Die eigene Familiengründung rückt nach hinten: Töchter ziehen immer später von den Eltern weg.
„Wo gehst du hin?“ „Bis wann bleibst du weg?“ „Und warum gehst du überhaupt fort?“ Kerstin P. kennt diese Fragen in und auswendig. Sobald sie die Kinderzimmertür geöffnet hat, zählt sie auf ihrem Weg zum Haustor regelmäßig die Sekunden, wann die erste Frage kommt. Ihre Eltern werden immer schneller und übertrumpfen einander – Zeit, zu üben, hatten sie ja genug. Denn Kerstin P. ist 24 Jahre alt. Und sie lebt noch immer bei ihren Eltern.
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Kerstin P. ist kein Einzelfall. Ganz im Gegenteil. „Töchter ziehen immer später von zuhause aus“, sagt Familiensoziologin Christine Geserick vom Österreichischen Institut für Familienforschung zur WZ. „Anfang der 2000er-Jahre gab es einen Knick. Seitdem nähern sich die jungen Frauen dem Verhalten der Männer an, und die Geschlechterdifferenzen verschwimmen.“ Die Zahlen der Statistik Austria bestätigen diesen Trend: Lebten 2012 noch 55,2 Prozent der 20- bis 24-jährigen Frauen zuhause bei den Eltern, so waren es im Vorjahr schon rund 58 Prozent. Von den Männern waren es fast 67 Prozent, deren Anteil sank über die Jahre leicht. Zum Vergleich: 1971 waren es 15 Prozent der 24-jährigen Frauen und mehr als doppelt so viele Männer dieses Alters, so die Statistik Austria.
Die sogenannten Erwachsenenmarker hätten sich nach hinten verschoben, sagt Geserick: der Einstieg in den Beruf, Heirat, das erste Kind. Frauen binden sich zwar noch immer generell früher als Männer, 1971 bekamen sie aber schon mit durchschnittlich 27 Jahren Kinder und heute laut Statistik Austria um einiges später, nämlich mit 31 Jahren. Sexualität ist heute abgekoppelt von der Elternschaft, und die junge Generation muss nicht sofort in die Erwerbstätigkeit hinein, ergänzt Entwicklungspsychologin Ulrike Sirsch von der Universität Wien. Dadurch werden die Ausbildungszeiten immer länger – mehr Frauen als Männer haben mittlerweile einen Hochschulabschluss –, und hat man schließlich einen Job, sind die Arbeitsplätze unsicher oder prekär. Wie soll man sich da noch eine eigene Wohnung leisten können?
Wohnen wird unerschwinglich
Gleichzeitig haben sich die Kosten fürs Wohnen massiv erhöht - vor allem seit dem Vorjahr. Im Jahresvergleich stiegen die Preise im Februar zwischen 2022 und 2023 für Haushaltsenergie um 30,5 Prozent an, so die Österreichische Energieagentur. Für die Miete inklusive Betriebskosten musste man innerhalb eines Jahres der Statistik Austria zufolge um rund sechs Prozent mehr bezahlen. Privathaushalte wenden laut dieser bereits „einen wesentlichen Teil ihres Einkommens fürs Wohnen auf“.
Nur maximal ein Drittel der jungen Erwachsenen nutze das „Kinderzimmer für immer" daher im klassischen Sinn, also aus Bequemlichkeit, um den Kühlschrank nicht selbst füllen oder die Wäsche nicht waschen zu müssen, sagt dazu Christiane Wempe, die ebenfalls Entwicklungspsychologin ist. „Bei den anderen ist vor allem das Finanzielle das Problem.“ Auch Kerstin P. schämt sich im Freundeskreis dafür. „Wer noch immer bei den Eltern wohnt, ist ein Loser", sagt sie.
Teil der Jugendkultur
In den 70er-Jahren war das Entfliehen der häuslichen Kontrolle indes Teil der Jugendkultur. Man wollte unabhängig sein, rebellieren, es mit der eigenen Familie anders machen. Mit Beginn der 80er-Jahre stieg das Auszugsalter der Kinder in den USA deutlich an - aufgrund der Verdrängung autoritärer Erziehungsstile und der voranschreitenden Bildungsexpansion, so Wempe.
Vergleicht man Österreich mit anderen Ländern der Europäischen Union, so sind unsere Kinderzimmer allerdings gar nicht so lang belegt. Das durchschnittliche Alter, mit dem Kinder ausziehen, liegt hierzulande bei 25,5 Jahren und damit im unteren Drittel, so die Daten von Eurostat, dem statistischen Amt der EU. Am ältesten sind sie in Montenegro mit 33,3 Jahren, gefolgt von Kroatien und Nord-Mazedonien. Auch an Italien reicht Österreich noch lange nicht heran. Die Schweden verlassen indes bereits mit durchschnittlich 17,5 Jahren die elterliche Wohnung. Auch die Deutschen, Franzosen und Niederländer sind generell jünger.
Wer noch immer bei den Eltern wohnt, ist ein Loser.Kerstin P.
Festgefahrene Familienpolitik
Dieses Nord-Süd-Gefälle habe mit Kultur, finanziellen Aspekten sowie Familienpolitik zu tun, sagt Wirtschaftsforscherin Gudrun Biffl. Kroaten etwa lebten traditionell häufiger zusammen mit Eltern und Großeltern unter einem Dach, und in Italien seien Mietwohnungen besonders rar und teuer: Die meisten Wohnungen gebe es im Eigentum, was sie für viele Junge unleistbar mache. In den Niederlanden wiederum seien Erwachsene verpflichtet, ihre Kinder nur bis Vollendung des 18. Lebensjahres altersadäquat zu finanzieren, sagt Biffl. „Danach geht diese Verantwortung auf den Jugendlichen selbst über."
Und in Österreich? „Hier gibt es folgende Inkonsistenz: Jugendliche können zwar mit 16 wählen, durch steuerliche Begünstigungen und die Familienbeihilfe, die Eltern für Kinder in Ausbildung bis zum 25. Geburtstag erhalten, bleiben sie aber weiterhin vom Elternhaus abhängig." An dieser Grundstruktur der Familienpolitik habe sich seit Jahrzehnten nichts geändert. Um die Selbständigkeit der Jungen zu fördern, müsste die Familienpolitik von Grund auf geändert werden. Sämtliche Beihilfen und Förderungen sollten laut Biffl auch in Österreich direkt an diejenigen ausgezahlt werden, für die sie gedacht sind – also an die jungen Erwachsenen selbst. „Und wer dann noch zuhause lebt, könnte seinen Eltern sogar Geld dafür geben." Um Lösungswege zu finden, müsse verstärkt Jugendforschung betrieben werden, „und zwar auf Bundes- und nicht wie bisher auf Landesebene". Zu wenige Gelder fließen in diese, beklagt Biffl.
Wohngemeinschaft statt Single-Haushalt
Weitere Lösungen könnten in einer Veränderung der Wohnsituation liegen. In einer Wohngemeinschaft statt eines Single- oder maximal Pärchen-Haushalts zum Beispiel. Oder in einem Bauprojekt, das auf genossenschaftlicher Basis die Mieten für junge Wohnungssuchende fördert. In Niederösterreich etwa gibt es seit einigen Jahren eine Förderschiene, über die maximal 60 Quadratmeter in Miete mit bis zu 4.000 Euro für unter 35-Jährige gefördert werden. Auch für junge Wiener:innen gibt es eine Aktion. Ab dem 17. Geburtstag steht ihnen unter bestimmten Voraussetzungen der Weg in eine eigene Wohnung aus dem sozialen Wohnbau offen. Für die Wohnungssuchenden gilt das Angebot aus dem Bestand der Wiener Gemeindebauten sowie dem geförderten Wohnbau.
Freilich gibt es auch Mischformen zwischen Ausziehen und doch noch länger bei den Eltern Bleiben: Söhne, die zwar ausgezogen sind, die Wäsche aber noch immer zuhause vorbeibringen – und dann auch gleich in den Kühlschrank schauen. Oder Töchter, die wie Kerstin P. zuhause leben, aber für sich selbst einkaufen gehen, kochen und Wäsche waschen. Wichtig wäre für Letztere laut Sirsch, dass klar ist, dass das Kinderzimmer der eigene Bereich des Kindes ist. „Die Intimsphäre“, so die Entwicklungspsychologin, „über die man selbst entscheiden kann, wen man – nach dem Anklopfen - hineinlässt.“
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Infos und Quellen
Genese
Unter den Freund:innen der Kinder (19 bis 31 Jahre alt) unserer WZ-Redakteurin Petra Tempfer, also Student:innen, Lehrlinge, Berufseinsteiger:innen und junge Eltern, wurde zuletzt immer wieder thematisiert, dass sie sich das Wohnen nicht leisten könnten. Das war mit ein Grund, warum viele wieder zu den Eltern zurück oder erst gar nicht ausgezogen sind. Sie wohnen also als Erwachsene unfreiwillig noch zuhause - warum das so ist und wie man hier Lösungen finden könnte, hat Petra Tempfer interessiert.
Gesprächspartner:innen
Kerstin P. ist 24 Jahre alt und arbeitet seit drei Jahren als Sekretärin in einem Büro in der Lebensmittelbranche.
Gudrun Biffl ist Wirtschaftsforscherin und war mehr als 30 Jahre lang am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) tätig. Weitere 9 Jahre lang betrieb sie Migrationsforschung an der Donau-Universität Krems. Nun bezeichnet sie sich selbst als Forscherin, unabhängige Beraterin für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, als Vortragende bei Konferenzen, als Teilnehmerin an öffentlichen Diskursen und als Kommentatorin.
Ihre Forschungs- und Beratungsschwerpunkte liegen Biffls Homepage zufolge „in der Migration mit all ihren Facetten, ihrem Beitrag zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gestaltung bei uns und anderswo".Christine Geserick ist Soziologin und seit 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Österreichischen Institut für Familienforschung. Ihrem Magister-Studium der Soziologie, Psychologie und Ethnologie (in Passau, Münster und Alliance, USA) folgte die Promotion an der Universität Wien zum Thema „Au-pair in den USA“. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Lebensentwurf und Individualisierung, weibliche Biografien, Sozialgeschichte der Familie, junge Erwachsene und Sorgearbeit im Familienkontext. Ihr besonderes Interesse gilt der Methodologie qualitativer Forschungsansätze.
Ulrike Sirsch ist Entwicklungspsychologin am Institut für Psychologie der Entwicklung und Bildung der Universität Wien. Ihre Forschungsinteressen sind unter anderen:
In welchem Ausmaß fühlen sich angehende Erwachsene bereits erwachsen?
Wie erleben angehende Erwachsene den Übergang von der Adoleszenz ins Erwachsenenalter?
Welche Kriterien schätzen angehende Erwachsene als notwendig ein, um als erwachsen zu gelten?
Wie erleben Heranwachsende ihre Beziehung zu den Eltern im Übergang ins Erwachsenenalter?
Welche Rolle haben Eltern im Erleben subjektiver Kompetenz auf Seite der Heranwachsenden im Umgang mit Finanzen?
Christiane Wempe ist Diplom-Psychologin und psychologische Psychotherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in eigener Praxis. Seit 1998 ist sie Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in der Sektion Entwicklungspsychologie.
Daten und Fakten
Quellen
Lebensformen:
Gebäralter:
Bildung:
Statistik Austria: mehr Frauen als Männer haben mittlerweile einen Hochschulabschluss
Energiepreise:
Österreichische Energieagentur zu Energiepreisen
Förderungen junges Wohnen: