Kritzeleien auf Wahlplakaten sind Botschaften junger Wähler:innen an die Politik. Der Graffiti-Forscher Norbert Siegl hat sie analysiert.
„Wann Bubatz legal?", fragt Bundeskanzler Karl Nehammer von der ÖVP. Also nicht wirklich: Der Satz steht in einem Rauchwölkchen eines Joints, der auf einem Wahlplakat über seinen Mund gestickert worden ist. Ein anderes zeigt ihn mit dem Schriftzug „Pension 67 Nein Danke" auf der Stirn, und auf einem weiteren wurde „Lüge" über den ÖVP-Slogan „Die Mitte stärken" gesprayt.
- Für dich interessant: Was machen eigentlich Koalitionsverhandler:innen?
„Der Bundeskanzler ist die Zielscheibe für alles“, sagt dazu der Wiener Psychologe und Graffiti-Forscher Norbert Siegl, der seit Jahrzehnten die Kritzeleien, Sticker und Graffiti auf Österreichs Wahlplakaten analysiert, zur WZ. Bei jenen für die heurige Nationalratswahl am 29. September sei ihm besonders aufgefallen: „Ganz am Anfang, schon etwa fünf Wochen vor der Wahl, wurden 80 Prozent der ÖVP- und der FPÖ-Plakate wieder abgerissen", sagt er, „das waren so auffällig viele, wie es mir noch nie davor untergekommen ist."
Polarisierung bei ÖVP und FPÖ
Das spiegelt eine gewisse Polarisierung bei diesen beiden Parteien wider. Beim Slogan „Euer Wille geschehe" der FPÖ zum Beispiel ist das Wort „Euer" durchgesprayt – stattdessen ist hier „Putins Wille geschehe" zu lesen. Die deutliche Warnung „Keinen Ex-Minister wählen" prangt ebenfalls auf einem FPÖ-Plakat, während der Kopf des Bundesparteichefs Herbert Kickl auf einem weiteren, zerrissenen, hinter einem rechteckigen Sticker verschwindet. Dieser trägt die Aufschrift: „Klimaschutz statt Klima der Angst".
Es seien vor allem die jüngeren Menschen, die hinter den Kritzeleien und Stickern stehen, sagt Siegl. Je weiter links, desto kreativer seien diese, meint er, im Vorfeld der heurigen Nationalratswahl allerdings sei er sogar auf einen Reim von rechter Seite gestoßen: „Sei schlau, wähl blau!", ist unter anderem auf Plakate der SPÖ und Neos gesprayt.
„Babler ist den Leuten offenbar relativ wurscht"
Diese dienen somit als sogenanntes Trägermaterial, weil sie für die Wahlempfehlung für eine andere Partei benutzt werden. Generell sei es um die Plakate der SPÖ allerdings recht ruhig geblieben, sagt Siegl. „Babler ist den Leuten offenbar relativ wurscht." „Blabla" steht auf einem Wahlplakat dem Bundesparteichef auf die Stirn geschrieben. Auf einem weiteren hängt ihm die Zunge heraus. Auch die Nachrichten auf den Plakaten der Grünen halten sich laut Siegl in Grenzen. Eindeutig ist allerdings die Botschaft „Rücktritt" oder „Adios" auf Bundesparteichef Werner Koglers Stirn.
Tendenziell eher unberührt bleiben auch die Plakate der Neos und der KPÖ. Eine offenbar massive Sorge der Wähler:innen wird auf einem Sticker deutlich, der auf Neos-Bundesparteichefin Beate Meinl-Reisinger klebt. „Du zitterst vor der Gasrechnung. OMV gönnt sich Rekordgewinne", steht darauf geschrieben: Der Erdöl- und Erdgaskonzern hat an den hohen Öl- und Gaspreisen durch die Ukraine-Krise verdient. Die Urheber:innen des Stickers treten gegen Teuerungen im Allgemeinen auf, wie ein Link darauf verrät.
Ein Stück Zeitgeschichte
„Sticker und Graffiti auf den Wahlplakaten sind ein Stück Zeitgeschichte, das sich aus vielen einzelnen Elementen formt und doch im Gesamten einen schönen Überblick über aktuelle Probleme, Krisen und Meinungen gibt", sagt Siegl. Einige erzählen sogar ihre eigene Geschichte: „Die einen kleben ihre Sticker auf, andere kommen vorbei und reißen sie herunter, und die nächsten sprühen ihre eigenen Schriftzüge drüber – so kommt es zu einer ganz anderen Art der Interaktion."
Sobald die Wahlplakate hängen, setzt sich Siegl ins Auto und klappert mit seinem Fotoapparat sämtliche Ortschaften ab. „Ich freue mich über jede neue Erkenntnis – fordere aber niemanden auf, das zu machen", sagt er. Seine Aufgabe sei es, das, was er auf den Wahlplakaten entdeckt, zu analysieren. Für ihn zähle nicht der Akt der Kritzelei selbst, sondern deren Aussage.
Bis zu sechs Monate Haft drohen
Denn rechtlich gesehen fällt das Bestickern, Besprühen und Bekritzeln von Wahlplakaten unter den Straftatbestand der Sachbeschädigung. „Die Zerstörung, Beschädigung, Verunstaltung oder das Unbrauchbarmachen einer fremden Sache ist laut Strafgesetzbuch mit bis zu sechs Monaten oder mit einer Geldstrafe von bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen", erklärt der Rechtsanwalt Klaus Kocher der Kanzlei Kocher & Bucher Rechtsanwälte OG in Graz.
„Es handelt sich dabei um die kleine Sachbeschädigung, die vor dem Bezirksgericht verhandelt wird", sagt Kocher zur WZ. Bei der schweren Sachbeschädigung, bei der eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren droht, müsste der Schaden bei mehr als 5.000 Euro liegen oder besonders geschützte Gegenstände wie jene zur Religionsausübung, Gräber oder öffentliche Denkmäler betreffen. „Das ist bei Wahlplakaten nicht der Fall", sagt Kocher.
Zu Verurteilungen komme es in Bezug auf die Wahlplakate so gut wie nie. „Die Betroffenen bleiben meistens unentdeckt", sagt Kocher, der sich an nur einen Fall vor vielen Jahren erinnert. „Damals hatte jemand einen Dreieckständer genommen, gefaltet und in den Müll geschmissen", erzählt er.
Rund 1.000 Plakate in Wien getauscht
Wie oft Wahlplakate für die Botschaften der Wähler:innen benutzt werden, kann selbst das österreichische Werbeunternehmen Gewista, das die Werbeflächen zur Verfügung stellt und betreut, nicht genau sagen. „Wir haben mehrere Subunternehmen, außerdem gehören die Dreieckständer den Parteien selbst – mit denen haben wir also nichts zu tun –, und etliche Plakate werden auch durch Regen oder Sturm zerstört", heißt es auf Nachfrage der WZ. Was man aber sagen könne, sei, dass Gewista im heurigen Superwahljahr (unter anderem Arbeiterkammer-, Europa- und Nationalratswahl) in Wien rund 1.000 Wahlplakate ausgetauscht habe.
Bevor man die bekritzelten und bestickerten Wahlplakate vernichtet, könnten die betroffenen Politiker:innen allerdings noch einen Blick darauf werfen, meint Siegl. „Um die Wünsche und Anliegen der Menschen zu sammeln und eventuell in die Diskussionen zu den Wahlprogrammen einfließen zu lassen."
Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.
Infos und Quellen
Gesprächspartner:innen
Klaus Kocher ist selbstständiger Rechtsanwalt der Kanzlei Kocher & Bucher Rechtsanwälte OG in Graz mit einem Büro in Wien.
Karin Schönhofer ist Corporate Communications Managerin beim österreichischen Werbeunternehmen Gewista, das Werbeflächen zur Verfügung stellt und betreut.
Norbert Siegl ist Psychologe, Fotograf und Graffiti-Forscher. Seit 1990 fährt er regelmäßig durch Österreich und dokumentiert und analysiert systematisch Wahlplakate. Er baute die Informationswebsite des Instituts für Graffiti-Forschung auf und gründete 2008 das Wiener Graffitimuseum.
Daten und Fakten
Am 29. September 2024 findet die 28. österreichische Nationalratswahl statt. Bundesweit treten ÖVP, SPÖ, FPÖ, Grüne, Neos, Bier, Keine, KPÖ und LMP an, in einzelnen Bundesländern zusätzlich Gaza, MFG und die Gelben. Rund 6,35 Millionen Menschen sind wahlberechtigt (Bundesministerium für Inneres).
Quellen
Strafbare Handlungen gegen fremdes Vermögen, Sachbeschädigung (§ 125 Strafgesetzbuch, Rechtsinformationssystem des Bundes)
Schwere Sachbeschädigung (§ 126 Strafgesetzbuch, Jusline)
Das Thema in der WZ
Botschaften der österreichischen Seele
Das Thema in anderen Medien
wien.orf.at: Fast jedes zweite Wahlplakat beschmiert
vorarlberg.orf.at: Wahlplakate beschmiert: Mehrere Anzeigen
burgenland.orf.at: Plakate beschmieren kein Kavaliersdelikt