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Nach dem tödlichen Einsturz eines Bahnhofsdachs hat eine Studentenbewegung die größten Proteste in der Geschichte Serbiens ausgelöst. Präsident Vučić steht nun unter Druck.
Der 15. März 2025 wird in die Geschichte Serbiens eingehen. Hunderttausende Menschen versammelten sich an jenem Samstag in Belgrad zum größten Protest, den das Land je gesehen hat. Seriöse Schätzungen sprechen von mehr als einer halben Million Teilnehmer:innen, also etwa einem Zehntel der serbischen Bevölkerung.
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„Am 15. für die 15“ lautete das Motto – eine Anspielung auf die 15 Menschen, die beim Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Novi Sad letzten November ums Leben kamen. Dabei war der Bahnhof gerade erst saniert worden. Rasch gab es erdrückende Hinweise auf Korruption, der Konstruktionsminister trat zurück. Der Einsturz des Vordachs war der Funke, der eine beispiellose Protestwelle entzündete.
Eine neue soziale Bewegung
Nach dem Unglück blockierten Studierende landesweit ihre Universitäten, unterstützt von vielen Lehrenden und Rektoraten. Rasch breiteten sich die Proteste auch auf andere Gruppen aus – zu viel Unmut hatte sich in den letzten Jahren aufgestaut. Die Art und Weise, wie die Regierung die Studentenproteste erst herunterspielen, dann ihr Ende erzwingen wollte, hat zusätzlichen Unmut ausgelöst.
Schon zuvor gab es immer wieder Proteste, zuletzt gegen die gefälschten Parlaments- und Regionalwahlen Ende 2023. „Der Unterschied ist, dass dieser von Studenten angeführte Protest tatsächlich eine breite soziale Bewegung hervorgebracht hat“, erklärt Aleksandar Ivković vom Zentrum für Zeitgenössische Politik in Belgrad.
Noch immer sind sie es, die den Widerstand vor allem tragen. Die Bewegung bleibt bewusst unpolitisch. „Das ist der Hauptgrund, warum die Studenten so erfolgreich waren“, erklärt Ivković. Ihre Forderungen – allen voran Korruptionsbekämpfung, funktionierende Institutionen und Transparenz – vereinen Menschen aller politischen Lager. Von links bis rechts, liberal bis konservativ, arm bis reich.
Vučić Unterstützung nimmt rapide ab, die Regierung ist in die Ecke gedrängt.Srđjan Cvijić, Politikwissenschaftler
Regierung unter Druck
Mitte März fand nun die bisher größte Demo statt, auch sie blieb friedlich. Aus allen Teilen Serbiens sind Gruppen Richtung Belgrad marschiert, teils tagelang. Für den Politikwissenschaftler Srđjan Cvijić, u. a. am Belgrader Zentrum für Sicherheitspolitik tätig, ist die Lage eindeutig: „Vučić Unterstützung nimmt rapide ab, die Regierung ist in die Ecke gedrängt. Sie hat die politische Legitimität verloren.“
Nach internen Umfragen liegt die Zustimmungsrate für Präsident Vučić nur noch bei 33 Prozent, während 55 Prozent ihn ablehnen – so schlechte Werte wie noch nie.
Vučić sah sich daher zu Zugeständnissen gedrängt: Erst ließ er seinen Konstruktionsminister gehen. Als das nicht reichte, kündigte auch noch Ministerpräsident Miloš Vučević seinen Rücktritt an. Er ist jedoch noch im Amt. Vučić will dieser Tage bekanntgeben, wie es weitergehen soll, ob es etwa außerordentliche Parlamentswahlen geben wird. Viel ändern würden diese nicht, solange nicht Vučić selbst zur Disposition steht. Er ist bereits seit 2014 an der Macht: erst als Ministerpräsident, aktuell als Präsident.
Vučić ist bekannt dafür, sich immer wieder geschickt aus politischen Krisen herauszumanövrieren. Diesmal scheint der Bogen aber überspannt, was sich auch an der zunehmenden Nervosität zeigt. Schon vor dem Protest am Samstag drohte Vučić den Demonstrierenden offen. An neuralgischen Punkten in Belgrad wurden Schlägertrupps positioniert, zum Einsatz kam dann aber etwas anderes: offenbar eine Schallwaffe. Sie werden genutzt, um Gegner großflächig außer Gefecht zu setzen. Videos des Vorfalls zeigen, wie eine Menge von ruhigen Menschen während einer Gedenkminute plötzlich in Panik gerät und zur Seite drängt. Nur durch das besonnene Eingreifen des studentischen Sicherheitsdienstes sei eine Massenpanik verhindert worden, sagt Cvijić. Derartige Waffen sind in Serbien wie auch in der EU verboten, Medien zufolge besitzt die Regierung jedoch 17 Stück davon.
Ich erwarte vermehrten zivilen Ungehorsam.Srđjan Cvijić, Politikwissenschaftler
Was nun?
Wie geht es nun weiter? Vučić und sein engster Kreis stehen vor einem Dilemma. Er kann die Proteste nicht niederschlagen – „ihm fehlt die Fähigkeit dazu, der Widerstand ist zu groß geworden“, sagt Cvijić. Gleichzeitig würden weitere Zugeständnisse ihn schwach erscheinen lassen. Seine Basis bröckelt bereits: Umfragen zufolge liegt die Zustimmungsrate für Vučić nur noch bei 33 Prozent, während 55 Prozent ihn ablehnen. So schlechte Werte hatte er noch nie.
Doch auch die Protestbewegung steht an einem heiklen Punkt. Ivković rechnet nicht damit, dass versucht wird, die Mobilisierung vom 15. März zu übertreffen. „Aber ich erwarte vermehrten zivilen Ungehorsam.“ Kürzlich haben Studierende etwa den Rundfunk für 24 Stunden blockiert, nachdem eine Moderatorin die Demonstranten als „Mob“ bezeichnet hatte. Auch Versuche eines Generalstreiks gab es bereits, allerdings mit begrenztem Erfolg, sagt Ivković: „Die Gewerkschaftsführung steht der Regierungspartei nahe, und das schon seit mehr als einem Jahrzehnt.“
Das größte Problem bleibt die fehlende politische Alternative. Die Opposition ist zersplittert und unbeliebt. Die Protestierenden fordern eine Übergangsregierung, deren vorrangige Aufgabe es wäre, die Bedingungen für freie und faire Wahlen zu schaffen. Dies ist derzeit nicht der Fall: Momentan werden fast alle Medien von der Regierung kontrolliert, ebenso alle relevanten Institutionen.
Beide Experten erwarten jedoch, dass sich neue politische Kräfte formieren werden. Experte Ivković vergleicht die Lage mit Ungarn, wo mit Péter Magyar ein neuer starker Oppositionsführer aus dem Nichts auftauchte. Ähnliches dürfte bald auch in Serbien passieren, denn die Nachfrage sei da.
Kaum Kritik aus Brüssel
Auffällig ist die Zurückhaltung der Europäischen Union. Serbien ist immerhin nach wie vor EU-Beitrittskandidat, auch wenn seit Jahren kaum etwas weitergeht. Schon in den letzten Jahren hat die EU bei Verstößen gegen demokratische Grundwerte oft weggesehen und Vučić hofiert – weil ihr Stabilität wichtiger war als Demokratie. Zunehmend spielen auch wirtschaftliche Interessen eine Rolle, etwa beim Lithiumabbau.
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Einfach Politik.
Innenpolitik-Journalist Georg Renner über Österreichs Politiklandschaft.
„Die EU müsste mit einer einzigen Stimme reagieren“, fordert Politologe Cvijić. „Aber letztendlich wird keine externe Kraft die Situation lösen.“ So oder so sei der Wendepunkt bereits erreicht. „Wenn man sich die Geschichte Serbiens ansieht, hat das serbische Volk eine große Toleranz gegenüber autoritären Führern, aber wenn es vorbei ist, ist es vorbei“, sagt Cvijić. „Jetzt ist es so weit.“
Die jungen Menschen, die diese Bewegung anführen, zeigen eine Entschlossenheit, die viele überrascht hat. Sie sind bereit, ihr akademisches Jahr zu opfern. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob ihr friedlicher ziviler Ungehorsam die serbische Führung zum Einlenken zwingen kann.
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Infos und Quellen
Genese
Lange Zeit schien Aleksandar Vučić als unangefochtener Machthaber Serbiens fest im Sattel zu sitzen. Seit einigen Monaten ist dies aber nicht mehr der Fall. Beeindruckt hat unseren Autor vor allem die Energie und Ausdauer der jungen Studierenden, die seit mehr als einem Jahr auf die Straße gehen. Eine neue Qualität erreichten die Proteste dann im November, mittlerweile sind sie größer denn je.
Gesprächspartner:innen
Aleksandar Ivković, Politikwissenschaftler am Zentrum für zeitgenössische Politik in Belgrad
Srđan Cvijić, Politikwissenschaftler u. a. am Belgrade Centre for Security Policy
Daten und Fakten
Am 15. März 2025 fanden in Belgrad die größten Proteste in der Geschichte Serbiens statt, mit bis zu einer halben Million Teilnehmer:innen. Auslöser war der Einsturz eines kürzlich sanierten Bahnhofsdachs in Novi Sad am 1. November 2024, bei dem 15 Menschen ums Leben kamen und der Verdacht auf Korruption aufkam. Die Studierenden blockieren ihre Universitäten seit Monaten – ihre Bewegung fordert Rechtsstaatlichkeit und Transparenz.
Die Protestbewegung bleibt bewusst unpolitisch, was ihr breite Unterstützung aus allen gesellschaftlichen Schichten und politischen Lagern einbringt. Angesichts der fehlenden klaren politischen Alternative fordern viele eine Übergangsregierung, die freie Wahlen ermöglichen soll. Bisher klammert sich Präsident Aleksandar Vučić, der alle Fäden in Serbien zieht, an sein Amt.
Quellen
BBC: Government denies using 'sonic cannon' at Serbia protests
Balkan Insight: Students, Pupils and Citizens March to Serbia’s Capital Ahead of Rally
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
Der Standard: „Aufpumpen für Serbien“ – Hunderttausende fordern Demokratie in Belgrad
Balkan Insight: With Dissent Growing in Serbia, Time is No Longer on Vucic’s Side
Deutsche Welle: Did Serbian authorities use sonic weapons in Belgrade?
Balkan Insight: Brussels Feels Only Relief Over Vucic’s Victory in Serbia
Politico: How the West lost the plot on Serbia