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Der Stellenabbau in der Lenzing AG betrifft hunderte Angestellte und ihre Familien. Er bedroht auch die Gemeinde Lenzing. Denn sie lebt und identifiziert sich mit dem Faserhersteller.
Der Schlot stößt Rauchwolken in den blauen Oktoberhimmel. Michael Bichler geht durch das Werkstor. Es ist Schichtwechsel. „Servas Peter”, grüßt er einen Kollegen. Bichler ist Betriebsrat bei der Lenzing AG, Faserhersteller, tausende Mitarbeiter:innen, börsennotiert, seit 80 Jahren wichtigster Arbeitgeber in der gleichnamigen Gemeinde Lenzing im oberösterreichischen Hausruck. Bichler, ein Kumpel-Typ mit Vollbart und Tattoos, lächelt. Doch die Stimmung ist im Keller. Oder wie Bichler sagt: „600 ist brutal.“
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Am Montag, zwei Tage zuvor, erhielten die Beschäftigten der Lenzing AG eine Hiobsbotschaft. 600 Mitarbeiter:innen in der Verwaltung werden in den kommenden zwei Jahren ihre Stelle verlieren, 250 müssen noch heuer gehen. Besonders bitter: Hunderte Jobs sollen nach Asien und Nord- und Südamerika ausgelagert werden. „Maßnahmen zur Verbesserung der Kostenstruktur“ nennen es die Chefs der Lenzing AG lapidar. Das Unternehmen fertigt Fasern aus Holz für die Textil-, Auto- und Modebranche. Ein Vorzeigebetrieb mit 2,6 Milliarden Euro Umsatz im Jahr, Werke auf vier Kontinenten, 8.000 Mitarbeiter:innen weltweit.
Auswirkungen auf ganze Region
Doch auch an einem solchen Kaliber zieht die Krise nicht spurlos vorbei: Explodierende Energiepreise, eine erratische US-Zollpolitik, die Konkurrenz aus Asien, und natürlich die hohen Lohnabschlüsse der vergangenen Jahre. Zwei Jahre schrieb Lenzing rote Zahlen. Nun gibt es Konsequenzen. Das trifft die Region schwer. Die Lenzing AG beschäftigt 3.100 Menschen in ihrem Werk in Oberösterreich – sie ist der größte Arbeitgeber im Bezirk Vöcklabruck.
Vor allem die Gemeinde profitiert von seinem berühmten Werk mitten im Ort. Es war ein Magnet für Fachkräfte. Von Jahr zu Jahr wuchs die Einwohnerzahl der Gemeinde an. Die Lenzing AG stellte Wohnbauten auf. Die Gemeindekasse war prall gefüllt, die Arbeitslosigkeit niedrig. Bis heute ist Lenzing der finanzstärkste Ort in der Region. Noch. Denn der Stellenabbau wird die Gemeinde hart treffen.
Rudolf Vogtenhuber sitzt im Lenzinger Gemeindeamt. Von seinem Büro aus kann er den dampfenden Schlot sehen. Vogenhuber ging 40 Jahre lang selbst durch das Werkstor. Der Ingenieur war Betriebsleiter und für die Qualität der Holzschnitzel verantwortlich. Heute ist Vogenhuber 70 und seit 13 Jahren sozialdemokratischer Bürgermeister. „In meiner Zeit bei Lenzing gab es etwa alle zehn Jahre ein Sparprogramm. Jetzt häufen sich die Einsparungen“, sagt er.
Von Oberösterreich in die Welt
Vergangenen Montag stand er auf der Bühne einer Protestkundgebung – zwischen Betriebsräten, Gewerkschaftern und dem oberösterreichischen Arbeiterkammer-Präsident Andreas Stangl. „Das ist eine Katastrophe“, sagte Vogtenhuber vor der Belegschaft. Ist es wirklich so schlimm? Vogtenhubers Antwort ist klar: „Ohne die Lenzing AG würde es unseren Ort nicht geben.“
Ohne die Lenzing AG würde es unseren Ort nicht geben.Bürgermeister Rudolf Vogtenhuber
Wo heute Fasern für Hemden, Autositze und Feuchttücher produziert werden, bauten Bauern einst Erdäpfel und Rüben an. An der Ager drehten sich Mühlen, der Fluss diente Flößern als Transportweg für Holz. Eine ärmliche Gegend. Im Jahr 1891 läutete der Fabrikant Emil Hamburger die Zeitenwende ein. Er erwarb eine Mühle und baute sie in eine Papierfabrik um. Der Betrieb florierte. Schon 1938, nach dem Einmarsch der Wehrmacht, eröffnete ein größeres Zellstoffwerk. Eine eigene Wohnbaugesellschaft schaffte Wohnraum für die Arbeiter:innen. Die Gemeinde Agerzell wurde gegründet. Die Industrie zog immer mehr Menschen an, die Bevölkerung wuchs. Später wurde der Ort in Lenzing umbenannt.
Über Jahrzehnte herrschte Aufschwung. Die Lenzing AG expandierte in die Welt, errichtete Werke in Brasilien, Thailand und Großbritannien. Ihre umweltschonenden Fasern sind gefragt: Der schwedische Modekonzern H&M, das deutsche Label Armedangels oder der Hygienehersteller Carefree setzen auf sie. Das Unternehmen prosperierte – und mit ihm die gleichnamige Gemeinde. Von 2011 bis heute wuchs die Bevölkerung um 5,3 Prozent. Heute zählt der Ort 5.252 Einwohner:innen. Seit 1. Jänner darf er sich Stadtgemeinde Lenzing an der Ager nennen, auch, um sich vom Unternehmen zu emanzipieren.
Millionen für die Gemeindekassa
Dabei ist das Unternehmen die wichtigste Einnahmequelle für die Gemeinde. 80 Prozent der Kommunalsteuern – 2024 waren es rund 9,4 Millionen Euro – kommen von der Lenzing AG. Die Ertragsanteile vom Bund, die zweite wichtige Säule des Gemeindehaushalts, machen gerade mal die Hälfte aus. Die Gelder ermöglichen Lenzing Investitionen, von denen andere Gemeinden nur träumen können. Die Lenzinger:innen haben ein eigenes Kino, ein Kulturzentrum, ein Altersheim, das von der Gemeinde betrieben wird. „Wir haben viele, nicht gewinnbringende Einrichtungen, die wir uns nur mit der Kommunalsteuer der Lenzing AG leisten können“, sagt Victoria Buschberger, die für die Grünen im Gemeinderat sitzt. Sie befürchtet, dass die Einnahmen künftig weniger werden und die Gemeinde besser haushalten werden müsse.
Derzeit baut sie jedenfalls ein neues Hallenbad mit Sportzentrum. Kostenpunkt: 19 Millionen Euro. Das zweite Megaprojekt sieht man durch das Fenster des Bürgermeisterbüros. Mitten am Hauptplatz von Lenzing klafft ein großes Loch. Bagger schaufeln sich ins Erdreich, Lastwagen führen Aushub weg. Hier entsteht ein komplett neu gestaltetes Ortszentrum mit Wohnungen, Arztpraxen, Apotheke, Grünflächen und Wasserelementen. Das neue Zentrum baut nicht die Gemeinde, sondern die GSG. Die Gemeinnützige Siedlungsgenossenschaft, die zu mehr als 99 Prozent im Eigentum der Lenzing AG ist. Die GSG ist der Platzhirsch im Wohnbau, viele Grundstücke im Ort gehören ihr, etwa jenes, auf dem das Feuerwehrhaus steht. Der Grund vom Kindergarten: im Eigentum der Lenzing AG.
Arbeitgeber für Generationen
Die Gemeinde Lenzing hat viele Jahre vom Unternehmen profitiert. Doch es führte auch zu einer gewissen Abhängigkeit. 600 Stellen sind ein Fünftel der Belegschaft in Lenzing. Ihr Wegfall wird sich in der Kommunalsteuer niederschlagen. Für die Lenzing AG war die Entscheidung „leider alternativlos“, wie ein Lenzing-Sprecher auf Anfrage mitteilt. „Lehrlinge sind von den aktuellen Personalmaßnahmen ausdrücklich nicht betroffen“, heißt es.
Michael Bichler fing vor 20 Jahren auch als Lehrling an. Mehr als sein halbes Leben arbeitete er schon bei der Lenzing AG. Er engagierte sich von Beginn an: zunächst als Jugendrat, später als Betriebsrat der Arbeiter:innen, nun für die Angestellten. Der Job bei Lenzing war ihm in die Wiege gelegt. Seine beiden Großväter haben bei Lenzing gearbeitet, sein Vater, die Tante. „Wenn man bei Lenzing arbeitet, hat man es geschafft“, erzählt man sich im Ort. Für Hunderte Beschäftigte endet dieser Traum nun.
Bichler steht vor dem Haupttor des Lenzing-Werks. Der Betriebsrat gibt sich kämpferisch. „Bei den Offshoring-Plänen geben wir nicht auf. Die Zahl werden wir noch nach unten schrauben können“, sagt er überzeugt. Bichler verabschiedet sich, seine Kolleg:innen brauchen ihn jetzt.
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Infos und Quellen
Genese
Die Lenzing AG will 600 Jobs abbauen. Was macht das mit der gleichnamigen Gemeinde? Michael Ortner und Sandra Vučić sind für Antworten nach Oberösterreich gefahren. Gerne hätten sie das Lenzing-Werk besichtigt und mit dem Lenzing-Vorstand gesprochen. Doch beides war „aus terminlichen Gründen“ nicht möglich.
Gesprächspartner:innen
- Daniel Winkelmeier, Sprecher Lenzing AG
- Jürgen Gangoly, Sprecher B&C-Gruppe (Kernaktionär Lenzing AG)
- Rudolf Vogtenhuber (SPÖ), Bürgermeister Stadtgemeinde Lenzing an der Ager
- Michael Bichler, stellvertretender Betriebsrat der Angestellten Lenzing AG
- Wolfgang Gerstmayer, Geschäftsführer Gewerkschaft der Privatangestellten Oberösterreich
- Johannes Beer, Bezirkshauptmann Vöcklabruck, Obmann des Sozialhilfeverbandes Vöcklabruck
- Victoria Buschberger (Grünen), Gemeinderätin Stadtgemeinde Lenzing an der Ager
- Klaus Friesenbichler, Senior Economist, Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo
Daten und Fakten
- Die Lenzing AG beschäftigt weltweit rund 7.700 Mitarbeiter:innen. 2024 machte Lenzing einen Umsatz von rund 2,7 Milliarden Euro. Unterm Strich stand ein Verlust von 138 Millionen Euro, nach 600 Millionen Verlust im Jahr 2023. Im ersten Halbjahr 2025 verbesserte sich das Ergebnis nach Steuern auf 15,2 Millionen Euro.
- In der Gemeinde Lenzing befinden sich die Unternehmenszentrale und das gesamte Forschungszentrum, wo 3.093 Menschen arbeiten. 800.000 Tonnen Holz werden jedes Jahr zu Fasern für die Textil- und Modebranche verarbeitet. Bis 2027 will das Unternehmen rund 600 Stellen abbauen, 250 noch heuer. Rund 300 Stellen sollen nach Asien verlagert werden. Dies soll ab 2027 Einsparungen von insgesamt rund 45 Millionen Euro jährlich bringen. Gleichzeitig werden 100 Millionen Euro in die beiden Standorte Lenzing und Heiligenkreuz (Burgenland) investiert.
- Lenzing ist seit 1985 börsennotiert. Der Hauptaktionär ist die heimische Industrieholding B&C, die 37,25 Prozent hält. Der brasilianische Zellstoffkonzern Suzano übernahm 2024 einen 15-Prozent-Anteil. 6,79 Prozent gehören der US-Investmentbank Goldman Sachs, 40,78 Prozent der Aktien sind in Streubesitz.
- Die Kommunalsteuer ist eine Gemeindeabgabe. Unternehmen, die im jeweiligen Gemeindegebiet angesiedelt sind, müssen diese Abgabe entrichten. Sie beträgt 3 Prozent der Summe aller Arbeitslöhne, die in einem Kalendermonat an die Beschäftigten einer Betriebsstätte eines Unternehmens ausbezahlt worden sind.
Quellen
- Lenzing AG: Geschäftsbericht 2024
- Stadtgemeinde Lenzing an der Ager: Rechnungsabschluss 2024
- Gemeinderatsprotokolle Stadtgemeinde Lenzing an der Ager
- Berichte des Prüfungsausschusses Stadtgemeinde Lenzing an der Ager
- Statistik Austria: Ein Blick auf die Gemeinde
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