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Stehen wir vor der Deglobalisierung?

4 Min
Der Ruf nach einer regionaleren Wirtschaft wurde zuletzt lauter.
© Illustration: WZ

Nach Jahrzehnten des Booms und kurzen Krisen verlangsamt sich das Wachstum des Welthandels. Kommt jetzt die Trendwende?


Kleidung aus den USA, Elektrogeräte aus China und tropische Früchte aus Costa Rica: Welche Produkte wir kaufen und welche Lebensmittel wir zu uns nehmen, ist seit einigen Jahrzehnten von einem Phänomen geprägt: Globalisierung. Die Covid-Pandemie, der Krieg in der Ukraine und damit verbundene Lieferkettenprobleme haben jedoch die Kritik am internationalen Handel verstärkt. Befinden wir uns jetzt schon in der Deglobalisierung, und was bedeutet diese Entwicklung für Österreich?

Reden wir über Globalisierung, dann sprechen wir in erster Linie über den weltweiten Anstieg der Warenexporte, der vor allem seit dem Ende des Kalten Kriegs Anfang der 1990er-Jahre zu beobachten ist. Die Produktion und der Import und Export von Waren über Landesgrenzen hinaus wurde durch Staatengemeinschaften wie die Europäische Union und internationale Handelsabkommen, die Importe und Exporte zwischen Wirtschaftsregionen erleichtern, vorangetrieben. Der Nebeneffekt: Die multinationalen Wertschöpfungsketten, etwa bei der Herstellung von Elektrogeräten oder Fahrzeugen, bedeuten nicht nur günstigere Produktion, sondern auch mehr Abhängigkeit von anderen Ländern. Nicht zuletzt verursacht der Transport der Waren über Länder und Kontinente Emissionen und lässt sich nicht mit den Klimazielen vereinbaren. Mit langen Lieferzeiten und steigenden Energiepreisen haben wir die negativen Seiten der Globalisierung in den vergangenen drei Jahren persönlich zu spüren bekommen. Und deshalb wurde der Ruf nach einer regionaleren Wirtschaft lauter. Das neue Lieferkettengesetz der EU verlangt von den Unternehmen mehr Transparenz und Verantwortung bei der Herstellung von Waren. Deshalb setzen immer mehr Unternehmen auf das sogenannte Nearshoring oder Friendshoring. Das Verlagern der Produktion in geografisch näher gelegene Länder wird als Nearshoring bezeichnet, Friendshoring wiederum sind Handelsbeziehungen zwischen Ländern mit ähnlicher politischer Einstellung. So will zum Beispiel der US-amerikanische Halbleiterhersteller Intel in Deutschland rund 30 Milliarden Euro in den Aufbau einer Halbleiterproduktion investieren. Derzeit ist die Chip-Branche stark von Asien abhängig.

Wie machen sich diese Entwicklungen in Zahlen bemerkbar? Nach einem Einbruch im Jahr 2020 erreichte der Welthandel im folgenden Jahr laut Statistik der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) ein Rekordhoch von 28,5 Billionen US-Dollar. Diese Summe umfasst den Warenwert aller Güter, die weltweit gehandelt werden. Vergangenes Jahr stieg das Volumen auf 32 Billionen US-Dollar, wobei das Wachstum in der zweiten Jahreshälfte zurückging. Auch für das aktuelle Jahr rechnet die Organisation mit einer schwächeren Entwicklung des Welthandels. Die UNCTAD zeigt in ihrer jüngsten Prognose außerdem auf, dass Friendshoring zunimmt, die Abhängigkeit von China nimmt hingegen ab. In Österreich erwartet die Wirtschaftskammer für 2023 aufgrund der geopolitischen Herausforderungen und der steigenden Zinsen nur leichte Zuwächse beim Außenhandel.

Die Komplexität der Lieferketten ist zentrales Forschungsthema des Supply Chain Intelligence Institute Austria (ASCII), das im März seine Arbeit aufgenommen hat. Dessen Direktor Peter Klimek warnt beim Thema Friendshoring: „Wer Friend ist, kann sich sehr schnell ändern. Bis vor wenigen Jahren war Russland unser Freund in der Energieversorgung.“ Der Forscher sieht zwar noch keine klare Deglobalisierung, spricht aber von einer „Slowbalization“, also einer verlangsamten Globalisierung: „Insgesamt hat sich der Trend zur Globalisierung im weltweiten Handel im Grunde schon seit der Finanzkrise verlangsamt. Hinzu kommt verstärkter Protektionismus in vielen Ländern mitsamt Handelsschranken.“ Damit gemeint sind zum Beispiel die USA und China, die ihre heimische Wirtschaft durch Beschränkungen für den Außenhandel stärken wollen. Einen Gegentrend nimmt Klimek bei einzelnen Branchen wahr, wenn die Preisspannen zu gering oder die Produktion komplex sind, sodass sich die Produktion nur mehr in wenigen Ländern auszahlt – etwa bei Antibiotika oder Halbleitern.

Theresa Kofler, Expertin bei der globalisierungskritischen Organisation Attac, spricht ebenfalls noch von keiner Deglobalisierung, beobachtet aber erste Schritte zu einer Umgestaltung der internationalen Abhängigkeiten: „Im Vergleich zu den 90ern und frühen 2000ern wird die globale Wirtschaft heute weniger hemmungslos liberalisiert. Das ist durchaus positiv, denn schrankenloser Handel und Kapitalströme führen zu massiven sozialen und ökologischen Verwerfungen, die eben kein gutes Leben für alle Menschen garantieren.“ Obwohl derzeit viel von regionaler und krisensicherer Wertschöpfung gesprochen wird, treibe die EU die Globalisierung über zahlreiche Handelsabkommen weiter voran, betont Kofler.

Eine gewisse strategische Unabhängigkeit bei Nahrungsmitteln sowie bei der medizinischen Versorgung wäre durchaus sinnvoll. Freiheit kostet eben auch etwas.
Stefan Thurner

Eine weniger globale Wirtschaft für Österreich würde auch weniger Effizienz bedeuten, erklärt Stefan Thurner, Präsident des Complexity Science Hub. Ein effizientes Wirtschaftssystem mit billigen Arbeitskräften und geringen Lagerbeständen sei risikoanfällig, weshalb Lieferketten zusammenbrechen können. Dann sind bestimmte Waren nicht mehr verfügbar. Das könnte laut Thurner zu Mehrkosten führen, die etwa durch die öffentliche Hand gestützt oder durch Zölle abgefedert werden müssten: „Eine gewisse strategische Unabhängigkeit bei Nahrungsmitteln sowie bei der medizinischen Versorgung wäre durchaus sinnvoll. Freiheit kostet eben auch etwas.“

Ob Deglobalisierung oder Nearshoring, ASCII-Direktor Klimek sieht jedenfalls Handlungsbedarf: „Nachhaltigeres Produzieren bei Erhalt oder Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit ist die Herausforderung unserer Zeit und nur lösbar mit einer grundlegenden Umstrukturierung unserer Wertschöpfungs- und Produktionsnetzwerke.“ Für Attac-Expertin Kofler heißt Deglobalisierung in erster Linie Regionalisierung: „Die Menschen in Österreich würden durch mehr gute Arbeitsplätze profitieren, von fair gestalteten Preisen und von einer Wirtschaft im Rahmen der planetaren Grenzen.“


Elisabeth Oberndorfer schreibt jede Woche eine Kolumne zum Thema Ökonomie. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.


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Infos und Quellen

Genese

Eine mögliche Deglobalisierung war eine zentrale Frage des World Economic Forums in Davos im Jänner 2023. Die Krisen der jüngeren Vergangenheit sorgen für eine verstärkte Diskussion um weniger Abhängigkeit von Großmächten, nachhaltigere Lieferketten und regionale Produktion. Deshalb gingen wir der Frage nach, ob ein Ende der Globalisierung tatsächlich absehbar ist.

Gesprächspartner:innen

  • Stefan Thurner, Präsident des Complexity Science Hub (CSH)

  • Peter Klimek, Direktor des Supply Chain Intelligence Institute Austria (ASCII) und Forscher am CSH

  • Theresa Kofler, Expertin für Handelspolitik bei Attac

Daten und Fakten

  • Der globale Handel brach im ersten Pandemiejahr ein, erholte sich aber in den vergangenen zwei Jahren.

  • Internationale Organisationen prognostizieren für dieses Jahr ein langsameres Wachstum und einen Trend zum Nearshoring.

  • In Österreich stieg der Wert der Importe 2022 um 19,8 Prozent im Vergleich zum Jahr davor, die Exporte um 17,2 Prozent.

  • Auch in Österreich gehen die Prognosen heuer von einem langsameren Wachstum aus.

  • Zu den wichtigsten Handelspartnern Österreichs zählen die unmittelbaren Nachbarländer, vor allem Deutschland.

Quellen

UNCTAD Global Trade Update June 2023

Eurostat: Globalisation patterns in EU trade and investment 2022

WTO Global Trade Outlook April 2023

WKO: Österreichs Außenhandelsstatistik

Bundeszentrale für politische Bildung: Entwicklung des grenzüberschreitenden Welthandels

Das Thema in anderen Medien

"Die Presse": Sehnsucht nach freiem Handel mit Freunden

"FAZ": Klares Ja zum Lieferkettengesetz