Dienste händeringend nach Personal suchen und die Beschäftigten unter massiver Überlastung leiden, zeigt sich, wie sehr das System auf die stillen Helfer:innen angewiesen ist. „Viele von ihnen pflegen aus Liebe und Zuneigung, vernachlässigen sich dabei aber selbst und ziehen sich aus dem sozialen Leben zurück“, sagt Bindar.

Das Pilotprojekt der Stadt Graz soll nicht nur finanzielle Sicherheit geben. „Viele haben uns rückgemeldet, dass sie endlich das Gefühl haben, Wertschätzung zu erfahren“, sagt die Projektleiterin. Begleitet werden die Angehörigen durch zwei Amtssachverständige der Pflegedrehscheibe Graz, regelmäßige Pflegevisiten und verpflichtende Schulungen – von Erste-Hilfe-Kursen bis hin zu Praxiskursen für Demenzbetreuung. Auch eine „Ersatzpflegeperson“ ist im Grazer Modell vorgesehen. Bei Vernetzungstreffen können sich die Betroffenen austauschen: „Das empfinden viele als sehr positiv, weil sie vorher das Gefühl hatten: Ich bin ganz allein und nur bei mir ist die Situation so schlimm.“ Nach eineinhalb Jahren zieht die Stadt Bilanz: Alle Angehörigen würden von einer verbesserten Lebensqualität sprechen. Mehr Menschen wollten teilnehmen, als die Stadt in das Projekt aufnehmen kann.

Lösung für die Pflegekrise?

Könnte das Anstellen von pflegenden Angehörigen also eine Antwort auf die vielen Baustellen der Pflegekrise sein? Pflegewissenschaftler Martin Nagl-Cupal von der Uni Wien ist skeptisch: „Für manche ist es im Sinne einer Absicherung sicher hilfreich – damit sie nicht komplett im Regen stehen.“ Doch eine echte Lösung sieht er darin nicht. Er kritisiert, dass die Ausbildung der pflegenden Angehörigen im Modell oberflächlich bleibt und nicht an den Arbeitsmarkt anschlussfähig ist. „Das Gehalt steht häufig in keinem Verhältnis zum Aufwand.“ Außerdem lasse sich die Grenze schwer ziehen: Wann ist man Angehöriger, wann Angestellter, wann ist „Feierabend“?

Für Nagl-Cupal ist klar: Pflegende Angehörige leisten enorm viel und brauchen mehr Beachtung. Es dürfe kein Tabu mehr sein, sich Hilfe zu holen. Doch das Anstellungsmodell sei „nur ein Mini-Beitrag“ – hilfreich für Einzelne, aber ohne spürbare Wirkung auf das gesamte Pflegesystem. „Die Leute wollen zu Hause pflegen, aber sie laugen aus. Geld wird die Belastung nicht ändern.“ Für Nagl-Cupal greift die Unterstützung, die das Anstellungsmodell liefert, nicht weit genug. Es brauche mehr Hilfe von professionellen Pflegefachkräften, etwa in Form von mobilen Diensten oder Community Nurses. Die Unterstützung müsse individuell sein: „Eltern von pflegebedürftigen Kindern haben andere Bedürfnisse als erwachsene Kinder, die ihre hochbetagten Eltern betreuen. Da muss man genauer hinschauen.“ Ganz besonders müsse man auf junge Pflegende wie Oliver Ortauf achten: „Wenn Jugendliche früh beginnen, ein Elternteil oder Geschwister zu pflegen, bleiben oft Ausbildung und Beruf auf der Strecke – und am Ende bleibt als einzige Option, die Pflege weiterzumachen. Das ist total verkehrt.“ Stattdessen müsse man hergehen und sagen: „Wir unterstützen dich dabei, dass du eine Ausbildung machst und gleichzeitig unterstützen wir dich bei der Pflege.“

Das Foto zeigt den Pfleger Oliver mit seinen Tätowierungen am Oberarm
Ein großer Anime-Fan: Oliver zeigt stolz seine Tattoos
© Foto Fuchs

Zwischen Körperpflege und Fitnessstudio

Oliver Ortauf weiß nicht, wie seine Zukunft aussehen wird. Bis nächstes Jahr ist das Projekt laut Stadt noch abgesichert. Die Verantwortlichen wünschen sich, dass das Modell landesweit ausgerollt wird, das Land will das Modell prüfen. Oliver denkt Schritt für Schritt, sein Alltag habe jetzt mehr Struktur: Aufwachen, Kaffee trinken, die zwei Katzen füttern, die Mutter wecken, Körperpflege, Bettgymnastik, vielleicht einen Sprung vor die Tür, bevor das Rote Kreuz zum Unterstützen kommt. Oliver Ortauf weiß noch, wie er früher abends im Bett gelegen ist, mit rasenden Gedanken: „Da sind dann oft die Tränen gekommen.“ Jetzt hat er mehr Platz für sich selbst. Er geht ins Fitnessstudio – in seiner Zimmertür ist eine Klimmzugstange befestigt – und ab und zu kommt ein Freund vorbei. Es gelinge ihm heute besser, die Situation anzunehmen. „Ich tue mir leichter in dem Sinne, es zu verarbeiten und einzusehen, Mama hat eine Krankheit. Es ist die Krankheit, die da im Spiel ist.“

Als Oliver ein Kissen aufschüttelt, lugt ein Tattoo unter seinem Ärmel hervor. Eine Figur aus einem seiner Lieblingsanimes. Am liebsten schaut er die Serien, „in denen der Hauptcharakter am Anfang eine verborgene Kraft hat, lernt, sie zu beherrschen und dann am Ende der – sorry – Motherfucker Nummer eins ist.“ Damit kann sich Oliver Ortauf identifizieren, ein bisschen erkennt er sich selbst darin wieder: Wie er sich entschlossen hat, seine Mutter zu pflegen und wie er dazugelernt hat, wie das Modell ihm geholfen hat. Auch wenn die Anstellung von pflegenden Angehörigen die Pflegekrise nicht lösen kann, für Oliver Ortauf bedeutet sie: „Alles“.


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Infos und Quellen

Gesprächspartner:innen

  • Oliver Ortauf, pflegender Angehöriger
  • Christine Bindar, Projektleiterin in Graz
  • Pflegewissenschaftler Martin Nagl-Cupal von der Uni Wien

Daten und Fakten

  • Rund 950.000 pflegende Angehörige sind in Österreich an der Pflege und Betreuung einer nahestehenden Person beteiligt.
  • Seit Anfang 2024 wurden in Graz 15 pflegende Angehörige im Rahmen eines Pilotprojekts angestellt. Das Projekt soll „die Möglichkeit einer sozialversicherungsrechtlichen Absicherung über ein Beschäftigungsverhältnis und somit die daraus resultierende Aufnahme in die Pflichtversicherung“ schaffen, so die Stadt Graz.
  • Die Anstellung richtet sich nach der Pflegegeldstufe (PGS):
  • PGS 3: 20 Wochenstunden
  • PGS 4: 30 Wochenstunden
  • PGS 5–7: 40 Wochenstunden
  • Die Voraussetzungen für pflegebedürftige Personen sind: Pflegegeldstufe 3–7, vollendetes 18. Lebensjahr, österreichische Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltsrecht > 3 Monate, Hauptwohnsitz seit mindestens 1 Jahr in Graz, nicht Zielgruppe der Grundversorgung oder des steiermärkischen Behindertengesetzes.
  • Die Voraussetzungen für pflegende Angehörige sind: voll geschäftsfähig, keine Pensionsbezieher:innen, Hauptwohnsitz in Graz, kein weiteres Dienstverhältnis, das mit Pflege zusammen über 40 Wochenstunden ergibt, österreichische Staatsbürgerschaft oder gültiger Aufenthaltstitel mit Arbeitsmarktzugang, gesundheitliche und persönliche Eignung (ärztliches Attest, Eignungsprüfung), Möglichkeit, eine geeignete Vertretung zu benennen.
  • Die Kosten/Selbstbehalt sind: 50 % des Pflegegeldes werden für die Kosten angerechnet, ärztliches Attest ist selbst zu bezahlen, Kosten für verpflichtende Kurse übernimmt die Stadt Graz.
  • Mehr Infos zum Modell im Burgenland unter

Quellen

  • Stadt Graz: FAQs zur Anstellung pflegender Angehöriger
  • Studie Pflegende Angehörige: Nagl-Cupal, M. (2025). Situation von pflegenden An- und Zugehörigen. In Gesundheit Österreich GmbH (Hrsg.), Österreichischer Demenzbericht 2025 (S. 191–194). Sozialministerium. Bericht

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