Welchen Wert hat die AHS-Reifeprüfung heute noch? Wahrscheinlich einen höheren, als den Maturant:innen bewusst ist.
„Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.“ Das berühmte Zitat aus Johann Wolfgang von Goethes „Faust“, der auf Lisas Leseliste stand, beschreibt auch ein bisschen ihr eigenes Gefühl nach der überstandenen AHS-Matura. Und sie steht damit nicht allein da. Viele der jährlich rund 17.000 AHS-Absolvent:innen wissen zunächst einmal nicht, was sie als nächstes tun sollen: Irgendwas studieren – aber was? Oder doch lieber gleich einen Job suchen? Bundesheer und Zivildienst kommen den Burschen hier als Nachdenkpause gerade recht. Denn wer eine Allgemeinbildende Höhere Schule (AHS) absolviert hat, weiß nach zwölf Jahren Bildungsweg über vieles ein bisschen, aber über sehr wenig viel.
- Kennst du schon?: Was kostet das Studium?
Das zeigt auch eine Online-Umfrage von LernQuadrat unter 729 Maturant:innen, laut der sich 60 Prozent im Gymnasium nicht gut auf das Berufs- oder Studienleben vorbereitet fühlen und 70 Prozent die Reifeprüfung in ihrer jetzigen Form für veraltet und modernisierungsbedürftig halten. Insbesondere mangelndes Alltagswissen von finanziellen Themen bis Haushaltsführung wird als Manko angeführt. Fazit: Die AHS-Matura berechtigt dazu, an einer Universität zu inskribieren. Und sonst? Welchen Wert hat sie tatsächlich?
Breite Allgemeinbildung, aber keine Ahnung von der Steuererklärung
„Meine Deutsch- und Englischkenntnisse waren bei der Jobsuche schon relevant“, meint die 27-jährige Susanne im Gespräch mit der WZ. „Und ich finde es grundsätzlich auch gut, diese breite Allgemeinbildung zu bekommen. Aber aufs Leben vorbereitet hat mich die Matura wirklich nicht. Ich konnte danach Extremwerte berechnen oder Erörterungen schreiben, aber vom Steuerausgleich zum Beispiel hatte ich keine Ahnung, das hat mir dann erst mein Freund erklärt.“
Manche Arbeitgeber schauen sich die Betragensnote an.Martin (25), ehemaliger Maturant
Ihre 26-jährige Freundin Klara ist deshalb recht froh, dass sie nicht an einem Gymnasium, sondern an einer HBLA (einer Höheren Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe) maturiert hat, wo sie unter anderem Grundlagen der Buchhaltung gelernt hat. Aber auch dort würde sie vieles von dem, was sie in der Oberstufe gelernt hat, unter „unnötigem Wissen“ einreihen. „Das meiste aus Deutsch, Mathematik oder Biologie werde ich wohl nie wieder brauchen.“ Umgekehrt findet sie im Rückblick durchaus sinnvoll, dass sie etwa in Geografie alle Hauptstädte Europas auswendig lernen musste; die hat sie jetzt immer noch parat. Die Schule hat sie mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen. „Danach hat mich bei der Jobsuche noch nie jemand gefragt, aber ich schreibe es im Lebenslauf einfach dazu, weil es sicher gut kommt.“
Dem 23-jährigen Peter hingegen hat seiner Meinung nach das im Gymnasium erworbene breite Allgemeinwissen auf dem Arbeitsmarkt durchaus geholfen. „Wenn es schon einmal da war, ist es wesentlich leichter, es sich bei Bedarf noch einmal anzueignen, als wenn man bei null beginnen würde.“ Und der zwei Jahre ältere Martin ergänzt: „Die Matura spielt auf jeden Fall eine Rolle – weil man damit nämlich in manchen Jobs besser eingestuft wird. Und manche Arbeitgeber schauen sich zwar nicht das Maturazeugnis an, aber die Betragensnote.“ Aber spätestens mit einem Hochschulabschluss in der Hand interessiert das Maturazeugnis dann tatsächlich niemanden mehr.
Ich achte schon darauf, ob jemand die Matura hat.Personalberater Peter Marsch
Und wie sieht es auf der anderen Seite aus? Welche Rolle spielt die AHS-Matura tatsächlich bei der Jobvergabe? „Ich achte schon darauf, ob jemand die Matura hat. Auf die Noten schaue ich aber nicht“, sagt der Personalberater Peter Marsch auf Nachfrage der WZ. „Ab zehn Jahren Berufserfahrung ist es aber nicht mehr so wichtig.“ Warum ihn das Maturazeugnis interessiert? „Wenn jemand die AHS abgeschlossen hat, dann zeigt das, dass diese Person auch in jungen Jahren eine gewisse Disziplin an den Tag gelegt hat.“
Dem Personalberater Erwin Schmidt ist sogar im Zweifel ein:e Kandidat:in mit AHS-Matura lieber, weil diese von Allgemeinbildung zeugt. „Eine HTL oder eine HAK ist unbestritten etwas Feines, aber mir ist die AHS-Matura durchaus wichtig.“ Die Noten spielen für ihn aber ebenfalls keine Rolle – auch, weil seine eigenen seinerzeit nicht überragend waren, „da kann ich das nicht von jemand anderem verlangen“, meint er schmunzelnd.
Maturanoten als Indikator für persönliche Stärken
Die Personalberaterin Hedi Vécsei hingegen geht die Noten von Jobsuchenden sehr wohl durch. Allerdings nicht im Sinn einer negativen Bewertung, sondern „um vielleicht darin zumindest ansatzweise zu entdecken, wofür jemand mehr oder weniger begabt ist beziehungsweise wo die Interessen liegen“. Grundsätzlich hat das Reifeprüfungszeugnis für sie „dann eine Bedeutung, wenn es keine anderen Erfahrungen und Qualifikationen gibt, an denen man sich orientieren kann. Das ist eben bei so jungen Menschen der Fall.“ Wobei sie als Personalberaterin eher skeptisch ist, wenn jemand gleich nach der AHS-Matura einen Job sucht. „Da frage ich mich tatsächlich, warum er oder sie nicht eine Lehre oder eine berufsbildende Schule gemacht hat. Die AHS-Matura ist im Grunde nicht viel mehr als die Berechtigung zu einem Studium.“ Sie zieht deshalb Absolvent:innen mit spezifischen Schulabschlüssen vor.
Kleiner Trost: Direkt nach der Matura arbeiten gehen wollen laut Umfrage ohnehin nur 16 Prozent; mehr als die Hälfte will studieren. Allerdings: Jede:r fünfte Maturant:in hat tatsächlich keine Ahnung, was als nächstes kommen soll.
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Infos und Quellen
Genese
WZ-Redakteur Mathias Ziegler ging es nach der Matura so wie vielen AHS-Absolvent:innen – nach der bestandenen Reifeprüfung hätte er alles und nichts machen können. Dass er dann bei der Wiener Zeitung gelandet ist, war letztlich ein glücklicher Zufall. Daran musste er denken, als ihm die aktuelle Umfrage von Lernquadrat zur Matura unterkam.
Gesprächspartner:innen
Lisa hat gerade maturiert; bei Martin, Peter Susanne und Veronika ist die Reifeprüfung schon länger her, sie stehen alle inzwischen voll im Berufsleben
Peter Marsch, Geschäftsführer von Jobs Personalberatung
Erwin Schmidt, Geschäftsführer von Aristid Personalberatung
Hedi Vécsei, Geschäftsführender Gesellschafter bei Search Consultants
Daten und Fakten
17.000 bis 18.000 AHS-Schüler:innen jährlich treten zur Matura an, dazu kommen rund 10.000 HTL-Absolvent:innen, jeweils 4.000 bis 5.000 HAK- und HBLA-Maturant:innen, etwas mehr als 2.000 fertig ausgebildete Elementarpädagog:innen sowie jeweils ein paar hundert Absolvent:innen anderer Schultypen. Seit dem Schuljahr 2015/2016 gibt es in Österreich die sogenannte Zentralmatura, also eine standardisierte Reifeprüfung für Allgemeinbildende und Berufsbildende Höhere Schulen (AHS und BHS).
Der Forderung vieler Befragten, die Matura zu modernisieren, kommt das Bildungsministerium gerade nach, zumindest bei der 40.000 bis 60.000 Zeichen umfassenden Vorwissenschaftlichen Arbeit (VWA), die im Jahr 2012 als Vorarbeit zur Matura eingeführt wurde: Schon für das Schuljahr 2024/2025 wurde eine grundlegende Reform https://orf.at/stories/3361802/ angekündigt. Dabei hat die VWA in der Umfrage von Lernquadrat verhältnismäßig gut abgeschnitten: Die meisten Maturant:innen sind sich zwar darin einig, dass sie zusätzlichen Stress in die ohnehin mühsame Maturavorbereitung bringt – trotzdem findet die Mehrheit sie sinnvoll. 82 Prozent meinen, dabei etwas dazugelernt zu haben. „Es war schon angenehm, eine Prüfung weniger zu haben und dafür in einem längeren Prozess die VWA zu schreiben“, sagt auch der einstige Maturant Martin (25) im Rückblick. Er versteht aber das Argument, dass der mögliche Einsatz von ChatGPT – 35 Prozent der Befragten haben KI benutzt – die Bewertung schwierig macht. „Als Vorbereitung auf die Uni war es jedenfalls nicht schlecht“, findet Martin. „Andererseits kann man sich das wissenschaftliche Arbeiten nachher immer noch aneignen.“