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Amoklauf in Graz: Presserat fordert Opferschutz

3 Min
Am Dienstag erschoss ein 21-Jähriger zehn Menschen an einer Schule in Graz.
© Illustration: WZ, Bildquelle: pixabay.com

Videos aus dem Klassenzimmer, Reporter:innen vor der Täterwohnung, Zitate aus rechten Kanälen: Die Berichterstattung zum Grazer Amoklauf wirft medienethische Fragen auf. Die WZ hat mit Presserat-Geschäftsführer Alexander Warzilek gesprochen.


Wie berichtet man über ein unbegreifliches Verbrechen, ohne Grenzen zu überschreiten? Nach dem Amoklauf am BORG Dreierschützengasse in Graz steht die heimische Berichterstattung zum Teil massiv in der Kritik. Alexander Warzilek, Geschäftsführer des Österreichischen Presserats, erklärt, worauf Medien jetzt besonders achten sollten – und wo mögliche Grenzüberschreitungen liegen.

WZ | Chiara Swaton
Herr Warzilek, wie viele Beschwerden haben den Presserat seit gestern erreicht?
Alexander Warzilek
Wir haben seit gestern 61 Beschwerden bekommen, wobei sicher noch etwas dazukommen wird. Man sieht, dass der Fall die Leute bewegt und sie dahinter sind. Der Negativrekord an Beschwerden war bisher die Berichterstattung zum Terroranschlag in Wien mit 1.500 Beschwerden.
WZ | Chiara Swaton
Was haben heimische Medien in der Berichterstattung gestern falsch gemacht?
Alexander Warzilek
Ich möchte das nicht vorab beurteilen, da die Entscheidung Anfang Juli vom Senat 2 getroffen wird. Es gab Beschwerden zu einem Video, in dem Schüler:innen eskortiert werden. Die Gesichter sind zwar nicht erkennbar, aber es handelt sich um eine Schocksituation – und Jugendliche sind nach dem Ehrenkodex besonders schutzwürdig. Hier ist also abzuwägen, ob die Veröffentlichung noch vom öffentlichen Interesse gedeckt ist. Auch ein weiteres Video, in dem Schüsse zu hören sind, das offenbar in einem nicht direkt betroffenen Klassenzimmer aufgenommen wurde, wurde gemeldet. Zudem wurde ein profil-Artikel über den mutmaßlichen Täter mehrfach gemeldet: Zwei Reporter:innen besuchten dessen Wohnort in der Umgebung von Graz, sprachen mit Nachbar:innen und klingelten bei der Mutter und dem Bruder. Es hat niemand geöffnet, aber auch hier stellt sich die Frage nach der Zumutbarkeit gegenüber einer Familie unter Schock. Ein weiterer gemeldeter Punkt betrifft Zitate aus Postings von Auf1, einem vom Verfassungsschutz als problematisch eingestuften Propagandamedium. Auch dies wirft medienethische Fragen auf.
WZ | Chiara Swaton
profil ist auch Mitglied des Presserats. Halten Sie es für medienethisch vertretbar, dass Reporter:innen kurz nach der Tat vor der Wohnung des mutmaßlichen Täters erschienen sind?
Alexander Warzilek
Das wird unser Senat Anfang Juli entscheiden. Einen Fall in dieser Konstellation hatten wir bislang noch nicht. Wichtig ist, die psychische Ausnahmesituation der Täterfamilie zu berücksichtigen. Im Ehrenkodex heißt es unter Punkt 8, dass keine psychische Drucksituation aufgebaut oder ausgenutzt werden darf. Ob das Verhalten der Reporter:innen noch vertretbar war – die Tür wurde ihnen ja nicht geöffnet – oder ob sie bereits eine Grenze überschritten haben, indem sie sich dort hinbegeben und versucht haben, die Familie zu kontaktieren, werden wir sorgfältig prüfen.
WZ | Chiara Swaton
Wie kann ein Medium in so einer Situation verantwortungsvoll berichten?
Alexander Warzilek
Es sollte besondere Zurückhaltung gewahrt und der Opferschutz ins Zentrum gerückt werden. Zugleich sollte man vermeiden, den Täter in irgendeiner Form zu heroisieren. Natürlich gibt es ein berechtigtes öffentliches Interesse, zu verstehen, warum so etwas passiert ist. Aber man muss sich auch der Risiken bewusst sein: In den USA ist es nach detaillierten Berichten über Schulmassaker wie in Columbine zu Nachahmungstaten gekommen. Das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit ist groß, keine Frage. Dem kann man aber auch gerecht werden, ohne voyeuristische Inhalte zu bedienen oder bloß Neugier zu befriedigen.
WZ | Chiara Swaton
Sollte der Ehrenkodex des Presserats noch strenger gefasst werden – etwa durch eine explizite Erwähnung von Amokläufen oder klare Vorgaben zu Personen in psychischen Ausnahmesituationen?
Alexander Warzilek
Das ist ein Stück weit Geschmackssache. Entweder man verfolgt einen eher kompakten Ehrenkodex mit allgemeinen Grundprinzipien – der ist für die Branche leichter zugänglich und schneller erfassbar. Oder man wählt einen sehr ausführlichen Pressekodex wie in Deutschland, der laufend ergänzt und sehr detailliert ist, dafür aber auch unübersichtlicher wird. Eine Patentlösung gibt es da nicht. Wir setzen eher auf Kürze und Klarheit – wichtig ist, dass die Medienhäuser diese Prinzipien auch mit Leben füllen. Sinnvoll wäre aber, eine Kommentierung des Kodex zu erarbeiten. Das ist auch ein Projekt, das bei uns in der Pipeline ist.
WZ | Chiara Swaton
Gibt es auch Positivbeispiele in der Berichterstattung zum Amoklauf?
Alexander Warzilek
Positiv hervorzuheben ist, dass sich Medien wie Presse, Standard oder ORF damit beschäftigt haben, wie man Kindern solche Ereignisse erklärt. Das ist ein sinnvoller Zugang. Auch einige Liveticker waren sachlich, informativ und insgesamt zurückhaltend. Da ist gestern durchaus einiges gut gelungen.

Falls du Sorgen oder Ängste hast, hier ein paar Kontakte:


Die Bildungsdirektion Steiermark hat eine Hotline für schulpsychologische Betreuung eingerichtet: 0664/ 80 345 55 665

Telefonseelsorge: 142 (Notruf), täglich 0–24 Uhr

Sozialpsychiatrischer Notdienst: 01/ 31330, täglich 0–24 Uhr

Rat auf Draht: 147. Beratung für Kinder und Jugendliche. Anonym, täglich 0–24 Uhr

PsyNot Steiermark 0800 449933


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Infos und Quellen

Gesprächspartner:innen

Daten und Fakten

Am Dienstag, dem 11. Juni 2025, gab es in Graz einen Amoklauf am BORG in der Dreierschützengasse mit 11 Toten und 11 Verletzten. Seitdem gibt es eine Debatte über die Berichterstattung in heimischen und internationalen Medien.

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