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Mann oder Bär

4 Min
Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine feministische Kolumne zu einem aktuellen politischen Thema für die WZ.
© Illustration: WZ

Ich mag Bären gern. Ihr Name klingt wie mein Spitzname und ich habe sie immer schon um ihren Winterschlaf beneidet. Und im Wald begegne ich ihnen lieber als Männchen der Spezies Homo sapiens. Damit bin ich nicht allein.


Ein Social-Media-Trend, der im englischsprachigen Raum schon länger die Runde macht, ist nun im deutschsprachigen Raum angekommen. Frauen werden von Straßenreporter:innen (oder wie man das Social-Media-Äquivalent von Straßenreporter:innen auch immer nennt) gefragt, wem sie lieber allein im Wald begegnen würden: (a) einem Bären oder (b) einem fremden Mann. Die Antwort ist in aller Regel: Frau würde lieber einem Bären begegnen statt einem männlichen Artgenossen. Eine weitere Variation der Frage ist die an Männer gestellte, ob sie lieber möchten, dass ihre Tochter (a) einem Bären oder (b) einem fremden Mann im Wald begegnet – mit demselben Ergebnis: auch Männer finden, die eigene Tochter sei wohl mit einem Bären sicherer als mit einem fremden Mann.

Ernster Hintergrund

Was oberflächlich betrachtet natürlich nicht ganz ernst gemeint ist, hat durchaus einen ernsten Hintergrund.

Wenn ich von einem Bären attackiert werde, glaubt man mir danach wenigstens.

Auf die Anschlussfrage, warum Frau Bären gegenüber Männern präferiert, wird mit einer Reihe von Begründungen geantwortet, die alle in dieselbe Kerbe schlagen: Wenn ich von einem Bären attackiert werde, glaubt man mir danach wenigstens. Wenn ich von einem Bären attackiert werde, fragt mich niemand, wie ich gekleidet war. Wenn ich von einem Bären attackiert werde, muss ich keine Angst haben, dass der Übergriff gefilmt und dann ins Netz gestellt wird. Wenn ich von einem Bären attackiert werde, wirft mir danach niemand vor, dass ich mich mit erlogenen Behauptungen profilieren will, seinen Ruf ruinieren möchte oder auf Geld aus sei.

Die Beantwortung der Frage verweist also auf den mangelhaften Umgang von Medien, Justiz und Gesellschaft mit weiblichen Opfern männlicher Gewalt.

Wie gefährlich sind Bären?

Die Wahl fällt aber vermutlich nicht nur deshalb auf Bären, weil Opfern nach Bärenattacken eher geglaubt wird als Opfern männlicher Gewalt. Bären sind auch de facto weniger gefährlich als Männer.

Die Fachzeitschrift Nature kam 2019 zum Ergebnis, dass in Europa im Zeitraum von 2000 bis 2015 291 Menschen von Bären angegriffen wurden, 19 davon starben. Das waren also europaweit durchschnittlich 19,4 Angriffe im Jahr, von denen jedes Jahr 1,267 tödlich endeten – männliche und weibliche Opfer zusammengefasst. Geht man davon aus, dass gleich viele Männer und Frauen Opfer von Bären werden und die Zahl deshalb halbiert, ist man bei 0,6335 weiblichen Todesopfern durch Bärenattacken pro Jahr in Europa.

Wie gefährlich sind Männer?

Im Vergleich: Allein zwischen 2010 und 2021 wurden innerhalb der EU schätzungsweise 3.232 Frauen von Männern ermordet, wobei hier für acht EU-Staaten, für Polen, Bulgarien, Dänemark, Luxemburg, Belgien, Portugal, Irland und Rumänien nämlich, gar keine Daten zur Verfügung stehen – man kann also von einer höheren Dunkelziffer ausgehen. Mit den uns zur Verfügung stehenden Zahlen sind es durchschnittlich 293,8 Frauen pro Jahr, die in Europa von Männern ermordet werden. Europäische Männer sind für Frauen also etwa 464-mal so gefährlich wie europäische Bären.

Und Fälle, in denen Bären Frauen vergewaltigt, sexuell belästigt, entführt oder gestalked hätten, sind mir auch keine bekannt. Euch vielleicht?

Der Wunsch, lieber einem Bären zu begegnen als einem Mann, ist also durchaus ein vernünftiger – um das zu erkennen, reicht es, einen kurzen Blick auf die Kriminalstatistik zu werfen.

Nicht alle Männer sind gewalttätig, aber alle Frauen sind betroffen von männlicher Gewalt.

Selbstverständlich hat die Debatte auf Social Media zu sehr viel Aufruhr unter Männern gesorgt: Nicht alle Männer schließlich seien Frauen gegenüber gewalttätig. Aber die Statistik und die Erfahrung vieler Frauen spricht eine sehr klare Sprache: Männer sind für Frauen sehr oft lebensgefährlich, Bären nur sehr selten. Nicht alle Männer sind gewalttätig, aber alle Frauen sind betroffen von männlicher Gewalt. Außerdem, so heißt es, würden Männer Frauen ja auch beschützen.

Die Presse fragt in einem Text zum Thema beispielsweise: „Was wurde eigentlich aus dem Image des Mannes als Beschützer?“ Ich frage zurück: Vor wem soll dieser Mann als Beschützer Frauen denn beschützen? (Vermutlich nicht vor Bären.)

Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Feminismus. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.


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