Gehen Österreich die Lehrlinge aus? Eine Analyse der Lehrlingsentwicklung der letzten Jahrzehnte.
War das schon ein erster Hauch von Großer Koalition? Als sich am Dienstag der sozialdemokratische Wirtschaftsverband Wien unter dem Titel „Lehrlingszahlen im freien Fall“ für eine Attraktivierung der Lehre in die Bresche geworfen hat und vorschlägt, zur Attraktivierung etwa Urlaubsgutscheine zu verteilen, fiel die Reaktion aus der türkis dominierten Wirtschaftskammer fast schon freundlich aus: Man solle zwar das Wahlkampfgeplänkel aus einer so wichtigen Frage heraushalten, aber ja, die Lehre sei schon sehr wichtig – und die Situation sei nicht so schlimm.
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Lehrlingsentwicklung
Grund genug, uns ein bisschen näher anzuschauen, ob es diese Krise der Lehre wirklich gibt, die die roten Wirtschaftsvertreter:innen da beschreiben. Die Wirtschaftskammer führt selbst eine Statistik zur Lehre – und weil die Betriebe verpflichtet sind, ihre Lehrlinge bei der Kammer zu melden, ist das eine sehr zuverlässige Quelle. Aus dieser Statistik kommt diese aufschlussreiche Grafik, die die Lage seit 1961 darstellt:
Ihr müsst jetzt nicht ganz reinzoomen, es geht, wie so oft, mehr um den generellen Verlauf der Kurven als um die Detailzahlen jedes Jahres. Die dünne graue Linie oben ist die absolute Zahl der 15- bis 20-Jährigen in Österreich in einem bestimmten Jahr. Und die Balken unten sind die Lehrlinge (aller Lehrjahre, also nicht nur Anfänger:innen) in diesem Jahr.
Und da zeigt sich: Grundsätzlich folgt die Zahl der Lehrlinge ziemlich genau den demographischen Trends in Österreich. Als Mitte der 1970er und Anfang der 1980er die „Babyboomer“-Generation ins Berufsleben alterte, erlebte Österreich seine fünf stärksten Lehrlingsjahre überhaupt (das sind die dunkelroten Balken). Und in den vergangenen Jahren, in denen nun die geburtenschwachen Jahrgänge heranwachsen, erleben wir auch sehr niedrige Lehrlingszahlen. Ja, zunehmend wird jedes Thema ein Demographiethema.
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Das heißt aber nicht, dass die Lehre (vor allem als Alternative zu einem Studium oder einer anderen Ausbildung) immer ganz gleich attraktiv geblieben wäre. Hier ist der Anteil der Lehranfänger:innen an den 15-Jährigen ihres Jahrgangs:
Wir sehen hier im Wesentlichen zwei Phasen der Berufsausbildung: Bis in die 1990er Jahre, als akademische Laufbahnen an Attraktivität zunahmen und sozial durchlässiger wurden, lag der Anteil der Lehrlinge recht konstant um die 45 Prozent – seit 30 Jahren oszilliert er aber nur noch um die 40 Prozent, das aber soweit ebenfalls recht stabil.
Gut dabei im internationalen Vergleich
Im internationalen Vergleich liegen Österreichs Jugendliche damit aber immer noch sehr weit vorne beim Anteil jener, die in einer Lehre sind. Hier im OECD-Vergleich von 2021 liegt Österreich knapp hinter unseren Nachbarstaaten Kroatien und Tschechien im Spitzenfeld:
Verschiebungen hat es allerdings innerhalb der Lehrberufe gegeben: Während sich allein in den vergangenen 20 Jahren die Zahl der Lehrlinge in der Tourismus- und Gastrosparte halbiert hat (2005 waren es dort noch knapp unter 15.000 Lehrlinge, 2023 gerade noch 7000), ist die Zahl der IT-Lehrlinge auf mehr als das Vierfache gestiegen (2005: 1600, 2023: 6600).
Dass das duale System – also die Kombination aus Berufslehre (in der Regel im Unternehmen) und Berufsschule ein Standortvorteil für Österreich ist, ist weithin unumstritten. Aber gehen wir noch einmal zu der ersten Grafik zurück:
Die Generation, die in den fünf stärksten Lehrjahren der österreichischen Geschichte, 1977 bis 1981, ihre Berufsausbildung absolviert hat, geht gerade in Pension. Das heißt, dass es nicht nur bei den nachkommenden Lehrlingen mangels Jugendlicher im Land dünner wird – mit jedem Jahr wird im kommenden Jahrzehnt auch der Bestand gut ausgebildeter Facharbeiter:innen schwinden.
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Infos und Quellen
Genese
Innenpolitik-Journalist Georg Renner erklärt einmal in der Woche in seinem Newsletter die Zusammenhänge der österreichischen Politik. Gründlich, verständlich und bis ins Detail. Der Newsletter erscheint immer am Donnerstag, ihr könnt ihn hier abonnieren. Renner liebt Statistiken und Studien, parlamentarische Anfragebeantwortungen und Ministerratsvorträge, Gesetzes- und Verordnungstexte.