Dem dänischen Schulsystem gelingt es, ein Verständnis für Demokratie zu vermitteln. Das Modell kann Österreich als Vorbild dienen.
Die Kinder singen ein Lied über Mountainia – die fiktive Mini-Gesellschaft, in der sie eine Woche lang „leben“. In Mountainia gibt es nicht nur ein Café, sondern auch eine Bank, ein Krankenhaus, einen Friseursalon und einen Mechaniker. All diese Räume passen in das moderne Schulgebäude der Lisbjergskolen, einer öffentlichen Volksschule mit rund 400 Schüler:innen am Rand der dänischen Stadt Aarhus.
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So sieht der Unterricht an der Lisbjergskolen nicht immer aus, aber für zehn Wochen im Jahr wird der reguläre Stundenplan unterbrochen und Projekte wie dieses werden mit der ganzen Schule durchgeführt. In diesen speziellen fünf Tagen geht es also nicht um Mathe oder Dänisch, sondern um das Zusammenleben in der Gemeinschaft – und darum, Spaß zu haben.
Man spürt die Energie und Freude, mit der die Schüler:innen lernen. Die Kinder und Jugendlichen im Alter von sechs bis 15 Jahren bewegen sich in der Projektwoche jeden Vormittag frei durch das Schulgebäude; jeder kann die Stationen aufsuchen, die er oder sie möchte. Und jeden Tag nach dem Mittagessen gibt es eine Versammlung im Foyer der Schule, bei der alle auf dem Boden vor einer kleinen Bühne sitzen.
Wer wird Bürgermeister?
Erst wird das selbstgeschriebene Lied gesungen, dann gibt es einen Überblick über die Ereignisse des Tages in Mountainia. Denn neben dem spielerischen Zugang zu verschiedenen Berufen und dem Umgang mit Geld müssen die Schüler:innen am Ende der Woche ein Oberhaupt für ihr Mountainia wählen – und sich zwischen dem fiktiven Pfarrer und dem Bürgermeister entscheiden, die miteinander im Streit liegen. Und dabei lernen sie ganz nebenbei, wie Demokratie funktioniert.
Von Mountainia kann auch Österreich lernen. Das hiesige Schulsystem steht oft in der Kritik: Es versage bei der Vermittlung praktischer und sozialer Kompetenzen. In Skandinavien ist das anders. Das Bildungssystem ist hochgelobt. Warum also nicht einfach abschauen?
Informalität und Offenheit
Dänemarks Bildungssystem ist durch die Gesamtschule geprägt. Zwischen dem sechsten und 15. Lebensjahr besuchen die Schüler:innen die Volksschule – und zwar neun Jahre lang. Mit mindestens einem Kindergartenjahr davor gibt es eine zehnjährige Schulpflicht. Danach besteht die Möglichkeit, für drei Jahre ein Gymnasium, eine andere höhere Schule mit einer Spezialisierung oder ein freies Internat zu besuchen.
Doch nicht nur in ihrer Dauer unterscheidet sich die dänische Volksschule von der in Österreich. Das gesamte Bildungssystem setzt auf Informalität – alle sind miteinander per du, die Schüler:innen nennen selbst den Direktor beim Vornamen. Noten bekommen sie erst ab der achten Klasse, also im Alter von 14 Jahren. Von da an absolvieren sie alle Prüfungen digital. Sie sind in ganz Dänemark zentralisiert.
Die Idee, dass Schule die Bürger:innen von morgen ausbildet und sie damit auf die Teilhabe an der Gesellschaft vorbereitet, steht im Zentrum des dänischen Bildungssystems. „Das Ziel ist nicht, die besten Noten in Englisch oder Mathematik zu bekommen, es gibt eine größere Perspektive. Unser Ziel ist es, den Schülerinnen und Schülern beizubringen, wie man ein guter Bürger ist, was demokratisches Denken bedeutet und ihre sozialen Fähigkeiten auszubauen“, erklärt Martin Loft, der Direktor der Lisbjergskolen. Die persönlichen und sozialen Kompetenzen hätten den gleichen Stellenwert wie fachliche Kompetenzen. Das gelingt unter anderem mit einem starken Fokus auf Gruppenarbeit, vom Kindergarten bis hin zur Universität.
Der Wert der Gemeinschaft
An der Lisbjergskolen wird jeden Tag gemeinsam zu Mittag gegessen. An den runden und länglichen Tischen im offenen, gläsernen Foyer sitzen nicht nur Schüler:innen; die Lehrkräfte essen mit. „Ich sitze heute bei der siebten Klasse. Wir haben für jeden Tag eine andere Einteilung, damit wir mit den Kindern im persönlichen Austausch sind“, erklärt Klassenlehrerin Camilla Sonne Lindberg. Heute gibt es Burger. Die beiden 15-jährigen Schülerinnen Marie-Sofie und Mille sitzen mit zwei jüngeren am Tisch. „Wir haben ein sehr freundliches und offenes Verhältnis zu unseren Lehrern. Mit einem unserer Lehrer sprechen wir zum Beispiel immer über Beziehungssachen“, erzählt Mille und lacht dabei. Man merkt, wie wohl sich die jungen Leute hier fühlen. Und sie lernen, dass Schüler:innen und Lehrkräfte auf Augenhöhe sind.
Ich würde das dänische Schulsystem immer wieder empfehlen.Andreas Rasch-Christensen
Die Lisbjergskolen ist auch in Dänemark ein Vorzeigebeispiel. Doch egal, wie modern das Schulgebäude ist, die Philosophie der Gruppenarbeit und der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder ist in ganz Dänemark dieselbe. Der renommierte Bildungsexperte Andreas Rasch-Christensen ist vom dänischen Zugang zur Schule überzeugt, besonders vom starken Fokus auf Demokratiebildung. Er berät die EU-Kommission und dänische Ministerien in Bildungsfragen und betont: „Ich würde das dänische Schulsystem immer wieder empfehlen.“ Es gehe um die demokratische Entwicklung junger Menschen und die Art und Weise, wie sie in Entscheidungsfindung einbezogen werden, so Rasch-Christensen.
„Wir können nicht beweisen, dass man mehr oder besser lernt, wenn man mit verschiedenen Jugendlichen und Kindern zusammen ist. Aber wir haben die Überzeugung, dass man durch diese Zusammenarbeit etwas Anderes lernt, abgesehen von Inhalten“, fügt er hinzu. Das dänische Schulsystem, so Rasch-Christensen, gründet sich auf diesem fundamentalen Wert – dem Wert der Gemeinschaft. Und das werde auch von allen politischen Seiten unterstützt und sei historisch bedingt.
Realitätscheck
Doch nicht alles ist rosig im dänischen Bildungssystem. Rasch-Christensen spricht auch davon, dass es enorm unter Druck steht: „In den vergangenen 25 Jahren war ich nie so besorgt um das Schulsystem wie heute.“ Denn wie fast überall in Europa, habe man auch in Dänemark mit einem Lehrer:innenmangel zu kämpfen. Seit der Covid-Pandemie ist die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen rückläufig. Außerdem würden immer mehr Schüler:innen in Privatschulen gehen. Es brauche mehr Geld und eine Aufwertung des Lehrberufes. Anfang Oktober hat die Regierung eine weitreichende Schulreform für die Volksschule vorgestellt, die für ein besseres Schulklima, mehr Ressourcen bei den Lehrkräften sowie eine Modernisierung von Schulräumen sorgen soll. Erste Reaktionen von Expert:innen waren positiv.
Aber zurück in die Lisbjergskolen. Wie funktioniert die Gruppenarbeit? Das Szenario sieht so aus: Vier Schüler:innen müssen gemeinsam einen vierteiligen Arbeitsauftrag erledigen. Die beiden Teenager Marie-Sofie und Mille erklären es so: „Wenn es zeitlich passt, würden wir alle vier Aufgaben zusammen machen, weil so lernen wir nicht nur einen Teil davon. Wir können uns auch gegenseitig Inputs geben und über die Themen diskutieren.“ Bei ihrem Verständnis von Lernen geht es also nicht um Effizienz oder Geschwindigkeit, sondern tatsächlich um Lernen. Auf die Eigenverantwortung werde viel Wert gelegt, sagen sie. „Die Lehrer:innen geben uns viele Möglichkeiten, aber sie drängen uns nicht. Wir müssen selbst dafür sorgen, dass wir mitlernen.“
Disziplin als Problem
Hört sich gut an, bringt aber auch Probleme – vor allem disziplinäre. Lehrer:innen äußern manchmal Bedenken an der Lockerheit. „Weil die Schüler uns so gut kennen, gibt es manchmal Probleme mit dem Respekt gegenüber uns Lehrern. Aber man muss sich den Respekt auf andere Weise verschaffen, nicht durch einen formalen Umgang oder Einschüchterung", sagt Michael Jensen, der an der Lisbjergskolen unterrichtet. Denn man könne weniger gut lernen, wenn Angst im Spiel sei, „das Wichtigste ist das Vertrauen der Schüler in uns“, sagt er.
Bedenken gibt es auch von den Eltern, erzählt der Universitätsprofessor Teke Ngomba. Seine Kinder besuchen die Volksschule in Aarhus. Er stammt aus Kamerun, lebt seit vielen Jahren in Dänemark und musste sich an den dänischen Zugang erst gewöhnen. „Im Vergleich zu den Kindern meiner Freunde, die im Vereinigten Königreich oder in Südafrika leben, frage ich mich manchmal, ob meine Kinder überhaupt etwas lernen. Hier gibt es zum Beispiel keine Hausübungen, aber die Kinder lernen spielerisch kritisches Denken.“ Man müsse sich darauf einlassen. Doch es sei wichtig, auch die Herausforderungen nicht zu verschweigen. Der dänische öffentlich-rechtliche Rundfunk TV2 hat dazu bereits 2021 drei Dokumentationen veröffentlicht, die für eine große Debatte gesorgt haben.
Was Dänemark von Österreich lernt
Nicht nur bei der Disziplin, sondern auch beim Thema Spezialisierung schaue man gern auf deutschsprachige Länder, sagt Bildungsexperte Rasch-Christensen: „Wenn wir versuchen, uns von anderen Ländern inspirieren zu lassen, wie wir zum Beispiel technischere Teile des Arbeitsmarktes fördern können, schauen wir nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz. Wegen der früheren Spezialisierung funktioniert es dort besser.“
Trotz aller Probleme steht Rasch-Christensen hinter der Idee des dänischen Schulsytems. Was der Zweck der Schule ist, muss jedes Land für sich entscheiden. In Dänemark stehe der Mensch im Mittelpunkt: „Viele neigen dazu, die Funktion der Schule als Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt zu sehen. Aber wir müssen uns auf eine Schule konzentrieren, die Werte vermittelt. Und dort sollen Kinder einfach Kinder sein und junge Menschen einfach junge Menschen", sagt Rasch-Christensen.
Soziale Kompetenz statt Wurzelziehen
Die utopische Gesellschaft Mountainia wird nie der komplexen Realität entsprechen. Aber es hilft, wenn die Kinder von klein auf die Idee von Demokratie kennen, lernen, in Gruppen zu arbeiten und neben den Noten ihre Persönlichkeit berücksichtigt wird. Schließlich entwickeln sich die Schüler:innen zu Bürger:innen. Aus dem fiktiven Spiel werden echte Wahlen, und vielleicht wird eine:r von ihnen wirklich zum Bürgermeister oder Abgeordneten gewählt.
Das dänische Schulsystem ist bei weitem nicht perfekt, von einer Bildungsutopie kann keine Rede sein. Aber es zeichnet sich dadurch aus, nicht nur Wissen im Wurzelziehen zu vermitteln, sondern Fähigkeiten für das Leben nach der Schule.
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Infos und Quellen
Genese
Die Autorin Sara Brandstätter hat ein Jahr lang in Dänemark studiert und Einblicke in das Bildungssystem bekommen. Während ihres Studiums fiel ihr auf, dass der Zugang zu Lernen und Bildung anders ist als in Österreich.
Der Beitrag ist im Rahmen von „eurotours 2023“ (Projekt des Bundeskanzleramtes, finanziert aus Bundesmitteln) entstanden.
Gesprächspartner:innen
Andreas Rasch-Christensen: Leiter der Forschungsabteilung des Forschungszentrums für Pädagogik und Bildung am VIA University College in Aarhus; Bildungsexperte für Kindertagesstätten und Volksschulen; Mitglied mehrerer ministerieller Ausschüsse und Räte, u.a. des Rates für das Lernen von Kindern und des Qualitätsforums für Kindertagesstätten
Teke Ngomba, Universitätsprofessor an der Aarhus University, er lebt seit vielen Jahren in Dänemark und seine Kinder besuchen die dänische Volksschule
Martin Appel Loft, Direktor der Lisbjergskolen (Volksschule)
Camilla Sonne Lindberg, Klassenlehrerin in der Lisbjergskolen
Michael Jensen, Klassenlehrer in der Lisbjergskolen
Marie-Sofie und Mille, Schülerinnen der Lisbjergskolen, beide besuchen die zehnte Klasse
Daten und Fakten
Historisch basiert das dänische Schul- und Bildungssystem auf der Idee, Bildung für alle zu ermöglichen, egal ob in der Stadt oder am Land, egal welche Gesellschaftsschicht. Diese Idee wurde Anfang des 19. Jahrhunderts vom Philosophen, Pädagogen und Pfarrer Grundtvig geprägt, dessen Ideen noch heute stark vertreten sind. Er war Vertreter des Gesamtschul-Systems und auch des Konzepts des lebenslangen Lernens. Nicht nur das Schulsystem, viele Bereiche der dänischen Gesellschaft sind durch großes Vertrauen ineinander und einer starken Gemeinschaft geprägt. Eine Studie der OECD zeigt, dass dänische Bürger:innen ihren Politiker:innen mehr vertrauen als die Österreicher:innen.
Die dänische Regierung hat Anfang Oktober eine weitreichende Schulreform vorgestellt. Die Reform zielt darauf ab, Probleme wie den Lehrer:innenmangel, die Zunahme von Privatschulen und die verschlechterte psychische Gesundheit der Schüler:innen zu bekämpfen. Die Schultage sollen um bis zu eine Stunde verkürzt werden, mit diesen Ressourcen soll der Bedarf am Vormittag besser abgedeckt werden. Außerdem erhalten Schulen mehr Selbstbestimmung. Die Änderungen sollen ab 2024 umgesetzt werden, bei einigen Vorschlägen werde es aber Jahre dauern, sagte der Minister für Kinder und Bildung, Mattias Tesfaye, bei der Pressekonferenz.
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Tagesspiegel: Schuldigitalisierung: Was machen die Dänen anders?
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