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ÖBB: In der Hölle der Nachhaltigkeit

9 Min
Volle Züge, verstopfte Gänge: Dass sich das Klimaticket so großer Beliebtheit erfreut, hat nicht nur Vorteile.
© Bildquelle: Midjourney

Bahnfahren ist Opfer der eigenen Attraktivität geworden. Ein Lokalaugenschein im Sommer.


„Wir, wir, wir, wir, wir sind heute unterwegs zu dir“, singt der Chorus im ÖBB-Kinderkino und wackelt mit den Köpfen. Ich bin auch unterwegs. Allerdings nicht ganz so gut gelaunt wie die rosa Kuh, die Frösche und die anderen undefinierbaren Figuren, die haarscharf an der Copyright-Verletzung von Fraggles oder Sesamstraße vorbeischrammen.

Ein Unterschied zwischen mir und den Wannabe-Muppets fällt mir sofort auf: Sie sitzen im Auto. Vielleicht erklärt das ihr zur Schau gestelltes Glück. Im Auto wäre ich jetzt auch gern. Aber ich habe die Utopie Klimaticket gekauft. Überall mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hinfahren können. Ich und halb Österreich. Die ÖBB wird von uns umarmt, bis ihr die Luft wegbleibt. Oder uns.

„Wir, wir sind hier bei dir‘“, trällern die Tiere. „Wir Freunde und der A-Be-Ce ---“-„Bär“, ergänzt der ABC-Bär, und es klingt wie ein Rülpser.

Hier sind wirklich „viele bei mir“. Sommer auf der Westbahnstrecke. Die Hölle, das sind die anderen, das wusste schon der französische Philosoph Jean-Paul Sartre.

„Ich kenne meine Rechte?”

Diesmal ist die Nachwuchs-Fraktion des Deutschen Alpenvereins mit an Bord. Frankfurt-Landeck. Keine Reservierung, vierzehn Teenager:innen und ihre Betreuungspersonen wollen in Ruhe Karten spielen. In Deutschland war angeblich eben noch Platz. Kaum ist man in Österreich, schon ist der Waggon überfüllt, selbst am Gang stehen ist schwierig. Den Hinweis der Jungmutter, dass sie hier einen Platz reserviert hat, will der deutsche Manager-Spross nicht so einfach hinnehmen. „Kann ich Ihre Reservierung sehen?“ Er kennt offenbar seine Rechte. Seinen Kolleg:innen ist es immerhin peinlich, dass Frau mit Kleinkind, Tasche und Rucksack sich rechtfertigen müssen. Passt schon, passt schon.

Es ist Montag. Also ein Tag, der nicht so belegt sein sollte. Sollte. Aber es ist Sommer. Die Stimmung ist am Kippen.

Videokonferenz im Kinderbereich

„Mit wem fangen wir an zum Reden für den Sozialplan? …. Na, besser nicht der, der tratscht so viel. Der hat den Vermerk in der Personalakte, bisschen ein Unruhestifter. Den reihen wir nach hinten.“ Auch Entscheidungsträger müssen Zug fahren. Und so hat auch eine Videokonferenz mit ernsten Business-Themen Platz im Kinderbereich. Wenn sonst nirgends mehr Platz ist.

„Bitte niemand einsteigen, der keine Reservierung hat“, tönt es aus den ÖBB-Lautsprechern in St. Pölten. Festivals in Niederösterreich wie das Nova Rock machen den Zug für Außenstehende, die trotzdem mittendrin sind, zu einer Grenzerfahrung. Vielleicht wäre es mit einem Bier wirklich leichter.

„Irgendwie erinnert mich das an was“, sagt die syrische Frau mit einem Augenzwinkern und spielt damit auf ihre Fluchtroute an. Es ist Juli und wir stehen zwischen den Waggons im Niemandsland. Koffer und Taschen verkeilen den Weg. Kind und Kegel dabei. Weiterkommen unmöglich. Das Klo ist kaputt.

Foto der unbenützbaren Toilette mit Wickeltisch im Zug
Kein Klo im Wagen 31.
© Konstanze Walther

Belohnt wird, wer drängelt

Das erwähnte Augenzwinkern fehlt in der Hitzewelle des Augusts. Die Gemüter werden am Bahnsteig schön vorgekocht. Die Angst wird mit Schweiß mariniert. „Hilfe, kann mir jemand helfen?“, schreit eine Mutter. Sie steht mit ihrem Kinderwagen allein da, obwohl gerade vorher noch eine Traube an Menschen sich um den Eingang des Zugs gebildet hatte. Die Züge, inklusive dem Waggon für das Kinderabteil, sind nicht barrierefrei. Pech gehabt. Hätte sie sich vielleicht vordrängeln müssen. Alle anderen haben ja auch schauen müssen, dass sie wo bleiben. Oder eben nicht bleiben, sondern mitfahren.

Verantwortungsdiffusion und ihre Auswirkungen

Verantwortungsdiffusion ist dafür der Begriff aus der Sozialpsychologie. Man geht davon aus, dass, je mehr Menschen anwesend sind, sich irgendjemand anderer darum kümmert. Die ÖBB hat pro Zug nur eine:n Zugbegleiter:in. Die Zeiten, in denen die Schaffner:innen zu zweit waren, sind längst vorbei. Ein Railjet hat aber sieben oder vierzehn Waggons. Das sind vierzehn oder achtundzwanzig Eingänge am Bahngleis und bis zu 500 Reisende pro Zugbegleiter:in. Hauptaufgabe ist die Kontrolle der Tickets. Und auch das ist ein Knochenjob, der die Kontrolleur:innen aufgrund von Aggressionen seitens der Fahrgäste manchmal sogar ins Krankenhaus bringt. Auf Nachfrage heißt es seitens der ÖBB: „Unsere Mitarbeiter waren besonders während Corona stark von Auseinandersetzungen zwischen Fahrgästen betroffen, dies hat sich aber wieder gelegt.“ Man habe jedenfalls genug Personal, um alle geplanten Züge zu fahren.

Für zwischenmenschliche Probleme sind unsere Mitarbeiter nicht verantwortlich.

Abseits von der Ticketkontrolle, helfen die Mitarbeiter:innen gern, „wenn es zeitlich möglich ist“, heißt es von den ÖBB. Für Gepäck sei jede:r Reisende selbst verantwortlich. Und: „Für zwischenmenschliche Probleme sind unsere Mitarbeiter nicht verantwortlich.“ Ab wann ein Zug „zu“ voll ist, lasse sich nicht sagen. Das hänge auch von dem Gepäck ab, stehende Passagier:innen seien kein Problem, solange die Sicherheit des Betriebes gewährleistet ist. Von Zugbegleiter:innen hört man, dass sie ohnedies keinen Hebel haben, um die Personenströme umzulenken. Falls dem Appell des Nicht-Zusteigens nicht nachgekommen wird, dann ist das nun mal so. Es ist ein offenes System. Wer einsteigen will, der kann einsteigen. Österreich sei zu klein, um ein geschlossenes System zu machen – nämlich, dass man mit seinem Ticket nur einen bestimmten Zug nehmen kann. Billigeres Ticket, dafür Holzklasse, so wie es zum Teil in Italien passiert. In Österreich könne man die Menschen nur händeringend einladen, die langsameren D-Züge zu verwenden, die als Entlastung gedacht sind.

Bahnfahren ist trotz allem sexy

Klingt alles wenig attraktiv. Doch es scheint trotzdem im Vergleich noch immer viel attraktiver zu sein als die Alternativen. Denn: Die ÖBB eilen von einem Personenhoch zum nächsten, gerade im Sommer.

„Ganz klar ist es uns auch nicht, was da passiert“, sagt Stefan Marschnig. Er ist Professor für Eisenbahnwesen an der TU Graz und ortet eine neue Entwicklung: nämlich die Spitzen im Sommer. Früher haben die Stoßzeiten nur den Nahverkehr und die Pendler betroffen. Viele Menschen fahren beruflich mit dem Zug – weil sie die Zeit nützen können. Neu ist, dass die Eisenbahn so stark für den Freizeitbereich genutzt wird.

Die ÖBB als Opfer ihres eigenen Erfolgs

Das hat viele Gründe. Klimaticket, Spritpreise und die Zieldestination: Brauche ich dort ein Auto oder gibt es schon genug Infrastruktur? Hier ist die ÖBB in gewisser Weise Opfer ihres eigenen Erfolgs. Die Strecken wurden attraktiver. Während sich in anderen Ländern, etwa in Deutschland, die Sparpolitik der Bundesregierung immer auch auf Infrastrukturprojekte ausgewirkt hat, wurde der Eisenbahn-Ausbau in Österreich nie in Frage gestellt – trotz unzähliger Politiker:innen, die in den vergangenen Jahrzehnten dem Verkehrsministerium vorgestanden sind. Im Fernverkehr sind von 20 Prozent mehr als vor Corona die Rede – 2022 wurden insgesamt 41,6 Millionen Fahrgäste gezählt. Das Klimaticket wurde bis Juli 2023 rund 237.000-mal verkauft.

Es darf unbequem sein

Aber ein bisschen Unbequemlichkeit gehört dazu, meint Marschnig. Auch wenn es unlogisch klingt: „Es ist etwas Positives, wenn die Leute nicht ganz zufrieden sind – wenn der Grund dafür ist, dass die Bahn so viel genutzt wird. Da kann man etwas dagegen tun.“ Was viel schwieriger wäre, wenn die Passagiere richtig unzufrieden wären, weil die Qualität schlecht ist, weil man regelmäßig zu spät kommt, weil alles dreckig ist, „so wie es vielleicht vor 30 Jahren noch der Fall war“. Dass man jetzt einen besseren Standard gewöhnt sei, ist eigentlich eine Errungenschaft der Bahn und den vielen Investitionen.

Neue Züge wären schon bestellt. Lieferverzögerungen wegen der Pandemie sind einfach Pech. Die nächsten – dann doppelstöckigen – Railjet-Garnituren kommen aber „erst“ 2026. Dafür sind die dann barrierefrei. Knapp 19 Prozent mehr Reisende haben darin Platz. Drei Jahre sind ein Wimpernschlag im Planungshorizont bei Eisenbahnen. Aber eine Ewigkeit, wenn man so lange stehen muss.

Anreize für Nebenverkehrszeiten?

Offiziell schreiben die ÖBB von einer Auslastung von 70 Prozent. Aber da werden auch die halbleeren D-Züge ohne Internet dazugezählt, sowie die Züge, die zu unattraktiven Zeiten fahren. Also etwa Pendler eben erst um halb zehn statt um halb neun an ihren Zielort bringen. Hier könnte kurzfristig eine Lösung sein, dass nicht alle Beschäftigten einer Region zur selben Zeit mit ihrer Arbeit beginnen müssen, meint Michael Schwendinger, Experte für Öffentlichen Verkehr beim Verkehrsclub Österreich (VCÖ). Er sieht Luft nach oben, wenn es um das Management der Auslastung geht. Auch könnten die ÖBB über Anreize nachdenken, um die Züge der Nebenverkehrszeiten attraktiver zu machen. Sei es über eine vergünstigte Reservierung oder einen gratis Kaffee. Auch die App könnte zukünftig etwas genauer gemacht werden – dass etwa nicht nur der Satz: „starker Reisetag, Reservierung empfohlen“ aufscheint, sondern „diese Verbindung ist schon zu xy-Prozent ausreserviert“.

Voll ist gut

Marschnig und Schwendinger sind sich aber in einem Punkt einig: „Volle Züge sind prinzipiell eine gute Sache“, sagt Schwendinger. Zum einen ist betriebswirtschaftlich eine höhere Auslastung immer begrüßenswert und rechtfertigt im Gegenzug den weiteren Ausbau. Zum anderen verbessert sich die CO2-Bilanz, je mehr Menschen aufs Auto verzichten. „In einem Zug mit zwei Leuten habe ich ja nicht den guten Fußabdruck, sondern da muss ich Leute drinnen hab“, erklärt Marschnig. Für eine Einzelperson ist die Rechnung übrigens: Eine Strecke Wien-Mödling per Auto hat den gleichen CO2-Ausstoß wie die Strecke Wien-Salzburg per Bahn. In einem Auto sitzen im österreichischen Durchschnitt 1,2 Personen. In einer Zugsgarnitur, selbst wenn sie halb leer ist, deutlich mehr.

Bahnfahren ist nachhaltiger. Aber wieviel Komfort-Einbußen sind wir bereit, hinzunehmen? „Natürlich nervt es zum Teil, mit der Bahn zu fahren“, gibt auch Bahn-Fan Marschnig zu. „Das darf durchaus sein. Ich habe auch meine Erfahrungen mit Verspätungen, oder dass ich den Anschluss nicht erwische. Aber dieses Risiko bringt eine Reise mit sich. Da kann immer viel schief gehen. Auch, wenn ich mit dem Auto gefahren wäre.“

Man hat zumindest mehr zum Erzählen, wenn die getane Reise nicht reibungslos verlaufen ist.


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Infos und Quellen

Genese

WZ-Redakteurin Konstanze Walther ist stolze Klimaticket-Besitzerin der ersten Stunde und beruflich sowie privat oft mit der Eisenbahn unterwegs. Die Verteilungskämpfe auf der Weststrecke haben für sie im Sommer 2023 allerdings eine neue Dimension erreicht.

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