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Polens vergeigtes Märchen

6 Min
Am 18. Mai finden Präsidentschaftswahlen in Polen statt. Neben dem derzeitigen Favoriten, Warschaus Bürgermeister Rafał Trzaskowski von der Bürgerplattform, sind auch Karol Nawrocki (PiS) und Sławomir Mentzen von der rechtsextremen Konfederacja im Rennen.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Acht Jahre lang höhlten Rechtspopulist:innen Polens Rechtsstaat aus. Dann gewann vor eineinhalb Jahren der Oppositionsblock die Wahl. Der Rechtsstaat ist aber immer noch kaputt. Mit einem neuen Präsidenten im Mai soll sich das aber bald ändern.


    • Die neue pro-europäische Mitte-Links-Regierung scheitert bisher an Präsident Dudas Vetos und interner Uneinigkeit.
    • Zentrale Reformprojekte zu Justiz, Abtreibung und Asyl bleiben aus oder stoßen auf Widerstand.
    • Zivilgesellschaft und Expert:innen zweifeln an Ernsthaftigkeit und strategischer Tiefe des Regierungskurses.
    • Nun finden in Polen Präsidenschaftswahlen statt.
    • Präsidentschaftswahl in Polen: 18. Mai 2025; mögliche Stichwahl am 1. Juni 2025
    • Favorit: Rafał Trzaskowski (Bürgerplattform); Gegenkandidaten: Karol Nawrocki (PiS), Sławomir Mentzen (Konfederacja)
    • Parlamentswahl Oktober 2023: Oppositionsbündnis unter Tusk siegt gegen konservative PiS
    • EU hob nach dem Regierungswechsel das Artikel-7-Verfahren auf und gab eingefrorene Gelder frei
    Mehr dazu in den Infos & Quellen

Der Seufzer am anderen Ende der Leitung ist unüberhörbar. Wieder einer dieser Anrufe, bei dem man sich Hoffnung aus Polen wünscht. Wieder soll man die Mär über Premierminister Donald Tusk erzählen, wie es ihm gelang, im Oktober 2023 die regierenden Populisten der Recht-und Gerechtigkeitspartei (PiS) bei der Parlamentswahl aus dem Amt zu jagen. Ein geeinter Oppositionsblock, der acht Jahre illiberale Demokratie an der Wahlurne beendete – mit dem Versprechen, Polen zurück auf den Weg der Rechtsstaatlichkeit zu bringen.

Euphorisch war man damals. In Polen, in Europa, in der ganzen Welt. Polen hat das populistische Experiment überlebt. Und wenn es Polen überlebt hat, vielleicht überleben es auch andere? Nicht umsonst häufen sich dieser Tage die Anrufe aus den USA bei polnischen Expert:innen. Erst jüngst sollte die Rechtswissenschaftlerin Aleksandra Gliszczynska-Grabias in der New York Times skizzieren, wie das „Playbook“ einer Demokratie-Rettung aussieht. Sie soll den Amerikaner:innen Hoffnung mit Polen machen. Doch taugt Polens politische Realität wirklich dafür?

Bescheidene Regierungsbilanz

Knapp eineinhalb Jahre sind seit der Wahl 2023 vergangen. Wo steht Polen jetzt? Ist der kaputte Rechtsstaat repariert? Etwa der Verfassungsgerichtshof, der Oberste Gerichthof, der Richterwahlausschuss, allesamt in den PiS-Jahren politisierte Institutionen, denen jegliche Unabhängigkeit und damit Legitimität fehlt?

Nein.

Fehlanzeige.

Nichts ist repariert.

Um es drastischer zu formulieren: Sollte die alte PiS-Mannschaft wiedergewählt werden, würde sie alles so vorfinden, wie sie es hinterlassen hat. Fast alles. Nur kleine Erfolge konnte die aktuelle Regierung bislang verbuchen. Ihr ist es dank einer Gesetzeslücke etwa gelungen, den unter der PiS-Regierung zu einem Propagandasender mutierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu entpolitisieren. Außerdem konnte man der Bevölkerung signalisieren, dass man alle Hebel in Bewegung setzt, um korrupte Politiker:innen strafrechtlich zu verfolgen und vor Gericht zu bringen.

Doch die großen Würfe stehen aus. „Es gibt Hoffnung, aber ich glaube nicht, dass sie hier in Polen ist, zumindest nicht jetzt“, sagt der Jurist Krzysztof Izdebski von der Stephan-Báthory-Stiftung zur WZ. Er arbeitet seit Jahren an Vorschlägen, die die polnische Justiz wieder stärken sollen. Zuletzt hat er ein Gesetz der Regierung mitentworfen, das den polnischen Verfassungsgerichthof resilienter und robuster machen soll. Ein Gesetz, das wie so viele in der Schublade liegt.

Hoffnung auf neuen Präsidenten

Der Grund für die ausstehende Umsetzung: Polens Präsident Andrzej Duda, ein PiS-Verbündeter. Er machte sehr schnell nach der Parlamentswahl klar, dass er kein Interesse daran habe, die Reformen der Vorgängerregierung rückgängig zu machen. Er hielt sich daran. Denn erst mit seiner Unterschrift treten Gesetze in Kraft. Um sein Veto zu überstimmen, bräuchte die Regierung eine Dreifünftel-Mehrheit im Parlament. Die hat sie aber nicht.

Doch Dudas Amtszeit geht bald zu Ende. Am 18. Mai wählen die Pol:innen einen neuen Präsidenten. Als aussichtsreichster Kandidat gilt Warschaus Bürgermeister Rafał Trzaskowski, Kandidat von Tusks Bürgerplattform. Sollte er gewinnen, wie es die Umfragen prognostizieren, kommt Bewegung in das polnische Märchen. Dann werden endlich all die Reparatur-Gesetze unterzeichnet. Dann beginnt eine neue Ära, so das Versprechen von Regierungsvertreter:innen und ihren Unterstützer:innen.

Fehlende Weitsicht

In der Zivilgesellschaft ist man skeptisch. So richtig traut man Tusks Team nicht. So viel haben sie vergeigt in den vergangenen Monaten. An der Liberalisierung der Abtreibung ist man schon beim eigenen Koalitionspartner – ganz ohne Duda – gescheitert. In Asylfragen gebärdet man sich radikaler als die Vorgänger, wenn man etwa Polizisten an der Grenze zu Belarus erlaubt, auf Menschen zu schießen, die illegal nach Polen kommen wollen – ohne, dass die Polizisten dafür rechtliche Konsequenzen zu befürchten haben. Quasi eine „Lizenz zum Töten“. Und bei der Rechtstaatlichkeit haben viele ihre Bedenken. Meinen es Tusk und seine Leute wirklich ernst damit oder ist „Rule of law“ nur so eine hohle Phrase, um sich von der politischen Konkurrenz im In- wie Ausland als liberal demokratisches Gegenprogramm zu profilieren?

Małgorzata Szuleka zählt zu den Skeptikerinnen. Die Anwältin ist Vorstandssekretärin der Helsinki Foundation for Human Rights. In den PiS-Jahren wurde die NGO permanent für ihre Kritik an der Regierung attackiert. Nun wird sie von den Populisten regelrecht hofiert, sobald ihre Expert:innen die aktuelle Regierung kritisieren. Ihr fehle die Weitsicht, meint Szuleka: „Ihr Ziel ist es die Macht zu erhalten und nicht die Situation zu verbessern, ich sehe in der Regierung nicht die Reife, über das große Ganze nachzudenken, sie denken nur ein oder zwei Jahre im Voraus. Die Tagespolitik bestimmt ihr Handeln.“

Wen schert der Verfassungsgerichtshof?

Der historische Moment der Rückabwicklung einer illiberalen Demokratie werde in seiner Dimension nicht begriffen, behaupten auch andere Rechtswissenschaftler:innen im Gespräch. Statt die Weichen gegen eine populistische Machtübernahme bei der nächsten Wahl 2027 zu stellen, treibe die Regierung die Polarisierung in der Gesellschaft voran, um für Wahlen genug Anhänger:innen für den eigenen Block zu mobilisieren, statt zu versuchen, in die Depolarisierung der Gesellschaft zu investieren. Denn mehr als ein Drittel der polnischen Bevölkerung sind Anhänger:innen der PiS und sie betrachten manche Regierungsvorhaben als Staatstreich. Etwa, wenn die Regierung sich weigert, Urteile des Verfassungsgerichtshofs zu ignorieren, mit der – für viele berechtigten – Begründung, dass er nicht unabhängig sei.

Experten wie Krzysztof Izdebski und Małgorzata Szuleka befürchten, dass auch nach der Präsidentschaftswahl die Regierung sich nicht sonderlich um die Aktivierung des Verfassungsgerichtshofs scheren wird. Denn ohne Verfassungsgerichtshof regiert es sich leichter, wenn der keine Kontrolle über verfassungsunrechtsmäßige Gesetze wie das neue Asylgesetz hat. Ende März hat die Regierung beschlossen, Asyl an der Grenze zu Belarus vorläufig auszusetzen: ein Verstoß gegen die polnische Verfassung und gegen EU-Recht.

Wer soll was dagegen sagen? Oder gar tun?

Goodwill aus Brüssel

Aus Brüssel kommt kaum Kritik. Dort ist Polen seit Tusks Wahl wieder Liebkind. Das polnische Märchen soll nicht angepatzt werden. Unmittelbar nach Regierungsantritt im Jänner 2024 hat Justizminister Adam Bodnar, ein respektierter Menschenrechtsanwalt, der EU im Februar seinen Aktionsplan vorgestellt, wie Polen rechtstaatlich wieder auf Vordermann gebracht wird. Die EU reagierte mit Wohlwollen und gab daraufhin eingefrorene EU-Gelder frei. Ein paar Monate später beendete Brüssel das Artikel-7-Verfahren gegen Polen, da keine „eindeutige Gefahr mehr besteht für eine schwerwiegende Verletzung der Rechtstaatlichkeit“. Ein Vertrauensvorschuss, wissend, dass Reformen nicht über Nacht umgesetzt werden können.

Brüssel demonstriert Goodwill für die neue Mannschaft aus Warschau. Zu viel Goodwill, meinen Watchdogs der polnischen Rechtstaatlichkeit. „Tusk ist der Ritter in glänzender Rüstung, der gegen die Populisten gekämpft hat“, sagt Malgorzata Szuleka, „und wie Sie selbst sagen: Polen ist der Hoffnungsträger.“

Und Hoffnungsträger werden nicht an die Kandare genommen. Egal, wie daneben sie manchmal liegen. Nicht in diesen Zeiten.


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Infos und Quellen

Genese

Autorin Solmaz Khorsand war euphorisch, als Polens Opposition im Oktober 2023 die Wahl gewonnen hat und sie hat gehofft, dass das Land nun als Vorbild für andere Länder im Kampf gegen Antidemokrat:innen dienen könne. Nach Recherchen musste sie ernüchtert feststellen: Dem ist nicht so.

Gesprächspartner:innen:

  • Krzysztof Izdebski
  • Małgorzata Szuleka
  • Polnische Menschenrechtsanwälte
  • Abtreibungsaktivist:innen
  • Vertreter:innen der queeren Community

Daten und Fakten

  • Bei der Parlamentswahl im Oktober 2023 hat das von Donald Tusk angeführte Bündnis aus drei Oppositionsparteien – die liberalkonservative Bürgerkoalition, die christlich-konservative Dritter Weg und das Linksbündnis Lewica – gegen die seit 2015 amtierende „Recht- und Gerechtigkeitspartei (PiS) gewonnen, das, obwohl es die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte, keine Koalitionspartner finden konnte.
  • Von 2015 bis 2023 regierte die rechtspopulistische Recht- und Gerechtigkeitspartei Polen und politisierte zahlreiche Institutionen, insbesondere die Justiz. Die EU reagierte auf Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit, indem sie Zahlungen in Milliardenhöhe aussetzte sowie das Artikel-7-Verfahren aktivierte, die „nukleare Option“, das in letzter Konsequenz sogar den Verlust von Polens Stimmrechten bedeuten hätte können.
  • Am 18. Mai finden Präsidentschaftswahlen in Polen statt. Neben dem derzeitigen Favoriten, Warschaus Bürgermeister Rafał Trzaskowski von der Bürgerplattform, sind auch Karol Nawrocki (PiS) und Sławomir Mentzen von der rechtsextremen Konfederacja im Rennen. Sollte keiner die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang erreichen, findet am 1. Juni die Stichwahl statt.

Quellen

Das Thema in der WZ