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Quo vadis, Israel?

9 Min
Der Karren im Nahostkonflikt ist verfahrener denn je.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Nach der Hamas kommt die Hisbollah: Israelische Newsletter und Blogger:innen bereiten die Bevölkerung auf einen bewaffneten Konflikt vor.


Yoni Gilboa, Direktor des Nachrichtenportals Zaka Tel-Aviv, warnt in einer Mail seine israelischen Landsleute: „Der libanesischen Zeitung Elnashra zufolge hat die Hisbollah vor, zuerst Haifa ins Visier zu nehmen, wenn Israel seine militärischen Operationen ausweitet; darauf sollen andere Städte folgen, einschließlich Tel Aviv.“

Über die Konsequenz daraus lässt das Nachrichtenportal Israel heute keine Zweifel aufkommen und titelt: „Krieg mit der Hisbollah unvermeidlich, aber vielleicht nicht gleich“. Das hat Gilboa in einem früheren Newsletter ebenfalls so gesehen.

Der nächste Krieg wird vorbereitet

Israel heute und Gilboa sind nicht die Einzigen. Blogger:innen und private Nachrichtenportale bereiten die Bevölkerung Israels auf die große Wahrscheinlichkeit eines nächsten Krieges vor. Deutschland und die Niederlande haben soeben ihre im Libanon befindlichen Staatsbürger:innen zum Verlassen des Landes aufgefordert.

Während also die israelische Armee in Rafah ihren Endkampf gegen die Hamas führt, überlegt Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu offenbar schon den nächsten Waffengang: einen Schlag gegen die Hisbollah im Süden des Libanon.

Israel unter Dauerbeschuss

Vorwände genug hätte Netanjahu: Im Moment attackiert die Hisbollah unablässig den Norden Israels und vor allem die israelische Hafenstadt Haifa mit Raketenbeschuss. Der in Haifa beheimatete Autor und Blogger Naftali Hirschl berichtet von Raketenalarm mehrmals am Tag und in der Nacht, von wiederholter Flucht in die Luftschutzbunker und permanent wachsender Anspannung. Von 8. Oktober 2023 bis 19. Juni 2024 sind, so Hirschl, mehr als 5.000 Raketen und Mörserbomben von der Hisbollah auf Israel geschossen worden. In Nordisrael macht sich ein Gefühl breit, als wäre die Abschreckung durch Israels Militär wirkungslos geworden.

Was es dabei zu bedenken gilt, ist, dass Israel unter einem nie komplett aufgearbeiteten Hisbollah-Trauma leidet. Im Jahr 2000 gelang es der schiitischen Terrormiliz, die als unbesiegbar geltende israelische Armee zum Rückzug aus dem Süden des Libanon zu nötigen. Unvergessen ist in Israel auch der exorbitant hohe Blutzoll im Libanonkrieg im Jahr 2006, als Hisbollah-Kämpfer nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterschieden und mit Absicht die zivilen Opferzahlen auf der eigenen Seite in die Höhe trieben, indem sie Zivilist:innen in ihr Konzept des Märtyrertums integrierten und als menschliche Schutzschilde missbrauchten. Dennoch konnte sich die Hisbollah gerade in diesem Jahr als Widerstandsgruppe gegen Israel über die eigenen schiitischen Kreise hinaus etablierten.

Bis an die Zähne bewaffnet

Im Vergleich zur Terrororganisation Hamas ist die Hisbollah eine Miliz, die der Iran heute mehr denn je bis an die Zähne mit allem bewaffnet hat, worüber er selbst verfügt und was er einkaufen konnte.

Die Hisbollah verfügt über ein Arsenal von Waffen iranischer, russischer und chinesischer Herkunft, darunter iranische Fadschr-Raketen, russische Katjuschas und chinesische Streubombenwerfer. Gegen die Raketen sollte sich Israel mit seinem Iron Dome schützen können. Doch der 7. Oktober 2023 hat gezeigt, dass sogar dieses Abwehrsystem besiegbar ist, sobald die Menge gleichzeitig in den israelischen Luftraum eindringender Flugkörper die Steuerelemente überfordert.

Die Hisbollah unschädlich machen

Nun würde Netanjahu nur zu gern nach der Hamas gleich die Hisbollah so beschädigen, dass ihr ein Angriff auf Israel rein materiell und logistisch unmöglich gemacht ist. Und noch weiß der israelische Ministerpräsident einen großen, wenn nicht sogar den größten Teil der Israelis auf seiner Seite. Der Terrorüberfall am 7. Oktober 2023 hat die existenzielle Bedrohung dermaßen nah an jede:n einzelne:n Bürger:in Israels herangetragen wie nichts seit der Shoah. Was für Beobachter:innen außerhalb Israels längst in einen Angriffskrieg Israels gegen ausnahmslos alle Palästinenser:innen des Gazastreifens umgeschlagen ist, wird innerhalb Israels von einem großen Teil der Menschen unverändert als Verteidigung verstanden: Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg nicht nur vor, sondern führe ihn auch.

Diese Einstellung kann freilich schnell zugunsten der friedensbewegten Kreise in Israel selbst wie in der UNO kippen, die, wie auch der US-amerikanische Präsident Joe Biden, auf eine Verhandlungslösung drängen mit dem Ziel der Zwei-Staaten-Lösung. Diese allerdings lehnt Netanjahu vehement ab und bekommt dafür die Unterstützung eines Großteils der Israelis: Der Terror vom 7. Oktober darf nicht zu einer Belohnung führen, weil andernfalls Terror als Mittel der Politik hoffähig wird – zumindest, wenn er sich gegen Israel richtet.

Warten auf die US-Wahlen?

Dass Netanjahu mit dem Angriff auf die Hisbollah im Moment zögert, könnte mit den Wahlen in den USA im November begründet sein. Denn nicht nur Joe Biden hätte gern einen anderen Machthaber an der Spitze Israels; Netanjahu hätte ebenso gern einen anderen Machthaber an der Spitze der USA. Und zwar einen, der, anders als Biden, keine eigene Meinung hat, wie der Nahostkonflikt zu lösen wäre, sondern einen, dem Netanjahu erklären kann, wie man den Nahostkonflikt löst, nämlich mit der einzig und allein von Israel ausgeübten Staatsgewalt über alle Gebiete der Palästinenser:innen.

Die US-Wahlen im November bieten Netanjahu eine 50:50-Chance, seinem Ziel nahezukommen. Für ihn wäre es wesentlich leichter, den außenpolitisch irrlichternden Trump auf seine Seite zu ziehen als den auf ein eigenes Konzept festgelegten Biden, der seinerseits noch vor den US-Wahlen im November das aktuelle Nahostproblem wenigstens halbwegs befriedet hätte, um nicht noch die letzten Wochen bis zur Wahl von Netanjahu vorgeführt zu werden.

Mahmud Abbas ist wieder da

Netanjahu erwächst indessen gerade ein weiterer Destabilisierungsfaktor: Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) mit Sitz in Ramallah scharrt in den Startlöchern. Mahmud Abbas, kraft- und einflussloser Präsident der Palästinenser:innen, würde gern seinen Bedeutungsverlust kompensieren, indem er die Kontrolle über den Gazastreifen der Fatah anvertraut, die ihm nähersteht als die Hamas. Doch um das durchzusetzen, muss die bei den Palästinenser:innen mittlerweile beliebtere Hamas zumindest so weit geschwächt werden, dass sie sich mit den Peanuts begnügt, die ihr die PA als Gesichtswahrung zugesteht. Dieser Lösung könnte Biden durchaus zustimmen. Netanjahus Lust, für seinen alten Gegner Abbas mit der israelischen Armee die Drecksarbeit im Spiel der Kräfte zu erledigen, dürfte indessen eng begrenzt sein, zumal Netanjahu zweifellos nicht vergessen hat, dass die Hisbollah Abbas‘ Fatah in der zweiten Intifada (2000-2005) massiv unterstützte.

Das wiederum könnte für Netanjahu das Argument sein, das Hisbollah-Problem lösen zu wollen, ehe Israel überhaupt zu weiterreichenden Verhandlungen über die Lösung des Nahostkonflikts bereit ist.

Der Iran zündelt im Hintergrund

Es könnte also gut sein, dass mit dem Ende des Kriegs gegen die Hamas ein Krieg gegen die Hisbollah beginnt. Denn dass der Terror gegen Israel nicht enden wird, dafür sorgt Israels wahrer großer Feind, der Iran, in dessen gottesstaatlicher Ideologie festgeschrieben steht, dass Israel kein Existenzrecht hat. Hamas und Hisbollah tragen diese Ideologie mit, während Netanjahus Sendungsbewusstsein darauf abzielt, Israel als den Löwen des Nahen Ostens zu etablieren, den zu reizen nur zu Tod und Vernichtung führen kann.

So ist der Karren im Nahostkonflikt verfahrener denn je.

Vom jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza stammt die Erkenntnis, dass Friede mehr ist als die Abwesenheit von Krieg. Aus heutiger Sicht wäre für den Nahen Osten die Abwesenheit von Krieg schon ein Fortschritt.


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Infos und Quellen

Genese

Mit einem Krieg gegen die Hisbollah könnte eine weitere Eskalation im Nahostkonflikt eintreten. WZ-Redakteur Edwin Baumgartner versucht, das Geflecht der freund- und feindschaftlichen Beziehungen zu entwirren und analysiert die Konfliktparteien und ihre Begehrlichkeiten.

Gesprächspartner

Naftali Hirschl ist ein in Österreich geborener Autor und Betreiber des zionistischen Blogs Von Naftali. Er unterstützt eine harte Vorgehensweise Israels gegen Angreifer:innen und Terrorist:innen.

Daten und Fakten

  • Die Fadschr (persisch: „Morgendämmerung“) sind aus der sowjetischen Katjuscha weiterentwickelte iranische Artillerieraketen, die von mobilen Plattformen abgeschossen werden und, je nach Entwicklungsstand, einen Sprengkopf von etwa 45 Kilogramm über eine Distanz von etwa 45 bis 75 Kilometer Reichweite tragen.

  • Die Katjuscha ist ein im Zweiten Weltkrieg erstmals eingesetzter und seither weiterentwickelter sowjetischer bzw. russischer Mehrfachraketenwerfer, der im deutschsprachigen Volksmund den Namen „Stalinorgel“ hatte. Die Katjuscha-Raketen sind einfach in der Bauweise und effektiv in der Wirkung. Die Raketenwerfer der 16-rohrigen Bauart schaffen den Abschuss aller Raketen innerhalb von zehn Sekunden.

  • Als Intifada werden die Aufstände der Palästinenser:innen gegen Israel bezeichnet. Die zweite Intifada begann am 28. September 2000 nach dem Scheitern der Verhandlungen über die Lösung des Nahostkonflikts in Camp David. Während die erste Intifada (1987-1993) vor allem auf zivilen Ungehorsam setzte, ging die zweite Intifada mit Terror gegen Israel vor. Sie endete im Jänner 2005 mit Verhandlungen, in deren Verlauf Israels Rückzug aus Ramallah, Tulkarem, Kalkilya und Jericho sowie das Aussetzen der Politik der gezielten Tötung von militanten Führern von Palästinenserorganisationen vereinbart wurde.

  • Der Iran ist der Hauptfeind Israels und gilt als Fädenzieher der antiisraelischen Terrororganisationen. Bis zur Revolution des Jahres 1979 war der Iran westlich ausgerichtet und mit Israel befreundet. Die Umwandlung in einen islamischen Gottesstaat schiitischer Ausrichtung brachte eine Abkehr von westlichen Idealen mit sich und implementierte einen fundamentalistischen Antiamerikanismus und Antisemitismus. Nach iranischer Auffassung hat der Staat Israel als jüdischer Staat kein Existenzrecht auf einem Gebiet, das Staaten mit islamischer Staatsreligion vorbehalten sein muss.

  • Baruch de Spinoza (1632-1677) war ein niederländischer Philosoph sephardischer Abstammung. Seine Eltern waren aus Portugal eingewandert. Spinoza gilt als einer der wichtigsten Begründer der modernen Bibel- und Religionskritik und als solcher als einer der wesentlichsten Philosophen des 17. Jahrhunderts.

Quellen

Das Thema in der WZ

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