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„Palästinensisches Leben wird nicht mitgedacht“

8 Min
Ist eine israelisch-palästinensische Versöhnung überhaupt noch möglich?
© Illustration: WZ, Bildquelle: Adobe Stock

Zwei Perspektiven zu Gaza: Der israelische Historiker Ehud Krinis und der palästinensische Autor Yousef Aljamal.


    • Der Palästinenser Yousef Aljamal und der Israeli Ehud Krinis kritisieren beide das Vorgehen Israels gegen die palästinensische Bevölkerung.
    • Der Einfluss der USA gilt als entscheidend, während Europa und seine Sanktionen kurzfristig wenig bewirken können.
    • Der anhaltende Krieg in Gaza, die israelische Besatzung in den Palästinensergebieten und der Niedergang der israelischen Demokratie werden als zentrale Probleme benannt.
    • 70 % der Menschen in Gaza sind Geflüchtete
    • 90 % von Gaza sind zerstört
    • Mehrheit der Israelis unterstützt Transferpolitik
    • USA sind einziger Staat mit Einfluss auf Israel
    Mehr dazu in den Infos & Quellen

Wie kann der Krieg in Gaza beendet werden – und was hält Europa davon ab, zu handeln? Der palästinensische Autor Yousef Aljamal und der israelische Historiker Ehud Krinis sprechen über Gewalt, politische Narrative und das Ende der israelischen Demokratie. Aus organisatorischen Gründen wurden die Interviewpartner getrennt voneinander zu denselben Themen befragt.

WZ | Markus Schauta
Bei der UN-Versammlung haben mehrere Staaten Palästina anerkannt. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zeigt sich von all dem nicht beeindruckt. Was müsste passieren, damit er einlenkt?
Yousef Aljamal
Es braucht harte Sanktionen. Die symbolische Anerkennung Palästinas wird den Genozid nicht stoppen – und auch nicht die ethnische Säuberung in der Westbank (Westjordanland, Anm.) beenden. Manche Staaten wie Österreich und Deutschland fühlen sich historisch für den Holocaust verantwortlich und zögern daher. Aber: Ein Unrecht rechtfertigt kein anderes; wer den Holocaust verurteilt, darf das aktuelle Leid nicht dulden.
Ehud Krinis
Kurzfristig werden selbst Sanktionen keine Auswirkungen haben. Der einzige Staat, der Einfluss auf Netanjahu hat, sind die USA – und die werden nichts tun, um ihn zu stoppen. Kurzfristig kann Europa daher nichts Wirksames ausrichten. Dennoch sollte Europa handeln. Wenn Staaten überhaupt eine moralische Verpflichtung haben, dann hier – Untätigkeit ist keine Option.
WZ | Markus Schauta
Herr Aljamal, in einem Interview sprachen Sie von israelischen und westlichen Narrativen, die Palästinenser:innen entmenschlichen. Was genau meinen Sie damit?
Yousef Aljamal
Palästinenser kommen in der Berichterstattung über Gaza kaum vor. Und wenn doch, dann meist als Zahlen. Ihre Namen und Lebensgeschichten erfährt man nicht. Liest man von getöteten Israelis – etwa von einem Soldaten, der in Gaza gefallen ist, oder von sechs Zivilisten, die im September in Jerusalem erschossen wurden –, dann stehen ihre Namen in der Zeitung. Wenn aber am selben Tag dutzende Palästinenser in Gaza getötet werden, bleiben sie namenlos, ohne Identität. Das ist Teil der systematischen Entmenschlichung – und die Medien spielen dabei eine zentrale Rolle. Das muss sich ändern. Palästinenser sind Menschen; sie haben Familien, Hoffnungen, Träume und verdienen die gleiche Sichtbarkeit wie israelische Opfer. Doch ich sehe auch Veränderungen – in der westlichen Berichterstattung wie in der öffentlichen Meinung. Die Menschen sehen sehr genau, was in Gaza passiert, auch wenn sie es nicht aus den Medien erfahren. Sie finden eigene Wege, sich zu informieren. Die Welt schaut also nach Gaza, und das hat Konsequenzen für Israel.
Die Mehrheit interessiert sich nicht für das Schicksal der Palästinenser.
Ehud Krinis, israelischer Historiker
WZ | Markus Schauta
Herr Krinis, erkennen Sie diese entmenschlichenden Narrative zu Gaza ebenfalls?
Ehud Krinis
Ja – aber die Frage ist, wie sie entmenschlicht werden. Die Narrative sind nicht neu und reichen mindestens bis zum Scheitern des Oslo-Prozesses Anfang der 2000er-Jahre zurück. Damals setzte sich ein Narrativ durch: Israel habe keinen Verhandlungspartner auf palästinensischer Seite. Palästinenser wollten, so hieß es, Israel ins Meer treiben. Sie würden die Existenz eines jüdischen Staates grundsätzlich nicht akzeptieren.Entmenschlichung zeigt sich in Israel vorwiegend im Desinteresse. Palästinensisches Leben zählt nicht, es wird nicht mitgedacht, nicht berücksichtigt. Palästinenser gelten zwar als Menschen – aber als Feinde, die durch ihre reine Existenz israelisches Leben bedrohen. Und als solche werden sie letztlich nicht als Leben wahrgenommen, das zählt.
WZ | Markus Schauta
In welchem Maße prägt die Holocaust-Erinnerung diese Narrative?
Ehud Krinis
Meine Mutter war Auschwitz-Überlebende. Ihre Familie – Eltern, Großeltern – wurde ermordet. Für mich – wie für viele Israelis – ist der Holocaust etwas sehr Persönliches, sehr Gegenwärtiges. Für die meisten Israelis gilt das nicht mehr im gleichen Maß. Die emotionale Nähe zum Holocaust fehlt, zumindest auf der persönlichen Ebene. Dadurch sind sie anfälliger für politische Instrumentalisierung. Netanjahu versteht es meisterhaft, die Erinnerung an die Shoah für seine Zwecke zu nutzen. Hinzu kommt ein tief verankerter Impuls: Nie wieder hilflos abgeschlachtet werden, wie es unseren Eltern oder Großeltern geschah. Dahinter steht ein Weltbild, das viele teilen: Die Welt ist ein Dschungel, in dem nur der Stärkere überlebt. Wer schwach ist, wird vernichtet. Wer Gnade zeigt, verliert. Diese Logik ist in der israelischen Gesellschaft tief verankert und prägt die Sicht auf die Palästinenser.
WZ | Markus Schauta
Unterstützt die Mehrheit der Israelis Netanjahus Vorgehen in Gaza?
Ehud Krinis
Die Mehrheit der Israelis interessiert sich nicht für das Schicksal der Palästinenser – sie betrachtet sie als existenzielle Bedrohung. Die Frage ist nur, wie mit dieser Bedrohung umzugehen sei. Eine Mehrheit unterstützt dabei die sogenannte Transferpolitik (die Idee einer Ausweisung der palästinensischen Bevölkerung in arabische Länder, Anm.). Nur eine kleine Minderheit lehnt die Maßnahmen der Regierung aktiv ab. Was die Geiseln betrifft: Es gibt eine relevante Minderheit, die den Kurs der Regierung in Gaza ablehnt – aber nicht aus Solidarität mit den Palästinensern, sondern aus Sorge um die Sicherheit der Geiseln.
Der Genozid muss enden, bevor über die Zukunft geredet werden kann.
Yousef Aljamal, in Gaza geborener palästinensischer Autor
WZ | Markus Schauta
Das Ziel der Hamas war lange Zeit die Zerstörung Israels. Das lässt sich nicht ignorieren . . .
Yousef Aljamal
In Gaza ist die Hamas weitgehend zerschlagen. Israel kann also nicht länger behaupten, es gebe keinen Frieden wegen der Hamas. Dasselbe gilt für die Westbank, die nicht von der Hamas kontrolliert wird. Dennoch ist auch dort die Annexion längst in Vorbereitung. Der Kern des Konflikts liegt in der Vertreibung von 1948 (im Zuge der Gründung des Staates Israel, Anm.), die das größte Flüchtlingsproblem der Region hervorrief. Bis heute ist die zentrale Frage daher eine Flüchtlingsfrage. 70 Prozent der Menschen in Gaza sind Geflüchtete. Das war schon vor der Gründung der Hamas so – und ist es bis heute.
WZ | Markus Schauta
Welche Friedenslösung gibt es für Gaza? Und wie könnte es danach weitergehen?
Yousef Aljamal
Das Monopol der USA auf den sogenannten Friedensprozess ist gescheitert. Sie haben Israel durchgehend unterstützt – und damit diesen Genozid erst ermöglicht. Künftig braucht es eine breitere Beteiligung durch regionale und globale Akteure, die sicherstellen, dass Palästinenser in Gaza nicht vertrieben und nicht in andere Länder abgedrängt werden. Über den Tag danach zu sprechen, ist verfrüht – reden wir lieber vom Heute. Täglich lesen wir von dutzenden Toten, von weiteren zerstörten Häusern. Der Genozid muss enden, bevor über die Zukunft geredet werden kann. Doch das Problem liegt nicht nur in Gaza. Auch in der Westbank fehlt den Palästinensern jedes Recht auf Selbstbestimmung. Nach Jahrzehnten militärischer Besatzung muss ihnen endlich Freiheit gewährt werden. Sonst wird sich das, was in Gaza geschieht, wiederholen, und die Brandherde weiten sich aus.
Ehud Krinis
Es hat wenig Sinn, jetzt über Lösungen nachzudenken. In einer so drastischen Lage ist das eine Illusion. Man will nur, dass es etwas weniger drastisch wird – nicht Lösungen entwickeln, sondern das Überleben erträglicher machen. Natürlich brauchen Menschen das Gefühl, es gäbe Lösungen. Doch oft liegen sie in weiter Ferne. Nicht, dass sie nicht existieren – aber politisch ist es im Moment sinnlos, über sie zu meditieren.
Der Schlüssel liegt bei den USA.
Ehud Krinis, israelischer Historiker
WZ | Markus Schauta
Das klingt sehr pessimistisch. Sehen Sie Möglichkeiten, die Lage zumindest zu deeskalieren?
Ehud Krinis
Wie gesagt: Der Schlüssel liegt bei den USA. Sie sind alles andere als neutral – aber die einzige Weltmacht, von der Israel abhängig ist. Und die einzige, die Israel von seinen katastrophalen Plänen abbringen könnte. Doch es ist kaum zu erwarten, dass Washington diesen Schritt wagt.
WZ | Markus Schauta
Wenn Sie sich vorstellen, dass die nächste Generation Geschichtsbücher über den heutigen Krieg schreibt – was wird darin zu lesen sein
Ehud Krinis
Sie werden die Ereignisse wohl in einem größeren Kontext darstellen. Es geht ja nicht nur um die extreme Situation der fortgesetzten Besatzung, sondern auch um den Niedergang der israelischen Demokratie infolge dieser Besatzung. Als Historiker blicke ich auf Prozesse, und die sind eindeutig: ein stetiger Verfall als Folge jahrzehntelanger Besatzung, die auch eine bestimmte Mentalität hervorgebracht hat. Derzeit gibt es weder in der israelischen Gesellschaft noch in der internationalen Gemeinschaft Kräfte, die diesen Prozess jetzt oder in absehbarer Zukunft aufhalten könnten.
Vor unseren Augen wird Geschichte ausgelöscht.
Yousef Aljamal, palästinensischer Autor
WZ | Markus Schauta
Woran machen Sie den Niedergang der israelischen Demokratie konkret fest?
Ehud Krinis
Der Staat verliert seine Ordnung. Polizei und Armee agieren in der Westbank wie Milizen. Soldaten beteiligen sich an den Überfällen der Siedler auf palästinensische Dörfer, vertreiben und verprügeln die Bewohner, stehlen ihr Geld. Die Armeeführung hat aufgehört, Soldaten für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Ähnlich die Polizei, die unter dem Minister für die Nationale Sicherheit Israels, Itamar Ben-Gvir, ihre Pflicht, das Gesetz gegenüber den Siedlern durchzusetzen, völlig aufgegeben hat. Sowohl Armee als auch Polizei lassen den Siedlern freie Hand und ermöglichen ihnen damit, fast alles zu tun, was sie wollen.Wirtschaftliche Korruption kommt hinzu. Alles greift ineinander. Es ist ein schrittweiser Niedergang. Israel wird nicht morgen oder in fünf Jahren zusammenbrechen. Aber der Prozess ist eindeutig. Wenn man Millionen Menschen über Generationen entrechtet und hunderttausende, vielleicht Millionen Israelis selbst Teil dieser Maschinerie sind, indem sie Besatzung und Unterdrückung aktiv mittragen, dann prägt das den gesamten Staat.
Yousef Aljamal
Ich weiß nicht, welche Geschichtsbücher einmal über diesen Genozid geschrieben werden. Aber sicher ist: Wer Zivilisten geschädigt hat, wird sein Leben lang geächtet bleiben. Seit zwei Jahren werden zehntausende Palästinenser getötet, hunderttausende verletzt, 90 Prozent von Gaza sind zerstört. Vor unseren Augen wird Geschichte ausgelöscht. Und zugleich verkünden israelische Politiker, dass sie die Kriegsverbrechen in Gaza fortsetzen wollen. Palästinenser wollen keine Museen, die ihren Namen tragen, sie wollen nicht in Geschichtsbüchern erinnert werden. Sie wollen jetzt leben – gerettet werden, bevor es zu spät ist.

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Infos und Quellen

Genese

Die Suche nach gesprächsbereiten Interviewpartner:innen gestaltete sich deutlich schwieriger als vom Autor zunächst angenommen. Auf palästinensischer Seite erhielt er vier Absagen, bevor Yousef Aljamal zusagte. Auf israelischer Seite gab es eine überraschende Absage von einem Aktivisten, der üblicherweise gerne und viele Interviews gibt. Er gebe zurzeit gar keine Interviews mehr, schrieb er.

Gesprächspartner

  • Yousef Aljamal ist ein palästinensischer Autor. Er wurde in Gaza geboren und lebt derzeit in der Türkei. Aljamal ist Gaza-Koordinator des Palestine Activism Program beim American Friends Service Committee (AFSC).
  • Ehud Krinis ist israelischer Historiker. Sein Forschungsinteresse gilt den Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen zwischen Judentum und mittelalterlichem Islam.

Daten und Fakten

Nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 begann Israel eine großangelegte Offensive in Gaza. Anfangs galt der Militärschlag als legitime Selbstverteidigung und fand breite internationale Unterstützung. Mit den anhaltenden Bombardierungen, der hohen Zahl ziviler Opfer und der massiven Zerstörung hat sich das Bild jedoch gewandelt: Immer mehr Staaten und Organisationen sprechen von Kriegsverbrechen, manche sogar von Völkermord.

Der von Ehud Krinis angesprochene Oslo-Friedensprozess umfasste ab 1993 eine Reihe von Abkommen zwischen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und Israel. Die ersten Verhandlungen fanden geheim unter norwegischer Vermittlung in Oslo statt. Von diesem Friedensprozess ist heute wenig übrig geblieben. Die Fatah, die in der PLO die stärkste Fraktion ist, kontrolliert das Westjordanland, ist aber in Gaza abgemeldet und mit der Hamas verfeindet. Zum israelisch-palästinensischen Konflikt kommt also auch noch ein innerpalästinensischer Konflikt.

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