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Nur die Gedanken lassen sich nicht durchleuchten

4 Min
"Wissen wissen" ist eine Kolumne von Eva Stanzl. Darin ordnet sie aktuelle Themen aus Wissenschaft und Gesundheit ein.
© Illustration: WZ, Bildquellen: Adobe Stock

Vor 130 Jahren wurde die Röntgenstrahlung erfunden. Außer der Gedanken lässt sich damit fast alles im Körperinneren sehen. Die Entdeckung ist einer der größten Meilensteine der Medizin.


Es war eine Revolution. Am 8. November 1895 entdeckte der deutsche Physiker Wilhelm Conrad Röntgen ein Licht, das das Körperinnere sichtbar macht. Elektromagnetische Wellen, die das freie Auge nicht wahrnimmt, durchdringen Materie, wie etwa die Haut, und zeigen die Knochen wie in einem Schattentheater. Damit konnte man in den Körper schauen, ohne ihn aufzuschneiden.

Zunächst aber führte der Zufall Regie. Bei einem Experiment mit Strahlen in einer luftleeren Glasröhre hatte der deutsche Physiker ein unerwartetes Phänomen beobachtet. Obwohl die Röhre von außen abgedunkelt war, bildete sich eine schwarze Linie auf einem lichtempfindlichen Blatt Papier, das in der Nähe lag. Es war aber kein Licht zu sehen, das aus der Röhre austrat. Die rätselhafte Strahlung nannte Röntgen zunächst „X-Strahlen“, weil er nicht wusste, woraus sie bestand. Er erforschte sie in den kommenden Wochen, indem er alle möglichen Gegenstände durchleuchtete und schließlich rauch die linke Hand seiner Frau. Bertha Röntgen musste 20 bis 30 Minuten stillsitzen, bis die Aufnahme, auf der ihre Knochen und ihr Ehering deutlich zu erkennen sind, fertig war. Das Experiment markierte die Geburtsstunde der bildgebenden Diagnostik.

Wien als Keimzelle der Radiologie

Als Röntgen, Professor für Physik an der Universität Würzburg, die Publikation im vollbesetzten Hörsaal seiner Hochschule präsentierte, meinte die Fachwelt, er habe den Verstand verloren. Er informierte daher seinen Studienkollegen, den Wiener Physiker Franz Exner, von seiner Entdeckung. Durch Kontakte der Wiener Wissenschaftler zur Presse ging die Geschichte der wundersamen Strahlen von hier um die Welt. In der Folge entstand in Wien eine Keimzelle der Radiologie. Schon wenig später konnte der Pionier Guido Holzknecht Diagnosen mit Hilfe der neuen Röntgenmethode am Wiener Allgemeinen Krankenhaus erstellen. Nur sechs Jahre später, 1901, erhielt Wilhelm Conrad Röntgen den ersten Nobelpreis für Physik „als Anerkennung des außerordentlichen Verdienstes, das er sich durch die Entdeckung der nach ihm benannten Strahlen erworben hat“.

Röntgendichte Unterwäsche und X-Ray-Vision

In der Gesellschaft setzte gleichermaßen ein Hype ein. Geröntgt wurde, was ging – Knochenbrüche, verschluckte Gegenstände, Holzkisten, Haustiere, Käfer. Auf Partys betrachteten die Leute einander am Durchleuchtungsschirm. „Das hatte auch einen erotischen Aspekt, sodass sogar röntgendichte Unterwäsche entwickelt wurde“, berichtet der Wiener Radiologe Georg Pfarl, Leiter des Diagnosezentrums Hietzing, der WZ. In den USA gab es einen Gesetzesentwurf zu einem Verbot, Operngucker mit Röntgen zu versehen. Und sogar zum Schuhkauf nutzte man das Verfahren, um zu schauen, ob ein Modell auch passte. „Eine Zeitlang waren Schuhgeschäfte, die ein solches Gerät nicht hatten, nicht angesagt. Später fand sich der Hype sogar in Comics wieder, etwa indem Clark Kent als Superman mit X-Ray-Vision durch Gebäude und Gegenstände hindurchschauen konnte“, sagt Pfarl.

„Vergleichbar mit der Erfindung des Rades“

Zugleich entfaltete sich der medizinische Nutzen. Erstmals konnte man die gefährliche Lungenkrankheit Tuberkulose sichtbar machen, was gezielte Therapien ermöglichte. Neben Knochen konnte man Gefäße, innere Organe oder das Verdauungssystem sehen, und damit Gefäßerkrankungen und Krebs erkennen. Die Entdeckung der Röntgenstrahlen ermöglichte eine nicht-invasive Diagnose vom Körperinneren und ebnete auch den Weg für fortschrittliche bildgebende Verfahren. Unter Radiolog:innen ist dieser Meilenstein „vergleichbar mit der Erfindung des Rades“ und der Fortschritt seither „so groß wie die Entwicklung hin zum Elektroauto“, sagt der Wiener Radiologe Gerhard Zier bei einem Besuch seines Diagnosezentrums im Dritten Wiener Gemeindebezirk zur WZ.

Direkter Vergleich zwischen einer frühen Handröntgenaufnahme und einer modernen Handröntgenaufnahme. Die moderne Röntgenaufnahme zeigt detaillierte Knochen und einen Ring an einem Finger.
Röntgenbilder 1895 und 2025: Links die erste Durchleuchtung der Hand von Bertha Röntgen, auf der ihre Knochen und ihr Ehering zu erkennen sind, rechts ein heutiges Röntgen einer Hand mit Ring.
© Bildquellen: Links: Wiki Commons. Rechts: Diagnosehaus Zier

Während Bertha Röntgen für das Bild ihrer Hand mit dem Ring mindestens 20 Minuten stillsitzen musste, dauert heute ein Handröntgen eine Bruchteilsekunde. Die Strahlen durchleuchten als Computer-Tomografie das Gehirn, den Bauchraum und den ganzen Körper binnen etwa einer Minute, und zwar als Schnittbild Scheibe für Scheibe, um detaillierte zweidimensionale oder dreidimensionale Darstellungen zu ermöglichen. Als Mammografie erkennen die X-Rays Brustkrebs, als Dexa-Messung die Knochendichte, erklärt Zier bei unserer Tour durch die Diagnoseräume. „Röntgenstrahlen schwärzen Film. Wo sie absorbiert werden, bleibt der Film weiß – wie die Knochen. Wo das Bild schwarz ist, dort kommen die Strahlen durch. Durchleuchtet wird alles, das eine geringe Dichte hat“, sagt er. Radiologische Räume sind daher hinter dem Wandverputz komplett mit Blei ausgekleidet, damit keine Strahlung den Raum verlässt.

Gefahr von Strahlenschäden?

Wie steht es heute um Strahlenschäden? Den ersten Röntgenolog:innen war diese Gefahr nicht bewusst. Sie erlitten Strahlungsdermatits – das sind Strahlen-Sonnenbrände auf der Haut, die zu Krebs führen Können. Der Wiener Pionier Guido Holzknecht, der von derartigen Schäden betroffen war, entwickelte das erste Strahlenmessgerät, mit dem es gelang, diese zu vermeiden. 1H, also eine HoIzknechteinheit, nannte sich das erste Strahlenmaß, das später in 1 Röntgen umbenannt wurde.

Heute stehen, wie es unter Radiolog:innen heißt, „die Strahlenschäden in keiner Relation zu dem Nutzen“, erläutert Zier. Die Geräte würden immer schneller und besser. „Sie arbeiten mit Strahlenbelastungen, die so gering wie möglich sind, beim bestmöglichen Ergebnis, und die Bild-Detektoren sehen auch immer mehr. Die geringfügige Strahlenbelastung eines Röntgens für den Körper lässt sich heute nicht mehr messen, sondern nur errechnen“, sagt der Radiologe.

Pfarl wiederum versucht es mit einem Vergleich: „Bei einer Vorsorge-Mammografie pro Jahr ist das Krebsrisiko so hoch wie das Trinken einer Flasche Wein innerhalb eines Jahres. Erst wenn man jeden Tag ein CT machen würde, käme man in den Bereich, wo man unter Umständen den Bock zum Gärtner macht, also die Schäden größer sein könnten als der Nutzen.“

Alles ist sichtbar, von Prothesen bis zu Gewehrkugeln

Heute werden radiologische Bilder digital angefertigt. Mittels Schnittbilddiagnostik lässt sich alles bis zu hin Weichteilen und Knorpelveränderungen darstellen. Moderne bildgebende Verfahren bis hin zu Magnetresonanztomografien sind den Röntgenbildern in gewissen Fragestellungen weit überlegen. „Dennoch hat das Röntgen einen ganz hohen Stellenwert, weil es günstig, in der Masse verfügbar und schnell gemacht ist. Es ist nach wie vor so etwas wie das Arbeitspferd der Radiologie“, fasst Pfarl zusammen.

Faszinierend bleibt, was im Röntgenbild alles zu sehen ist. Neben den Knochen sind das die inneren Organe, Geschlechtsteile, Fettgewebe, Gewebeveränderungen, Tumore, Hüftprothesen, Zahnimplantate, Herzschrittmacher und bei Kriminalfällen Gewehrkugeln. Manchmal werden auch alle möglichen Dinge verschluckt. Gibt es im Körper etwas, das man nicht durchleuchten kann? „Die Gedanken“, sagt Gerhard Zier.


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Infos und Quellen

Gesprächspartner:innen

  • Georg Pfarl, Facharzt für Medizinische Radiologie und Diagnostik sowie Eigentümer und Leiter des Diagnosezentrums Hietzing und Spezialist für Brustdiagnostik und Kinder-Radiologie. Zuvor war Georg Pfarl Standortleiter der Abteilung für Radiologie im St. Josef-Krankenhaus in Wien.
  • Gerhard Zier, Facharzt für Medizinische Radiologie und Diagnostik sowie Ärztlicher Leiter und geschäftsführender Gesellschafter der „Diagnosehaus für Schnittbilduntersuchungen GmbH“ mit drei Standorten in Wien. Zuvor war Gerhard Zier Oberarzt im Evangelischen Krankenhaus und stellvertretender Leiter der Radiologie.

Quellen

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